Leitsatz (amtlich)

1. Berufsmäßig übt jemand eine Beschäftigung oder Tätigkeit aus, wenn er hierdurch seinen Lebensunterhalt überwiegend oder doch in solchem Umfang erwirbt, daß seine wirtschaftliche Stellung zu einem erheblichen Teil auf der Beschäftigung oder Tätigkeit beruht.

2. Eine vertraglich im voraus auf weniger als 3 Monate befristete Aushilfstätigkeit von 12 Wochenstunden ist auch dann eine versicherungsfreie Nebenbeschäftigung iS des RVO § 1228 Abs 2 Buchst a, wenn sie sich unmittelbar an eine berufsmäßige Vollbeschäftigung bei demselben Arbeitgeber anschließt.

 

Normenkette

RVO § 1248 Abs. 3 Fassung: 1965-06-09, § 1290 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1967-12-21, § 1228 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. Juli 1971 werden zurückgewiesen.

Die Beklagte und die Beigeladene haben der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens als Gesamtschuldner zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte das der Klägerin gewährte vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anstatt vom 1. Dezember 1969 an bereits vom 1. September 1969 an zu gewähren hat.

Die am 30. August 1909 geborene Klägerin war seit 1949 bei der Maschinenfabrik Max K Abteilung Gummiwalzfabrik, in Hamburg-Altona als Kritzenzeichnerin beschäftigt. Mit der Angabe, sie werde diese Tätigkeit am 31. August 1969 beenden, beantragte sie im Mai 1969, ihr das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO zu gewähren. Die Klägerin gab ihre Tätigkeit mit dem 6. November 1969 auf; ihr Gesamtverdienst betrug für eine vereinbarte Arbeitsleistung von 12 Stunden wöchentlich in der Zeit vom 1. September bis zum 6. November 1969 603,- DM brutto. Durch Bescheid vom 28. November 1969 gewährte die Beklagte der Klägerin das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO vom 1. Dezember 1969 an.

Die Klägerin machte geltend, ihr stehe das vorzeitige Altersruhegeld bereits vom 1. September 1969 an zu.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1970); es hat die Beschäftigung vom 1. September bis zum 6. November 1969 als versicherungspflichtig angesehen.

Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte den Bescheid vom 27. April 1971 erlassen, in dem sie auch die in der Zeit vom 1. September bis zum 6. November 1969 abgeführten Beiträge berücksichtigte; ihren Bescheid vom 28. November 1969 hat sie aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG aufgehoben und den Bescheid der Beklagten vom 27. April 1971 geändert. Es hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO bereits ab 1. September 1969 zu gewähren und die Revision zugelassen (Urteil vom 15. Juli 1971).

Gegen dieses Urteil haben die Beklagte und die Beigeladene Revision eingelegt.

Sie rügen eine Verletzung der §§ 1228 Abs. 2 und 1248 Abs. 3 RVO.

Sie beantragen,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. Juli 1971 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. Oktober 1970 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zurückzuweisen.

II

Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des LSG vom 15. Juli 1971 sind unbegründet. Sie sind zurückzuweisen.

Der Klägerin ist das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO vom 1. September 1969 an und nicht erst vom 1. Dezember 1969 an zu gewähren, weil die Beschäftigung der Klägerin am 31. August 1969 geendet hat und die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind (§ 1290 Abs. 1 Satz 2 RVO).

Das LSG hat - von den Revisionsklägern unangefochten und daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - festgestellt, die seit dem Jahre 1949 bei der Firma Max K als Kritzenzeichnerin beschäftigte Klägerin habe ihr versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis am 31. August 1969 beendet (Seite 4 unten des angefochtenen Urteils) und bei derselben Arbeitgeberin ab 1. September 1969 aufgrund eines bis zum 6. November 1969 befristeten Arbeitsvertrages nur noch 12 Stunden wöchentlich gearbeitet (Seite 2 aaO). Aufgrund dieses Sachverhalts hat das Berufungsgericht die Klägerin mit Recht in der Zeit vom 1. September 1969 an für versicherungsfrei nach § 1228 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 Buchst. a RVO erklärt.

Das in § 1228 Abs. 1 Nr. 5 RVO enthaltene Tatbestandsmerkmal "berufsmäßig" ("wer berufsmäßig eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung oder Tätigkeit nicht ausübt") ist in der Rangfolge aller Voraussetzungen des § 1228 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 Buchst. a RVO als erstes zu prüfen (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, Seite 622 e, f; Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, AVG, § 4 II; Verbands-Kommentar, § 1228 Anm. 8, 9). An diese Prüfungsreihenfolge hat sich das LSG gehalten. Berufsmäßig übt jemand eine Beschäftigung oder Tätigkeit aus, wenn er hierdurch seinen Lebensunterhalt überwiegend oder doch in solchem Umfang erwirbt, daß seine wirtschaftliche Stellung zu einem erheblichen Teil auf der Beschäftigung oder Tätigkeit beruht (vgl. Brackmann, aaO; Hanow/Lehmann/Bogs, Rentenversicherung der Arbeiter, § 1228, Anm. 17; Verbands-Kommentar, § 1228 Anm. 9; Albrecht, Wer übt berufsmäßig eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung oder Tätigkeit nicht aus?, SozVers 1972, 151, 152 f; Gemeinsame Richtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen, des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger und der Bundesanstalt für Arbeit für die versicherungsrechtliche Beurteilung von Nebenbeschäftigungen und Nebentätigkeiten vom 23.11.1966 idF vom 4.11.1971 zu 2.2.1., Die Praxis, 1972, 152, 155).

Das Berufungsgericht hat zutreffend sein Augenmerk auf die einzelnen Umstände des Falles gerichtet, um das Merkmal "berufsmäßig" prüfen zu können. An Einzelheiten hat es festgestellt: Den vor dem 1. September 1969 gestellten Rentenantrag, die auf rund ein Viertel der früheren Vollbeschäftigung herabgesetzte Arbeitszeit, die tatsächliche Umstellung der Lebensverhältnisse der Klägerin bei einem rund drei Viertel geschmälerten Verdienst, von dem sie im wesentlichen gelebt hat. Wenn das LSG aus alledem gefolgert hat, die Klägerin sei vom 1. September 1969 an nicht mehr berufsmäßig einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen, so ist das rechtlich bedenkenfrei. Um eine Beschäftigung danach beurteilen zu können, ob sie berufsmäßig ausgeübt wird, kann auf das Maß der zeitlichen Inanspruchnahme als ein wesentliches Beweisanzeichen abgestellt (BSG 14, 29, 31) und dabei Berufsmäßigkeit einer laufend ausgeübten Beschäftigung angenommen werden, wenn sie den Beschäftigten mehr als etwa 20 Stunden wöchentlich beansprucht (BSG 14, 38, 39; SozR Nr. 6 und 9 zu § 1228 RVO). Das Ausmaß der Beschäftigung von 12 Wochenstunden in der Zeit vom 1. September bis 6. November 1969 spricht dagegen, daß die Klägerin in dieser Zeit berufsmäßig beschäftigt war.

Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, daß die Klägerin in der fraglichen Zeit von demselben Arbeitgeber beschäftigt worden ist und diese zeitlich eingeschränkte Beschäftigung sich nahtlos, also ohne zeitliche Unterbrechung, an die frühere, bis zum 31. August 1969 dauernde Vollbeschäftigung angeschlossen hat. Es steht jedermann frei, seine Arbeitskraft nach seiner freien Entscheidung einzusetzen; dabei muß es dem Beschäftigten grundsätzlich auch überlassen werden, den Arbeitgeber zu wählen sowie Art und Dauer der Arbeit im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber zu regeln. Das Rentenversicherungsrecht enthält sich der Einflußnahme auf solche Regelungsmöglichkeiten, die dem Arbeitsrecht zuzuordnen sind, nimmt sie vielmehr nach ihrer tatsächlichen Seite hin und ordnet sie in seine Vorschriften ein. Was die Frage der Berufsmäßigkeit einer Beschäftigung anlangt, bestimmt § 1228 Abs. 1 Nr. 5 RVO folgerichtig nichts darüber, bei welchem Arbeitgeber die Beschäftigung auszuüben ist und ob bei einem Übergang von einer bisherigen Voll- zu einer verminderten Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber zwischen beiden eine beschäftigungslose Zeit liegen muß.

Im Falle der Klägerin lassen sich deutlich zwei Zeiten voneinander unterscheiden: Die Zeit der Vollbeschäftigung bis zum 31. August 1969 und die der eingeschränkten Beschäftigung vom 1. September bis zum 6. November 1969. In der ersten Zeit war die Klägerin berufsmäßig, in der zweiten Zeit nicht berufsmäßig beschäftigt. Auf die Zeit der Vollbeschäftigung darf auch insofern nicht zurückgegriffen werden, als durch Einbeziehung der Vollbeschäftigung im Wege einer auf längere Zeit abgestellten Durchschnittsberechnung die Leistung von 12 auf über 20 Wochenstunden erhöht werden könnte. Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG) eine derartige, auf einen längeren Zeitraum von etwa einem Jahr bezogene Durchschnittsberechnung bei einer wiederholt ausgeübten Aushilfsbeschäftigung zugelassen, um feststellen zu können, ob die Beschäftigung weniger oder mehr als 20 Stunden wöchentlich dauert, um so eine Grundlage für die Beurteilung des von ihm entwickelten Beweisanzeichens der 20-Stunden-Grenze je Arbeitswoche zu gewinnen (BSG 32, 268, 269). Diese Durchschnittsberechnung läßt sich indes nicht auf einen Fall übertragen, in dem vom Endzeitpunkt der Beschäftigung (6. November 1969) rückgerechnet um ein Jahr (vgl. BSG 32, 268, 270) neben einer Zeit einer zeitlich eingeschränkten Beschäftigung eine berufsmäßige Vollbeschäftigungszeit liegt. Eine solche Betrachtung ist mit dem Sinn und Zweck des § 1228 Abs. 1 Nr. 5 RVO nicht in Einklang zu bringen.

Die Beschäftigung der Klägerin vom 1. September bis 6. November 1969 war eine Nebenbeschäftigung nach § 1228 Abs. 2 Buchst. a) RVO. Auch dies hat das LSG zutreffend erkannt. Nebenbeschäftigung im Sinne des Absatzes 1 Nr. 5 des § 1228 RVO liegt vor, wenn die Beschäftigung nur gelegentlich ausgeübt wird, insbesondere zur Aushilfe, für eine Zeitdauer, die im Laufe eines Jahres seit ihrem Beginn auf nicht mehr als drei Monate oder insgesamt 75 Arbeitstage nach der Natur der Sache beschränkt zu sein pflegt oder im voraus durch Vertrag beschränkt ist (§ 1228 Abs. 2 Buchst. a) RVO). Hierzu hat das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend festgestellt, die Aushilfsbeschäftigung habe am 1. September 1969 begonnen; von diesem Zeitpunkt an zähle die am 31. August 1970 endende Jahresfrist des § 1228 Abs. 2 Buchst. a) RVO. In diesen Zeitraum fiel lediglich die Beschäftigung vom 1. September bis zum 6. November 1969, da die Klägerin über den 6. November 1969 hinaus nicht mehr beschäftigt gewesen ist. Da die Klägerin, wie das LSG festgestellt hat, bei der Firma Max K. vom 1. September 1969 an aufgrund eines bis zum 6. November 1969 befristeten Arbeitsvertrages beschäftigt war, hielt sich diese Beschäftigung auch im Rahmen der in § 1228 Abs. 2 Buchst. a) enthaltenen Befristung von nicht mehr als drei Monaten. Zwar liefert das Gesetz außer diesem Fristenmaßstab noch denjenigen von insgesamt 75 Arbeitstagen. Der andere Fristenmaßstab von insgesamt 75 Arbeitstagen kann hier aber nicht angewendet werden, da er nur für eine unterbrochene und nicht für eine fortlaufende Beschäftigung - wie hier - gilt (vgl. Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl., § 1228 II D 2. a) Seite 112).

Die Revisionskläger äußern freilich Bedenken, die Beschäftigung der Klägerin vom 1. September bis 6. November 1969 als gelegentliche, versicherungsfreie Nebenbeschäftigung zu werten, und zwar zunächst im Hinblick darauf, daß die Klägerin von ihrem langjährigen Arbeitgeber lediglich zeitlich vermindert weiter beschäftigt worden ist. Sie meinen, wenn schon eine wiederholte Aushilfstätigkeit bei demselben Arbeitgeber nicht mehr als gelegentlich angesehen werde, müsse dies erst recht dann gelten, wenn eine bisherige langjährige Tätigkeit nur stundenmäßig vermindert unmittelbar fortgesetzt werde. Dem kann nicht gefolgt werden. Schon zu dem in der Prüfungsreihenfolge an erster Stelle stehenden Tatbestandsmerkmal "berufsmäßig" hat der Senat ausgeführt, daß zwischen der Zeit der Vollbeschäftigung (bis 31. August 1969) und derjenigen der zeitlich eingeschränkten Beschäftigung (vom 1. September bis 6. November 1969) zu unterscheiden ist, wobei es unschädlich ist, daß beide Beschäftigungen sich unmittelbar zeitlich folgen und bei demselben Arbeitgeber verrichtet werden. Dieselben Erwägungen greifen auch bei der Anwendung der Begriffsbestimmung des § 1228 Abs. 2 Buchst. a) RVO Platz. Diese Vorschrift bietet schon nach ihrem Wortlaut keinen Anhalt dafür, daß die vornehmlich von der Beklagten vorgebrachten Gesichtspunkte mit zu berücksichtigen seien, was ebenso für das weitere Bedenken der Revisionskläger gilt, die Jahresfrist dürfe nicht mehr vom Beginn der Aushilfstätigkeit an berechnet werden, sondern die davor liegende Dauerbeschäftigung sei in die Jahresberechnung einzubeziehen. Mit Recht hat das LSG diesem Gedankengang, die Zeiten einer davor liegenden Dauerbeschäftigung seien mit in die Jahresfrist einzubeziehen, entgegengehalten, eine solche Betrachtung würde zur Folge haben, die Versicherten regelmäßig von einer versicherungsfreien Aushilfstätigkeit für das laufende Jahr auszuschließen, die im Laufe eines Jahres das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO beziehen. Dieses Argument schlägt durch; der Senat macht es sich zu eigen.

Da die Beschäftigung der Klägerin in der streitigen Zeit eine gelegentliche, versicherungsfreie Nebenbeschäftigung war, hat die Beklagte der Klägerin, wie das LSG richtig entschieden hat, das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO bereits vom 1. September 1969 an zu gewähren, wobei freilich die für die streitige Zeit entrichteten Beiträge außer Ansatz bleiben müssen. Ob diese Beiträge zurückzuerstatten sind, ist hier nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 193, 194 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669611

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