Entscheidungsstichwort (Thema)

Ehescheidung. Kausalität zwischen Scheidung und anerkannten Schädigungsfolgen. Bindung des Revisionsgerichts an tatsächliche Feststellungen

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Beantwortung der Frage, ob eine (wahrscheinliche) ursächliche Beziehung zwischen zwei Ereignissen besteht, trifft eine tatsächliche Feststellung; es handelt sich um keine Anwendung von Rechtsnormen. Erst die Frage, welche "Kausalnorm" (Kausaltheorie) zum Beispiel im Recht der Kriegsopferversorgung gilt, hat materiell-rechtlichen Gehalt.

 

Orientierungssatz

Hat das LSG jede tatsächliche ursächliche Beziehung zwischen Scheidung und anerkannten Schädigungsfolgen verneint, so ist das Revisionsgericht an diese tatrichterlichen Feststellungen nur dann nicht gebunden, wenn in der Revision gemäß § 164 Abs 2 S 3 SGG zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht werden.

 

Normenkette

BVG § 42 Abs. 1 S. 4 Fassung: 1966-12-28; SGG §§ 163, 164 Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 27.06.1984; Aktenzeichen L 1 V 8/82)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 19.01.1982; Aktenzeichen S 20 V 73/79)

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob der 1920 geborenen Klägerin, die ein Einzelhandelsgeschäft betreibt, als geschiedener Ehefrau des im Dezember 1977 verstorbenen Schwerkriegsbeschädigten Ferdinand W. eine Hinterbliebenenrente zusteht.

W. bezog bis zu seinem Tode eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 vH für folgende Schädigungsleiden: "Ausgedehnte Verbrennungsnarben an beiden Beinen. Erhebliche Geschwürsbildung am rechten Unterschenkel. Derbe Weichteilschwellung am rechten Unterschenkel und Fuß. Versteifung des rechten Fußgelenkes. Verlust der Großzehe links und der Kleinzehe beiderseits. Narbe nach Sympathektomie rechte Leiste. Verbrennungsnarben an beiden Armen und im Gesicht. Verkrüppelung der rechten Ohrmuschel. Klein Stecksplitter im Oberlid des linken Auges und in den Weichteilen des linken Ober- und Unterschenkels. Hornhautnarbe mit Herabsetzung des Sehvermögens rechts. Herzmuskelschaden. Geringgradige Innenohrschwerhörigkeit beiderseits".

Die Ehe der Klägerin mit W. wurde durch rechtskräftig gewordenes Urteil des Landgerichts (LG) Saarbrücken vom 20. April 1970 aus dem Verschulden des Ehemannes geschieden. In den Gründen dieses Urteils ist ausgeführt, W. habe sich einer schweren Eheverfehlung gegenüber der Klägerin schuldig gemacht. Er habe die Klägerin häufig mit üblen Ausdrücken in herabsetzender Weise beschimpft und sie auch mißhandelt, so daß die auf § 43 des Ehegesetzes (EheG) gestützte Scheidungsklage begründet sei. Eine Unterhaltsregelung wurde nicht getroffen.

Einen Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 17. Oktober 1978 mit der Begründung ab, daß W. der Klägerin weder z Zt seines Todes zum Unterhalt verpflichtet gewesen sei, noch im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet habe, noch an den Folgen einer Schädigung iS des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) verstorben sei. Der Widerspruch der Klägerin, mit dem diese geltend machte, bei W. sei es wegen des Schädigungsleidens zu einem Medikamenten- und Alkoholmißbrauch gekommen und dieser habe zur Zerrüttung der Ehe geführt, wurde zurückgewiesen; aus dem Scheidungsurteil ergebe sich, daß die Ehe durch Beleidigungen und Tätlichkeiten des W. zerrüttet worden sei (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes vom 7. August 1979).

Die dagegen erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die angefochtene Entscheidung vom 27. Juni 1984 damit begründet, daß keiner der Tatbestände des § 42 BVG erfüllt sei. W. sei weder der Klägerin mangels - unstreitiger - Unterhaltsbedürftigkeit unterhaltsverpflichtet gewesen, noch sei die Ehe im Zusammenhang mit einer Gesundheitsstörung des W., die Folge einer Schädigung iS des § 1 BVG war, geschieden, aufgehoben oder für nichtig erklärt worden. Die Scheidung sei wesentlich auf Eheverfehlungen des W. zurückzuführen. Das Schädigungsleiden als solches habe daher keine unmittelbar ursächliche Rolle gespielt, selbst wenn man davon ausgehe, daß infolge der durch die Schädigungsfolgen bedingten Tabletteneinnahme eine Unverträglichkeit mit Alkohol bestanden habe; auch ohne das Schädigungsleiden hätte sich W. bei Alkoholgenuß wahrscheinlich ebenso verhalten. Einer extensiveren Gesetzesauslegung stehe der Gesetzeszweck entgegen. Grundsätzlich sei Voraussetzung für eine Versorgung früherer Ehefrauen, daß der Verstorbene Unterhalt zu gewähren hatte. Durch den durch das Dritte Neuordnungsgesetz (3. NOG) vom 28. Dezember 1966 (BGBl I 750) eingefügten § 42 Abs 1 Satz 4 BVG seien jetzt auch Fälle erfaßt, in denen die Eheauflösung im Zusammenhang mit einer schädigungsbedingten Gesundheitsstörung stehe. Das aber beziehe sich auf die Fälle der §§ 44, 45, 46 EheG, in denen meist die klagende Ehefrau selbst unterhaltspflichtig gewesen sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe sich zu Unrecht an die Gründe des Scheidungsurteils gebunden gehalten. Es habe aufklären müssen, ob nicht in Wahrheit die Scheidung auf einer schädigungsbedingten Gesundheitsstörung beruhe. Diese Aufklärung würde ergeben haben, daß die durch das Versorgungsleiden bedingte Einnahme starker schmerzlindernder Tabletten in Verbindung mit Alkoholgenuß zu einer Persönlichkeitsveränderung geführt habe, die die Grundlage des die Scheidung auslösenden Verhaltens des W. gewesen sei.

Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den streitigen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Witwenversorgung ab Antrag zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Nach § 38 Abs 1 Satz 1 BVG idF des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (Drittes Neuordnungsgesetz-KOV -3. NOG-KOV- vom 28. Dezember 1966 -BGBl I S 750-) hat ua die Witwe eines Beschädigten Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn dieser an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Ist ein Schwerbeschädigter nicht an den Folgen einer Schädigung gestorben, so ist nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG ua der Witwe Witwenbeihilfe zu gewähren, wenn der Schwerbeschädigte durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit in vollem Umfang auszuüben und dadurch die Versorgung seiner Hinterbliebenen nicht unerheblich beeinträchtigt ist. Nun ist die Klägerin als geschiedene frühere Ehefrau des Beschädigten Ferdinand W. nicht dessen Witwe. Indessen steht nach § 42 Abs 1 Satz 1 BVG im Falle ua der Scheidung der Ehe die frühere Ehefrau des Verstorbenen unter bestimmten Voraussetzungen einer Witwe gleich, wenn ihr dieser zZt seines Todes Unterhalt zu gewähren hatte oder zuletzt tatsächlich geleistet hat.

Diese gesetzliche Gleichstellung der früheren geschiedenen Frau mit der Witwe begünstigt die Klägerin jedoch nicht, weil sie nach den unangegriffenen, den erkennenden Senat dahin bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) wegen der Einkünfte aus ihrem Gewerbebetrieb niemals Unterhaltsansprüche gegen ihren geschiedenen Ehemann hatte und ihr dieser tatsächlich auch niemals Unterhalt zahlte. Nach allem könnte ein Anspruch der Klägerin wenigstens auf Hinterbliebenenbeihilfe nur begründet sein, wenn sie die besonderen Voraussetzungen des § 42 Abs 1 Satz 4 BVG erfüllte. Nach dieser Vorschrift steht die frühere Ehefrau auch ohne die Voraussetzungen des Satzes 1 einer Witwe gleich, wenn die Ehe "in Zusammenhang mit einer Gesundheitsstörung" des Verstorbenen, die als Folge einer Schädigung iS des § 1 BVG anerkannt war, ua geschieden worden ist. Die Ehe der Klägerin mit Ferdinand W. ist am 20. April 1970 vom Landgericht aber nicht aus Gründen geschieden worden, die im Zusammenhang mit einer anerkannten Schädigung stünden.

Das LSG hat im angefochtenen Urteil zur Frage eines Zusammenhangs zwischen Scheidung und den als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen des früheren geschiedenen Ehemannes der Klägerin ausgeführt: Ein ursächlicher Zusammenhang iS der versorgungsrechtlichen Kausalnorm habe nicht vorgelegen. Die Scheidung sei im wesentlichen auf die Eheverfehlungen Ferdinand W's in Form von Mißhandlungen und Beleidigungen der Klägerin zurückzuführen. Das Schädigungsleiden habe dabei keine unmittelbare ursächliche Rolle gespielt. Selbst bei Unterstellung, daß bei W. infolge schädigungsbedingter Einnahme von Arzneimitteln eine Alkoholunverträglichkeit bestanden habe, hätte sich dieser "auch ohne Schädigungsleiden" unter Alkoholeinfluß "wahrscheinlich genau so verhalten".

Insbesondere die letzteren Ausführungen lassen keinen Zweifel offen, daß das LSG jede tatsächliche ursächliche Beziehung zwischen Scheidung und den bei Ferdinand W. anerkannten Schädigungsfolgen verneint. Die Beantwortung der Frage, ob eine (wahrscheinliche) ursächliche Beziehung zwischen zwei Ereignissen besteht - hier denkbar: die durch Schädigungsfolgen bedingte Medikamentation und das zur Scheidung führende Fehlverhalten W's -, trifft eine tatsächliche Feststellung; es handelt sich um keine Anwendung von Rechtsnormen (vgl dazu BSGE 1, 150; 7, 288, 290; Entscheidung des Bundessozialgerichts -BSG- vom 12. Juli 1976 - 5 RKn 34/76; BSG in SozR Nr 125 zu § 102 SGG; BSG in SozR 2200 § 1251 Nr 34 S 96; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 162 RdNr 3; Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, S 25). Erst die Frage, welche "Kausalnorm" (Kausaltheorie) zB im Recht der Kriegsopferversorgung gilt (hierzu zB Wilke/Wunderlich, BVG, 5. Aufl, § 1 Anm V Nr 3), hat materiell-rechtlichen Gehalt. Da das LSG im angefochtenen Urteil festgestellt hat, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem für die Scheidung verantwortlichen Fehlverhalten W's und den bei ihm anerkannten Schädigungsfolgen nach den konkreten Umständen des Falles auszuscheiden habe, enthalten die Ausführungen des Berufungsgerichts keine rechtlichen Erörterungen, auch keine solchen zur Kausaltheorie; sie sind ausschließlich tatsächlicher Natur; nach den Ausführungen des LSG steht fest, daß sich Schädigungsfolgen und Ehescheidung nicht ursächlich miteinander verknüpfen lassen.

An diese tatrichterlichen Feststellungen wäre der erkennende Senat nach § 163 SGG nur dann nicht gebunden, wenn die Klägerin in der Revision hiergegen gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht hätte. Das aber ist nicht der Fall. Insbesondere hat die Klägerin keine Verfahrensnorm als verletzt bezeichnet und keine Tatsachen angegeben, die einen Verfahrensmangel ergäben. Zwar hat sie vorgebracht, das LSG habe sich irrig an die im Scheidungsurteil als Grund der Scheidung genannten Umstände gebunden gefühlt und deshalb eine veranlaßte eigene Amtsermittlung unterlassen. Darin könnte die Rüge der Verletzung des § 103 Satz 1 SGG liegen. Jedoch ergeben die Gründe des angefochtenen Urteils nicht, daß sich das Berufungsgericht an die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Scheidungsurteils vom 20. April 1970 rechtlich gebunden gefühlt hätte. Das LSG-Urteil läßt allein erkennen, daß das Gericht das landgerichtliche Scheidungsurteil als Erkenntnisquelle benutzt hat und dessen tatsächlichen Feststellungen zu den Gründen der Scheidung gefolgt ist. Das durfte das Berufungsgericht; die Klägerin hat nicht dargelegt, warum das LSG hieran rechtlich gehindert gewesen wäre. Damit ist ein Verfahrensmangel entgegen § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht bezeichnet. Soweit die Klägerin dartut, das Scheidungsurteil ergebe für die wahren Scheidungsgründe "nichts Eindeutiges", so ist dies eine vom LSG abweichende Wertung der dort geschilderten Tatsachen, aus der kein Mangel im Verfahren des LSG, sondern allenfalls eine abweichende, für den Senat unbeachtliche "Beweiswürdigung" der Klägerin ersichtlich wird.

Ist aber bei bindender Verneinung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Schädigungsfolgen und Scheidung das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden, so mußte die Revision der Klägerin hiergegen als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656397

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