Verfahrensgang

SG Berlin (Urteil vom 26.09.1979)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. September 1979 sowie der Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 1978 aufgehoben.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Klägerin verpflichtet ist, einen Betriebsarzt zu bestellen.

Die Klägerin, eine GmbH, ist Mitglied der Beklagten. Sie hat ihren Sitz in B…. Dort befindet sich auch die Verwaltung. Sie stellt in drei Werken Flügel und Klaviere her, und zwar in B… große Flügel, in K… kleinere Flügel und in E… Klaviere. In der Hauptverwaltung und den drei genannten Werken werden insgesamt etwa 170 Arbeitnehmer beschäftigt, in keiner der Niederlassungen jedoch mehr als 100 Arbeitnehmer. Jedes einzelne Werk leitet ein Prokurist mit einem intern nicht unbeträchtlichen Entscheidungsspielraum. Der Jeweilige Prokurist verkehrt mit Behörden, beschafft die Materialien und führt die Bestellungen und den Lieferantenverkehr durch. Fertigprodukte und Material für die Produktion kauft er in eigener Verantwortung ein. Bei Investitionen über 25.000,-- DM bedarf er der Genehmigung des Aufsichtsrates. Er entscheidet im übrigen in Personalangelegenheiten und ist insbesondere befugt, Einstellungen und Entlassungen eigenverantwortlich vorzunehmen. Die Niederlassungsleiter werden anhand von Jahresabschlüssen, Zwischenbilanzen und Haushaltsplänen kontrolliert. Die Niederlassungsleiter bestellen auch Sicherheitsfachkräfte. Das Unternehmen hat weder einen Betriebsarzt bestellt noch ein überbetriebliches arbeitsmedizinisches Zentrum beauftragt.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18. Januar 1978 erklärte die Beklagte die Klägerin für verpflichtet, zur Wahrnehmung der in § 3 des Arbeitssicherheitsgesetzes (ASiG) festgelegten Aufgaben einen Betriebsarzt oder ein überbetriebliches arbeitsmedizinisches Zentrum schriftlich zu bestellen oder zu verpflichten und nach § 2 Abs 1 der Unfallverhütungsvorschrift “Betriebsärzte” (VBG 123) eine Einsatzzeit von 0,4 Stunden / Jahr je Arbeitnehmer zu gewährleisten. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. März 1978).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 26. September 1979).

Die Klägerin hat mit Zustimmung der Beklagten Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 1, 2 des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit vom 12. Dezember 1973 – ASiG – (BGBl I 1885) und der Unfallverhütungsvorschriften “Betriebsärzte” (VBG 123) der Beklagten. Als Betrieb iS des ASiG und der UVV “Betriebsärzte” sei nicht die wirtschaftliche Einheit des Unternehmens insgesamt anzusehen, sondern jedes einzelne ihrer weitgehend selbständigen, örtlich weit voneinander entfernten Werke. Da in keinem dieser Werke die von der UVV “Betriebsärzte” geforderte Zahl von mindestens 101 Arbeitnehmern erreicht sei, seien diese UVV nicht anwendbar.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. September 1979 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 1978 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil des SG ist ebenso aufzuheben wie der angefochtene Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides.

Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig. Die Beklagte verlangt von der Klägerin zu Unrecht, einen Betriebsarzt oder ein überbetriebliches arbeitsmedizinisches Zentrum zur Wahrnehmung der in § 3 ASiG festgelegten Aufgaben zu bestellen oder zu verpflichten, weil sie von der Unfallverhütungsvorschrift (UVV) “Betriebsärzte” (VBG 123) der Beklagten nicht erfaßt wird.

Zum Erlaß der UVV (VBG 123) war die Beklagte durch § 708 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des § 21 Nr 1 ASiG ermächtigt. Danach erlassen die Berufsgenossenschaften (BGen) Vorschriften über die Maßnahmen, die der Unternehmer zur Erfüllung der sich aus dem ASiG ergebenden Pflichten zu treffen hat. Unfallverhütungsvorschriften sind autonome Rechtsnormen der BGen, die für ihre Mitglieder gelten, soweit die BGen zu ihrem Erlaß gesetzlich ermächtigt sind (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, Stand August 1979, II 551; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, Stand September 1979, Bd 3, § 708 Anm 4a mit Nachweisen). Die VBG 123 der Beklagten gilt für Unternehmer, die nach § 2 Betriebsärzte zu bestellen haben (§ 1). § 2 ASiG verpflichtet den Arbeitgeber, “Betriebsärzte schriftlich zu bestellen und ihnen die in § 3 genannten Aufgaben zu übertragen, soweit dies erforderlich ist im Hinblick auf 1. die Betriebsart und die damit für die Arbeitnehmer verbundenen Unfall- und Gesundheitsgefahren, 2. die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer und die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft und 3. die Betriebsorganisation, insbesondere im Hinblick auf die Zahl und die Art der für den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung verantwortlichen Personen”.

Hierzu bestimmt § 2 der UVV (VBG 123) der Beklagten, der Unternehmer habe Betriebsärzte zur Wahrnehmung der in § 3 des ASiG bezeichneten Aufgaben, für die sich aus den Merkmalen der nachstehenden Tabelle ergebenden erforderlichen Einsatzzeiten schriftlich zu bestellen oder zu verpflichten. Diese Tabelle schreibt vor, daß bei einer Zahl der durchschnittlich im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer von 101 und mehr die erforderliche Einsatzzeit der Betriebsärzte (Stunden/Jahr Je Arbeitnehmer) 0,2 oder 0,4 betrage. Für Betriebe, in denen durchschnittlich nur bis zu 100 Arbeitnehmer beschäftigt sind, enthält diese UVV keine Regelung. Nach § 2 Abs 2 UVV kann die BG im Einzelfall im Einvernehmen mit der nach § 12 ASiG zuständigen Behörde geringere oder höhere Einsatzzeiten der Betriebsärzte festsetzen, wenn die Unfall- und Gesundheitsgefahren im Betrieb unterdurchschnittlich gering oder überdurchschnittlich hoch sind.

Eine solche einvernehmliche Regelung hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid nicht getroffen. Sie leitet ihre Regelungsbefugnis allein aus § 2 Abs 1 der UVV her. Die dort genannten Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt.

Entgegen der Auffassung des SG ist unter “Betrieb” iS des ASiG und damit auch der UVV nicht das gesamte Unternehmen im wirtschaftlichen, rechtlichen und organisatorischen Sinne zu verstehen. Das würde dem erklärten Ziel des Gesetzes widersprechen, mit dem erreicht werden soll, daß “1. die dem Arbeitsschutz und der Unfallverhütung dienenden Vorschriften den besonderen Betriebsverhältnissen entsprechend angewendet werden, 2. …, 3. die dem Arbeitsschutz und der Unfallverhütung dienenden Maßnahmen einen möglichst hohen Wirkungsgrad erreichen” (§ 1 ASiG). In größeren Unternehmen mit unterschiedlichen Produktionszweigen und Produktionsstätten können jedoch die Anforderungen an den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung und im Hinblick auf die Aufgaben der Betriebsärzte (§ 3 ASiG) sehr unterschiedlich sein, so daß eine Anpassung an die “besonderen Betriebsverhältnisse” gar nicht möglich wäre, wenn der “Betrieb” mit dem Gesamtunternehmen gleichzusetzen wäre. Das ASiG spricht deshalb folgerichtig auch nicht vom “Unternehmen”, sondern vom “Betrieb” und vermeidet sogar den in der gesetzlichen Unfallversicherung verwendeten Begriff “Unternehmer”, spricht vielmehr vom Arbeitgeber. Es lehnt sich damit schon in der Wortfassung an das Betriebsverfassungsgesetz vom 15. Januar 1972 (BGBl I 13) -BetrVerfG- an, wo deutlich zwischen Betrieb (§ 1) und Unternehmen (§ 47) unterschieden wird.

Aber auch aus weiteren materiell-rechtlichen Regelungen des ASiG ergibt sich, daß mit “Betrieb” nicht das Unternehmen gemeint ist. So unterstehen etwa Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitsschutz unmittelbar dem “Leiter des Betriebs” (§ 8 Abs 2 ASiG). Noch deutlicher wird die Unterscheidung in § 8 Abs 3 ASiG, wonach Betriebsärzte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit ihren Vorschlag über arbeitsmedizinische oder sicherheitstechnische Maßnahmen unmittelbar dem Arbeitgeber unterbreiten können, wenn sie sich mit dem Leiter des Betriebes nicht verständigen. Schließlich unterscheidet § 8 Abs 3 Satz 2 ausdrücklich zwischen einem für einen Betrieb und für ein Unternehmen bestellten leitenden Betriebsarzt. Ein leitender Betriebsarzt eines Unternehmens setzt jedoch begrifflich einen oder mehrere Betriebsärzte in Betrieben voraus. Wenn weiterhin § 9 die Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat vorschreibt (Abs 1 und 2) und die Betriebsärzte mit Zustimmung des Betriebsrats zu bestellen und abzuberufen sind (Abs 3 Satz 1) und in Abs 3 Satz 2 ausdrücklich auf die §§ 87 iVm 76 des BetrVerfG verwiesen wird, so kann hiermit nur der “Betrieb” und nicht das ''Unternehmen” gemeint sein, denn Betriebsräte werden in Betrieben gewählt (§ 1 BetrVerfG). In einem Unternehmen, in dem mehrere Betriebsräte bestehen, wird dagegen ein Gesamtbetriebsrat errichtet (§ 47 BetrVerfG). Als selbständiger Betrieb iS des BetrVerfG gilt jedoch ein Betriebsteil mit in der Regel mindestens fünf ständig wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind (§ 1 BetrVerfG), wenn er räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist (§ 4 BetrVerfG).

Diese enge, auch sachlich-rechtliche Verknüpfung des ASiG mit dem BetrVerfG ergibt unmißverständlich, daß “Betrieb” iS des ASiG weitgehend gleichbedeutend mit “Betrieb” iS des BetrVerfG ist. Gegen diese Auslegung des Begriffs “Betrieb” bestehen um so weniger Bedenken, als sie mit der oben dargelegten Zielsetzung des ASiG übereinstimmt. Soweit erkennbar, wird in der einschlägigen Literatur keine abweichende Auffassung vertreten (vgl Kliesch/Nöthlichs/Wagner, Arbeitssicherheitsgesetz, § 2 Anm 4 aE, § 8 Anm 5.2; Spinnarke/Schork, Arbeitssicherheitsrecht, Stand August 1979, § 1 Anm 5.2.2, §.2 Anm 2.1; Graeff, ASiG § 8 Anm 4; Doetsch/Schnabel, ASiG § 8 Anm 4).

Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen Betrieb und Unternehmen, wenn das Unternehmen dezentralisiert organisiert ist. Dann können innerhalb des Unternehmens verhältnismäßig selbständige Betriebe als Teilorganisationen bestehen, so daß für die Anwendung des ASiG und der UVVen nicht auf das Gesamtunternehmen, sondern auf den einzelnen Betrieb oder Betriebsteil abzustellen ist (Spinnarke/Schork aaO; Dietz/Richardi, BetrVerfG § 1 Anm 50; Lauterbach, aaO, § 708 Anm 15a). Zutreffend definieren daher Spinnarke/Schork (aaO, § 1 Anm 5.2.2) den Betrieb als die auf einem gewissen räumlichen und arbeitstechnischen Zusammenhang beruhende, in sich geschlossene relativ selbständige Vereinigung von persönlichen, sachlichen und immateriellen Mitteln zur Verfolgung eines wirtschaftlichen Zweckes. Wenn dagegen § 719 Abs 1 Satz 1 RVO (in der durch das ASiG nicht geänderten Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 -BGBl I, 241 –) bestimmt, in Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten habe der Unternehmer einen oder mehrere Sicherheitsbeauftragte zu bestellen, und Lauterbach (aaO, § 719 Anm.2c) meint, die Zahl der Beschäftigten sei auf das Gesamtunternehmen abzustellen, folgt daraus nicht, daß ebenso iS des ASiG “Betrieb” gleich “Unternehmen” ist. Im Gegensatz zum ASiG schreibt hier bereits die RVO dem Unternehmer bei einer sehr geringen Zahl von Beschäftigten die Bestellung eines oder sogar mehrerer Sicherheitsbeauftragter vor. Die UVVen können auch hier bestimmen, daß in einzelnen Betrieben mit geringerer Beschäftigtenzahl Sicherheitsbeauftragte bestellt werden müssen.

Im Rahmen des Unternehmens der Klägerin sind danach die einzelnen Werke in P…, K… und E… Betriebe iS des ASiG und der UVV (VBG 123) der Beklagten. Sie sind weitgehend organisatorisch selbständig und räumlich weit voneinander entfernt. Ob die Unfall- und Gesundheitsgefahren für die Beschäftigten dieser Betriebe sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden, ist dabei unerheblich. Da die genannte UVV Einsatzzeiten für Betriebsärzte nur für Betriebe mit mehr als 100 Beschäftigten vorschreibt, werden die Werke der Klägerin von dieser UVV nicht erfaßt, so daß sie keine Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid der Beklagten ist.

Ob sich aus dem ASiG unmittelbar für die Klägerin eine Verpflichtung zur Bestellung von Betriebsärzten oder eines überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Zentrums (§ 19 ASiG) ergibt, ist hier nicht zu entscheiden. Entsprechende Anordnungen kann nicht die Beklagte, sondern nur die zuständige Behörde treffen (§ 12 ASiG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

BSGE, 171

Breith. 1981, 405

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