Leitsatz (amtlich)

1. Die im Bescheid des Versorgungsamts getroffene Feststellung, daß bestimmte Leiden Schädigungsfolgen im Sinne des Versorgungsrechts sind, bedeutet nicht das Zugeständnis einer rechtserheblichen Tatsache - gerichtliches Geständnis im Sinne des ZPO § 288, sondern gehört zum Verfügungssatz des den Versorgungsanspruch regelnden Verwaltungsaktes.

2. Die Bindung des Verwaltungsaktes erstreckt sich auch auf die Feststellung der Schädigungsfolgen; sie ist insoweit der sozialgerichtlichen Nachprüfung entzogen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Kein bloßes Zugeständnis rechtlich bedeutsamer Tatsachen - kein bloßer Widerruf: 1. Zur Frage der Beurteilung der MdE bei jugendlichen Beschädigten (Berufsberücksichtigung).

2. Ein Bescheid, der den Kläger begünstigt, ist in dem Zeitpunkt, in dem er ihm zugeht, für die Beteiligten in der Sache bindend.

3. Soweit der Bescheid den Kläger belastet, bewirkt die Bindung, ähnlich dem Verbot der reformatio in peius (Verbot der Schlechterstellung), daß die Verwaltungsbehörde diese Belastung nicht erhöhen darf.

4. Die Feststellung bestimmter Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen im Bescheid gehört zum entscheidenden Teil des Verwaltungsaktes; auf sie erstreckt sich auch die Bindung, sie ist nicht bloß Zugeständnis einer rechtlich bedeutsamen Tatsache (ZPO §§ 288 bis 290).

5. Die Verwaltungsbehörde kann sich von der Feststellung der Schädigungsfolgen nur durch einen Berichtigungsbescheid befreien.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 288; KOVVfG § 24 Abs. 2 Fassung: 1955-05-02, § 41 Fassung: 1955-05-02; ZPO §§ 289-290

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Januar 1956 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Auf dem Rückzug von B nach B kamen am 11. April 1945 deutsche Panzertruppen durch H. Einer der Panzer fuhr dabei in eine Gruppe von Flüchtlingen, tötete drei Menschen und verletzte den am 6. April 1936 geborenen Kläger. Dieser erlitt einen Beckenbruch und mußte im Krankenhaus bis zum 17. Mai 1945 stationär behandelt werden.

Am 20. September 1949 stellte der Vater des Klägers wegen der Unfallfolgen Antrag auf Versorgungsrente. Mit Bescheid vom 13. Februar 1951 erkannte das Versorgungsamt Verformung des Beckens und Verkürzung des linken Beines um zweieinhalb Zentimeter nach linksseitigem Pfannenbruch als Leistungsgrund im Sinne der Entstehung nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (BKBLG) und dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an. Die Gewährung von Rente wurde im gleichen Bescheid mit der Begründung abgelehnt, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) betrage nur 10 v.H.

Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Oberversicherungsamt (OVA.) N den Beklagten, dem Kläger ab 1. Oktober 1950 Rente nach einer MdE. um 25 v.H. zu gewähren. Es ging von der Beurteilung des Gerichtsarztes aus, der eine MdE. um 20 v.H. angenommen hatte, und erhöhte diese auf 25 v.H., weil es besondere berufliche Benachteiligung des Klägers durch die Unfallfolgen als erwiesen ansah.

Mit dem Rekurs, der bei Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG.) überging, wandte sich der Beklagte gegen die Annahme einer MdE., die zum Bezug von Rente berechtige und machte geltend, nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen sei schon die Bewertung des Gerichtsarztes zu hoch; es fehle auch ein besonders schweres berufliches Betroffensein des Klägers.

Das LSG. hob das Urteil des OVA. durch Urteil vom 24. Januar 1956 auf, wies die Klage ab und ließ die Revision zu. Es führte aus, der Unfall des Klägers könne nicht als Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 BKBLG (in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Buchst. a der Durchführungsverordnung - DurchfVO - vom 1. Mai 1949) und der §§ 1 Abs. 2 Buchst. a und 5 Abs. 1 Buchst. a BVG angesehen werden. Insoweit fehle es schon an einer Grundlage des Anspruchs und daher entfalle für das Gericht die Möglichkeit und Notwendigkeit, die Höhe der MdE. nachzuprüfen. Dem stehe nicht entgegen, daß das Versorgungsamt im Bescheid die Verformung des Beckens und die Verkürzung des linken Beines als Leistungsgrund nach dem BKBLG und dem BVG anerkannt habe; denn insoweit handle es sich nur um das Zugeständnis einer rechtlich bedeutsamen Tatsache, das widerrufen und gerichtlich nachgeprüft werden könne. Im übrigen habe die Schädigung nach den ärztlichen Gutachten beim Kläger keine MdE. in der Höhe herbeigeführt, die zum Bezug einer Rente berechtige.

Die Revision des Klägers rügt Verletzung des Art. 1 Abs. 1 KBLG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Buchst. a der DurchfVO vom 1. Mai 1949, des § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG und der §§ 103, 106, 128 und 202 SGG in Verbindung mit den §§ 288 bis 290 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Sie ist der Auffassung, die Gesundheitsstörung sei Schädigungsfolge im Sinne der Versorgungsgesetze. Die Rückzugsbewegungen der deutschen Truppen im April 1945 seien unmittelbar mit Kampfhandlungen zusammenhängende militärische Maßnahmen gewesen. Außerdem habe es sich um einen neuen Einsatz deutscher Panzer gehandelt, der unter ständiger Bedrohung durch alliierte Luftstreitkräfte gestanden habe. Wenn das LSG. den Begriff der mit Kampfhandlungen in unmittelbarem Zusammenhang stehenden militärischen Maßnahmen schon eng habe auslegen wollen, hätte es aufklären müssen, ob die Fahrt der Panzer noch im Rahmen einer ordnungsgemäßen Verlegung durchgeführt worden sei, wie weit damals die vorderste Linie von H entfernt gewesen sei und ob an diesem Tage in dieser Gegend Kampfhandlungen stattfanden. Das LSG. habe auch den Erfahrungssatz verletzt, wonach Fahrten von Panzern im letzten Monat des Krieges stets mit Kampfhandlungen unmittelbar zusammenhingen. Darin liege ein Verstoß gegen § 128 SGG. Nachdem der ursächliche Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit einer Schädigung vom Beklagten anerkannt gewesen sei, habe das Berufungsgericht nicht durch Urteil einen "Zuungunstenbescheid" der Versorgungsbehörde ersetzen dürfen, für den die Voraussetzungen zudem nicht vorgelegen hätten. Die Vorschriften der ZPO über das gerichtliche Geständnis seien im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar, weil das Gericht die Wahrheit von Amts wegen ohne Bindung an das Vorbringen der Beteiligten zu erforschen habe.

Der Kläger beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des OVA. zurückzuweisen; hilfsweise, die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Das angefochtene Urteil enthalte keine Gesetzesverletzung.

Die infolge Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist daher zulässig (§§ 160, 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG).

Die Revision ist auch begründet; das LSG. hat den Teil des Versorgungsbescheides vom 13. Februar 1951 nicht ändern dürfen, der den Kläger begünstigt hat, da er nicht angefochten und daher für die Beteiligten bindend geworden war.

Der Bescheid vom 13. Februar 1951 ist ein Verwaltungsakt und, soweit er den Kläger begünstigt hat, in dem Zeitpunkt, in dem er ihm zugegangen ist, für die Beteiligten in der Sache bindend geworden (Art. 30 Abs. 4, 33 KBLG, §§ 77 SGG, 24 Verwaltungsverfahrensgesetz - VerwVG -; BSG. 7 S. 8 (11) mit weiteren Hinweisen). Soweit der Bescheid den Kläger belastet hat, bewirkt die Bindung ähnlich dem Verbot der reformatio in peius, daß die Versorgungsverwaltung diese Belastung nicht erhöhen darf (Haueisen, NJW. 59 S. 2137). Der Kläger hat den Versorgungsbescheid nur insoweit angefochten, als die Rente versagt wurde, weil die MdE. nur mit 10 v.H. bewertet worden war, nicht aber, soweit Schädigungsfolgen anerkannt waren. Mit den damals zulässigen Rechtsbehelfen hat diesen nur der Versorgungsberechtigte anfechten können. Der Beklagte hätte ihn nur ändern können, soweit dies durch Gesetz bestimmt war (BSG. a.a.O.). Er hätte dies, sofern die besonderen Voraussetzungen gegeben waren, bis zum 31. März 1955 nach Art. 30 Abs. 4 KBLG in Verbindung mit § 84 Abs. 3 BVG und vom 1. April 1955 an nach § 41 VerwVG tun können. Von diesen Möglichkeiten hat der Beklagte keinen Gebrauch gemacht.

Zu Unrecht hat das LSG. die Feststellung, daß die Verformung des Beckens und die Verkürzung des linken Beines um 2 1/2 cm nach linksseitigem Pfannenbruch Schädigungsfolgen im Sinne des KBLG und des BVG seien, als das Zugeständnis einer rechtlich bedeutsamen Tatsache angesehen. Wie das Bundessozialgericht (BSG.) bereits mehrfach entschieden hat (BSG. 9 S. 80, Urteil des BSG. vom 7.10.1958 - 10 RV 573/57 -), ist die "Anerkennung" bestimmter Leiden als Schädigungsfolge durch die Versorgungsverwaltung ein feststellender Verwaltungsakt, weil sie für sich betrachtet - auch als Teil eines Bescheides - die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts darstellt. Daraus folgt, daß das Gericht nicht nachprüfen darf, ob dieser Verwaltungsakt rechtmäßig und fehlerfrei ist, soweit ihn der Kläger nicht angefochten hat. Dies hat das LSG. verkannt.

Die Feststellung, ob bestimmte Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen im Sinne des Versorgungsrechts sind oder nicht, ist nicht nur Begründung für die Entscheidung über den Versorgungsanspruch; denn sie ist auch Voraussetzung für weitere Ansprüche und erzeugt Rechtswirkungen, die über die Bedeutung der bloßen Begründung der Ansprüche hinausgehen. Solche weitergehenden Rechtsfolgen betreffen den Anspruch auf Heilbehandlung, selbst wenn die MdE. nicht zum Bezug der Rente berechtigt (§ 10 Abs. 2 BVG), Rechtsvermutungen (§§ 36 Abs. 1 Satz 3 und 38 Abs. 1 Satz 2 BVG) und die Geltendmachung von Versorgungsansprüchen nach § 58 Abs. 2 BVG. Die Feststellung bestimmter Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen im versorgungsrechtlichen Sinne gehört zum entscheidenden Teil des Verwaltungsakts; auf sie erstreckt sich auch die Bindung des Verwaltungsakts, sie ist nicht bloß Zugeständnis einer rechtlich bedeutsamen Tatsache. Schon aus diesem Grunde hat das LSG. die Anerkennung bestimmter Schädigungsfolgen nicht nach den §§ 288 bis 290 ZPO beurteilen dürfen. Umfaßte die Bindung des Beklagten auch die Feststellung der Schädigungsfolgen, so konnte der Beklagte sich davon nur befreien, wenn die Voraussetzungen des Art. 30 Abs. 4 KBLG oder - vom 1. April 1955 an - des § 41 VerwVG vorlagen. Das LSG. aber war durch § 77 SGG gehindert, den Versorgungsbescheid insoweit nachzuprüfen, als er die Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen betraf. Es durfte auch bei der Beurteilung des Rentenanspruchs nicht mehr prüfen, ob die anerkannten Gesundheitsstörungen des Klägers Schädigungsfolgen seien. Es hatte nur darüber zu befinden, ob dem Kläger für die bindend festgestellten Schädigungsfolgen eine Rente in bestimmter Höhe zusteht.

Obwohl das LSG. in seinem Urteil ausgeführt hat, der Anspruch auf Rente sei auch deshalb nicht begründet, weil eine ausreichende MdE. nach den ärztlichen Gutachten nicht vorliege, beruht sein Urteil auf Verletzung des § 77 SGG, § 24 VerwVG und des Art. 30 Abs.4 KBLG. Das LSG. hat zuvor selbst dargelegt, auf Grund seiner Rechtsansicht, die Gesundheitsstörungen des Klägers seien nicht Schädigungsfolge, entfalle die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer Nachprüfung, in welchem Ausmaß das Unfallereignis die Erwerbsfähigkeit des Klägers gemindert habe. Daraus geht hervor, daß die Bezugnahme des LSG. auf die ärztlichen Gutachten und die sich daraus ergebende MdE. nur nebenbei erfolgt ist, daß aber das LSG. insoweit nicht hat entscheiden wollen. Diese Ausführungen tragen das Berufungsurteil nicht und sind deshalb für das Revisionsgericht unbeachtlich (BSG. Bd. 9 S. 17 und 80). Da nicht auszuschließen ist, daß das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn das LSG. die verletzten Vorschriften richtig angewandt hätte, ist die Revision begründet (§ 162 Abs. 2 SGG). Das Urteil mußte daher aufgehoben werden.

Eine Entscheidung in der Sache selbst ist dem Senat nicht möglich, da für die Beurteilung der MdE. des Klägers Feststellungen im Sinne des § 163 SGG nicht vorliegen. Die Sache war deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dieses wird zu beachten haben, daß es für die Beurteilung des Grades der MdE. nicht auf die ärztlichen Gutachten allein ankommt und daß der Sachverhalt auch unter dem Gesichtspunkt der besonderen beruflichen Betroffenheit (BSG. Bd. 4 S. 149, Bd. 5 S. 229, Bd. 6 S. 268, Bd. 9 S. 206, Bd. 10 S. 69) zu würdigen ist. Dabei kann das LSG. wohl davon ausgehen, daß der im Zeitpunkt des Unfalls neun Jahre alte Kläger weder eine Berufsausbildung begonnen noch einen Beruf angestrebt, noch einen solchen ausgeübt hat. Dagegen dürfte ein Sachverständigenbeweis darüber nicht zu entbehren sein, ob sich die durch Beckenverformung und Verkürzung des linken Beines um zweieinhalb Zentimeter bedingten statischen Beschwerden deshalb besonders nachteilig auswirken, weil diese Beschwerden (Verkrümmung der Wirbelsäule) beim Kläger für die ganze Dauer seines Berufes und damit länger und empfindlicher wirksam bleiben als bei einem Beschädigten, der im späteren Alter von einer gleichartigen Gesundheitsstörung betroffen wird.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2325685

BSGE, 25

NJW 1960, 1319

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