Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20. Februar 1958 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin ist am 50. August 1959 als uneheliches Kind geboren. Ihr Erzeuger ist nicht festgestellt. Ihre Mutter ist kurz vor Kriegsende durch einen Luftangriff ums Leben gekommen; sie war in der Invalidenversicherung versichert. Die Klägerin hat bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (August 1957) je eine Waisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und – seit dem 1. Mai 1945 – nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) bezogen. Die Kriegsopferrente wurde ihr auf Grund einer Härtevorschrift des BVG als Vollwaisenrente gezahlt. Ihren Antrag, die Versicherungsrente nach dem Inkrafttreten der Rentenneuregelungsgesetze (1.1.1957) ebenfalls alsVollwaisenrente zu gewähren, lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA.) ab: Vollwaisen seien nur solche Kinder, deren beide Elternteile nicht mehr lebten; da der Vater der Klägerin nicht festgestellt sei, könne nicht geprüft werden, ob er noch lebe oder schon gestorben sei, ein Anspruch auf Vollwaisenrente bestehe daher nicht. Das Sozialgericht (SG.) gab der Klage unter Zulassung der Berufung statt: der Begriff Vollwaise setze zwar grundsätzlich voraus, daß beide Elternteile eines Kindes nachweisbar verstorben seien. Einer Vollwaise in diesem Sinne müsse jedoch ein mutterloses uneheliches Kind gleichgestellt werden, dessen Vater nicht zu ermitteln sei; denn es habe nach dem Tode der Mutter ebenfalls keinen Ernährer mehr (Urteil vom 20.2.1958). Die mit Einwilligung der Klägerin eingelegte Sprungrevision der beklagten LVA. hält die Rechtsauffassung des SG. für irrig: als Vollwaisen seien – ebenso wie nach dem BVG – nur solche Kinder anzusehen, deren Vater und Mutter nicht mehr lebten. Bei einem Kinde mit unbekanntem Vater könne aber dessen Tod, mithin ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal, nicht festgestellt werden. Mangels einer dem § 89 BVG vergleichbaren Härtevorschrift bestehe daher keine rechtliche Möglichkeit, solchen Kindern die Vollwaisenrente zu gewähren. Eine andere Auslegung des Gesetzes würde auch dem Sinne der Vollwaisenrente widersprechen, einen Ausgleich für den Wegfall eines Unterhaltsanspruches zu geben. Solange der Vater eines unehelichen Kindes nur unbekannt sei, möge der Unterhaltsanspruch gegen ihn nicht durchsetzbar sein, bestehe aber gleichwohl. Auch ein uneheliches Kind, das seinen Unterhaltsanspruch gegen den unehelichen Vater wegen fehlender Leistungsfähigkeit nicht durchsetzen könne, erhalte keine Vollwaisenrente. Wäre im übrigen ein uneheliches Kind, dessen Vater unbekannt sei, nach dem Tode der Mutter als Vollwaise anzusehen, so müßte es folgerichtig vorher Halbwaise gewesen sein, was ernstlich wohl nicht behauptet werden könne.

Die Beklagte beantragt daher die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Abweisung der Klage. Die Klägerin bittet um Zurückweisung der Revision.

Die Revision ist nicht begründet. Wie der Senat in einer rechtlich und tatsächlich im wesentlichen gleichliegenden Sache (3 RJ 224/58) mit Urteil vom 23. Juli 1959 entschieden hat, steht zwar einem unehelichen Kinde nach dem Tode der versicherten Mutter grundsätzlich nur dann die Vollwaisenrente zu, wenn auch der uneheliche Vater erweislich verstorben ist (§ 1269 RVO). Dieser Grundsatz kann jedoch, wie der Senat in der genannten Entscheidung näher ausgeführt hat, dann nicht gelten, wenn der Vater des unehelichen Kindes nicht festgestellt ist. Denn es wäre in sich widerspruchsvoll, die Gewährung der höheren (Voll-) Waisenrente von dem Nachweis des Todes einer Person abhängig zu machen, wenn dieser Nachweis, weil die Person selbst unbekannt ist, niemals geführt werden kann. Um in diesen Fällen zu einem sinnvollen Ergebnis zu gelangen, ist daher auf den Grundgedanken des Gesetzes, insbesondere den Zweck der Vollwaisenrente zurückzugehen, den auch die Revision zutreffend darin erblickt, einen Ausgleich für fehlende Unterhaltsansprüche des Kindes aus dem Eltern- und Kindesverhältnis zu geben. Dieser Grundgedanke erfordert es, unehelichen Kindern, deren Vater nicht festgestellt ist, nach dem Tode der Mutter die Vollwaisenrente zu gewähren; denn solche Kinder haben ebenso wie „nachweisbare” Vollwaisen niemanden mehr, den sie als Vater oder Mutter auf Unterhalt in Anspruch nehmen können, mag ihr Unterhaltsanspruch gegen den – nicht festgestellten oder nicht einmal feststellbaren – Erzeuger von Rechts wegen auch noch bestehen und nur nicht durchsetzbar sein. Wirtschaftlich gesehen entspricht ihre Stellung derjenigen eines anderen Kindes, dessen Vater – vielleicht schon lange Jahre vor dem Tode der Mutter – gestorben ist. In beiden Fällen war das Kind vor Eintritt des Versicherungsfalles (Tod der Mutter) vielfach nur auf die Sorge der Mutter angewiesen, die häufig die Aufgabe des verstorbenen oder der Person nach nicht bekannten Vaters mitübernommen haben wird. Diese Gleichheit der für die Bemessung der Waisenrente maßgeblichen wirtschaftlichen Verhältnisse rechtfertigt es, ein uneheliches Kind, dessen Vater nicht festgestellt ist, nach Sinn und Zweck des § 1269 RVO einer Vollwaise gleichzustellen.

Eine andere Auslegung der genannten Vorschrift würde nach Ansicht des Senats auch mit dem – wenn auch unmittelbar nur an den Gesetzgeber gerichteten – verfassungsrechtlichen Gebot in Widerspruch stehen, daß den unehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft geschaffen werden sollen wie den ehelichen Kindern (Art. 6 Abs. 5 Bonner Grundgesetz). Gegen den Grundgedanken dieser Vorschrift würde verstoßen, wenn eine ganze – zahlenmäßig nicht geringe – Gruppe von unehelichen Kindern, nämlich diejenigen, deren Erzeuger nicht festgestellt ist, grundsätzlich von der Gewährung der Vollwaisenrente ausgeschlossen blieben. Das SG. hat der Klägerin, deren Erzeuger nicht festgestellt und deren Mutter bereits 1945 verstorben ist, die Vollwaisenrente vom Inkrafttreten der Rentenneuregelungsgesetze (1.1.1957) an sonach mit Recht zugesprochen.

Die Revision der beklagten LVA. war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostentscheidung beruht auf § 195 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Bogs, Richter, Dr. Schraft

 

Fundstellen

Dokument-Index HI671976

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