Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommensberücksichtigung. Pflegegeld für die Betreuung mehrerer Pflegekinder in Tagespflege. Anteil für den erzieherischen Einsatz. Ermittlung des Durchschnitts aller Erziehungsbeiträge. Mehrbedarf für Alleinerziehende

 

Leitsatz (amtlich)

Bezieht ein Leistungsberechtigter für mehrere Kinder Pflegegelder nach dem SGB VIII, so ist bei der Ermittlung des als Einkommen zu berücksichtigenden Erziehungsbeitrags von dem Durchschnitt der tatsächlich gezahlten Beträge auszugehen.

 

Orientierungssatz

Handelt es sich nur um eine Tagespflege gem § 23 SGB 8 und nicht um eine Vollzeitpflege mit Aufnahme der Pflegekinder in den Haushalt, so besteht kein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen Alleinerziehung.

 

Normenkette

SGB 2 § 11 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2006-12-05, Abs. 4 Fassung: 2006-12-05, § 11a Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Fassung: 2011-05-13, § 21 Abs. 3; SGB 8 § 23; SGB 8 § 39

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 16.06.2011; Aktenzeichen L 5 AS 49/08)

SG Hamburg (Urteil vom 09.04.2008; Aktenzeichen S 53 AS 580/07)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 16. Juni 2011 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Umstritten sind Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II), insbesondere die Berücksichtigung eines Teils von Tagespflegegeld nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) als Einkommen.

Die im Jahr 1959 geborene, alleinstehende Klägerin bezieht seit dem 1.1.2005 Arbeitslosengeld II (Alg II). Aufgrund von Verträgen vom 21.9.2004 mit einem Jugendamt der Stadt H betreut sie seit dem 1.10.2004 als Tagespflegekinder gemäß § 23 SGB VIII D. (geboren 31.12.1996), C. (geboren 26.9.2000) und J.-C. (geboren 3.9.2002). Im Jahr 2006 kam der am 5.2.2006 geborene J. hinzu. Alle Kinder sind Geschwister. Die Klägerin erhielt von September 2006 bis August 2007 monatlich folgende Leistungen vom Jugendamt: Für D. und C. jeweils Pflegegeld in Höhe von 228 Euro, einschließlich eines Erziehungsbeitrags - vom Landessozialgericht (LSG) "Erziehungsgeldanteil" genannt - von jeweils 118 Euro, für J.-C. ein Pflegegeld von 343 Euro, einschließlich eines Erziehungsbeitrags von 200 Euro, und für J. ein Pflegegeld von 403 Euro, einschließlich eines Erziehungsbeitrags von 260 Euro. Die Rechtsvorgängerin des beklagten Jobcenters bewilligte der Klägerin für die Zeit vom 1.1. bis 30.6.2007 Alg II in Höhe von monatlich 290,50 Euro. Es ging von einer Regelleistung von 345 Euro plus anteiligen Kosten der Unterkunft und Heizung von 299 Euro, insgesamt 644 Euro aus und setzte einen Betrag in Höhe von 353,50 Euro als Einkommen ab. Der Einkommensanrechnung zugrunde gelegt wurde ein Erziehungsbeitrag für alle Kinder von jeweils 202 Euro und dieser Betrag wurde einmal voll und einmal zu 75 % angesetzt (202 x 75 vH = 151,50 + 202 = 353,50; Bescheid vom 8.12.2006 idF des Änderungsbescheids vom 6.2.2007; Widerspruchsbescheid vom 14.2.2007).

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten unter Änderung der genannten Bescheide verurteilt, der Klägerin vom 1.1. bis 30.6.2007 monatlich weitere 49 Euro zu zahlen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 9.4.2008). Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 16.6.2011). Zur Begründung hat es unter Bezugnahme auf das Urteil des SG im Wesentlichen ausgeführt: Der Bedarf der Klägerin sei mit 644 Euro pro Monat zutreffend berechnet worden, dies hätten die Beteiligten mittels Teilvergleich unstreitig gestellt. Auf diesen Bedarf sei nach § 11 Abs 4 SGB II in der damals geltenden Fassung nur Einkommen in Höhe von 304,50 Euro monatlich anzurechnen. Zur Berechnung des zu berücksichtigenden Erziehungsbeitrags sei von dem Durchschnitt der tatsächlich zugeflossenen Erziehungsbeiträge auszugehen und nicht von der zeitlichen Reihenfolge der Pflegeverhältnisse der Kinder zur leistungsberechtigten Person. Ein Abstellen auf das Datum des Betreuungsvertrages führe zu keiner Lösung, wenn wie vorliegend mehrere von demselben Tag seien. Zudem erscheine es wenig sachgerecht, da dies bei unterschiedlich hohen Erziehungsbeiträgen zu zufälligen Ergebnissen führen könne. Sinn und Zweck des § 11 Abs 4 SGB II in der damaligen Fassung sei es vielmehr, den Betrag zu bestimmen, ab welchem die Lage der Erziehungsbeiträge erhaltenden leistungsberechtigten Person sich so günstig darstelle, dass SGB II-Leistungen nicht mehr gerechtfertigt seien. Auch der Gesetzgeber sei von gleich hohen Erziehungsbeiträgen ausgegangen (vgl BT-Drucks 16/1410 S 21). Mit den im Gesetz verwandten Begriffen "erstes", "zweites" usw Pflegekind werde keine Rangfolge gebildet, sondern lediglich die Anzahl der vereinnahmten Erziehungsbeiträge bestimmt und deren unterschiedliche Anrechnungsweise. Der durchschnittliche Erziehungsbeitrag der Klägerin liege bei 174 Euro (2 x 118 + 200 + 260 = 696 : 4), sodass als Einkommen für das dritte Kind 130 Euro (75 % von 174) und für das vierte Kind 174 Euro, insgesamt 304,50 Euro zu berücksichtigen seien. Dies führe zu einem weiteren Zahlbetrag von monatlich 49 Euro an die Klägerin (Bedarf 644 Euro abzüglich zu berücksichtigender Erziehungsbeiträge von 304,50 Euro, ergibt 339,50 Euro, abzüglich schon gezahlter 290,50 Euro, verbleiben 49 Euro).

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 11 Abs 4 SGB II in der damaligen Fassung und macht geltend: Entgegen der Auffassung des LSG könne für die Bestimmung des ersten, zweiten usw Pflegekindes nur das Datum des Betreuungsvertrages herangezogen werden, da diese Daten die tatsächliche Rangfolge und damit auch die anzurechnenden tatsächlich gezahlten Erziehungsbeiträge festlegten. Daher sei J. unstreitig das vierte Pflegekind. Die vom LSG angeführten Zufälligkeiten seien ähnlich wie bei Stichtagsregelungen hinzunehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 16. Juni 2011 und des Sozialgerichts Hamburg vom 9. April 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist auf verschiedene von dem Beklagten im Laufe des Verfahrens angewandte Berechnungsmodelle hin. Auch bestehe die Gefahr, dass die Kinder nach der Höhe der Erziehungsbeiträge ausgewählt würden, was aus pädagogischer und sozialpolitischer Sicht nicht wünschenswert sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG ist zurückzuweisen. Die Klägerin hat unter Abänderung des angefochtenen Bewilligungsbescheides vom 8.12.2006 idF des Änderungsbescheides vom 6.2.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.2.2007 gegen den Beklagten Anspruch auf weiteres Alg II in Höhe von 49 Euro monatlich für die Zeit vom 1.1. bis 30.6.2007.

Gegenstand des Revisionsverfahrens sind das die Berufung des Beklagten zurückweisende Urteil des LSG sowie das Urteil des SG, die Abänderung der angefochtenen Bescheide sowie die der Klägerin vom SG zugesprochenen weiteren 49 Euro Alg II pro Monat für die genannte Zeit. Dem Teilvergleich der Beteiligten vor dem LSG über das "Unstreitigstellen" des Bedarfs der Klägerin kann keine Beschränkung des Streitgegenstandes entnommen werden, weil dies an den genannten Entscheidungen und dem umstrittenen Betrag auch nach dem Willen der Beteiligten nichts ändert.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin geltend gemachten und vom SG und LSG zugesprochenen höheren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form von Alg II sind § 7 Abs 1 Satz 1, § 19 Satz 1, §§ 20, 22 Abs 1 Satz 2 SGB II. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II erfüllt die im Leistungsbezug nach dem SGB II stehende Klägerin wie dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG zu entnehmen ist.

Der Zahlbetrag von zumindest 49 Euro pro Monat in der strittigen Zeit ergibt sich aus einem Bedarf der Klägerin von 644 Euro (dazu 1) und einem zu berücksichtigenden Einkommen von 304,50 Euro (dazu 2), die als Differenz zumindest zu einem Alg II-Anspruch von 339,50 Euro führen, während der Beklagte in den entsprechend abzuändernden Bescheiden nur 290,50 Euro bewilligte (644 - 204,50 = 339,50 - 290,50 = 49). Inwieweit die Klägerin ggf Anspruch auf einen höheren Betrag hat, zB wegen der Rundungsregelung in § 41 Abs 2 SGB II in der in der strittigen Zeit geltenden Fassung aufgrund des Grundsicherungsfortentwicklungsgesetzes vom 20.7.2006 (BGBl I 1706 - GSiFoG), kann dahinstehen, weil nur der Beklagte, nicht aber die Klägerin Rechtsmittel eingelegt hat. Das SGB II ist hier in dieser damals geltenden Fassung anzuwenden, weil um Leistungen in einem abgeschlossenen Bewilligungszeitraum gestritten wird.

1. Der Bedarf der alleinstehenden Klägerin belief sich in der strittigen Zeit vom 1.1. bis 30.6.2007 auf monatlich 644 Euro.

a) Dies folgt nicht aus dem vom LSG angeführten Teilvergleich der Beteiligten über das "Unstreitigstellen" dieses Betrags. Denn die Höhe des Bedarfs ist neben der vorliegend zwischen den Beteiligten umstrittenen Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens ein wesentliches Element zur Berechnung des Anspruchs der Klägerin auf Alg II gegen den Beklagten.

Einzelne Berechnungselemente eines Anspruchs können jedoch nicht "herausverglichen" werden, wenn wie vorliegend - zu Recht - eine Anfechtungs- und Leistungsklage erhoben wurde und das LSG neben dem Gestaltungsausspruch hinsichtlich der angefochtenen Verwaltungsakte ein Leistungsurteil über einen bestimmten Betrag gefällt hat. Die Überlegungen zur ausnahmsweisen Zulässigkeit einer Elementfeststellungsklage (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 24.10.1996 - 4 RA 108/95 - SozR 3-2600 § 58 Nr 9 S 58) sind auf eine Leistungsklage nicht übertragbar.

Im Übrigen ist der Senat bei einer zulässigen Revision verpflichtet, das angefochtene Urteil im Rahmen der Anträge nicht nur hinsichtlich der erhobenen Rügen, sondern materiell-rechtlich umfassend zu überprüfen, speziell bei einem Anspruch auf Alg II hinsichtlich aller Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde und der Höhe nach (vgl § 170 Abs 1 Satz 2, § 202 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ iVm § 557 Abs 3 Zivilprozessordnung; vgl speziell zum SGB II: BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1 RdNr 18 ff mwN; BSG vom 2.7.2009 - B 14 AS 36/08 R - BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23 RdNr 13). Erklären die Beteiligten eines Rechtsstreits übereinstimmend, dass sie die Ermittlung zB des Bedarfs für zutreffend halten, so kann das Gericht hieraus im Rahmen seiner Beweiswürdigung den Schluss ziehen, dass eine weitere Überprüfung der entsprechenden Feststellungen der Verwaltung entbehrlich ist.

b) Die Höhe des Bedarfs der Klägerin errechnet sich aufgrund der Feststellungen des LSG wie folgt: Die Regelleistung für alleinlebende Personen, wie die Klägerin, betrug in der strittigen Zeit 345 Euro (§ 20 Abs 2 SGB II idF des SGB II-Änderungsgesetzes vom 24.3.2006, BGBl I 558). Als Leistungen für Unterkunft und Heizung sind gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II 249 Euro zu erbringen. Mehr hat die Klägerin als tatsächliche Aufwendungen, soweit ersichtlich, nicht geltend gemacht und Bedenken gegen die Angemessenheit dieses Betrages in einer Großstadt wie H bestehen nicht, zumal der Beklagte insofern keine Rügen erhoben hat. Weitere Bedarfe sind den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen und seitens der Beteiligten wurden keine dahingehenden Rügen erhoben. Insbesondere besteht kein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen Alleinerziehung nach § 21 Abs 3 SGB II, weil es sich nur um eine Tagespflege und nicht um eine Vollzeitpflege mit Aufnahme der Pflegekinder in den Haushalt wie im Urteil des Senats vom 27.1.2009 (B 14/7b AS 8/07 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 4) handelte.

2. Diesem Bedarf ist ein zu berücksichtigendes Einkommen von 304,50 Euro monatlich gemäß § 9 Abs 1, § 11 SGB II gegenüberzustellen. Zu berücksichtigendes Vermögen (§ 9 Abs 1, § 12 SGB II) kann den Feststellungen des LSG nicht entnommen werden.

Als Einkommen sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen mit Ausnahme bestimmter Leistungen, wie zB der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (§ 11 Abs 1 Satz 1 SGB II in der damaligen Fassung). Die allein festgestellten Einnahmen der Klägerin in Form des Tagespflegegeldes für die Pflegekinder nach § 23 SGB VIII, gezahlt von der Stadt H, sind grundsätzlich zu berücksichtigen, weil sie nicht unter die dort aufgeführten Ausnahmen fallen.

Nach dem in der strittigen Zeit geltenden § 11 Abs 4 SGB II wird als Einkommen jedoch "abweichend von den Absätzen 1 bis 3 … der Teil des Pflegegeldes nach dem Achten Buch, der für den erzieherischen Einsatz gewährt wird,

1. für das erste und zweite Pflegekind nicht,

2. für das dritte Pflegekind zu 75 vH,

3. für das vierte und jedes weitere Pflegekind in voller Höhe

berücksichtigt." Der Teil des Pflegegeldes, der für den erzieherischen Einsatz gewährt wird, wird im Folgenden ebenso wie in der Ausgangsentscheidung des BSG (Urteil vom 29.3.2007 - B 7b AS 12/06 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 3) und in der Gesetzesbegründung für diese Regelung (BT-Drucks 16/1410 S 21) als "Erziehungsbeitrag" bezeichnet.

Dass es sich bei dem Pflegegeld für die Tagespflege nach § 23 SGB VIII um Pflegegeld im Sinne dieser Vorschrift handelt, wird schon aus der nun differenzierten Formulierung in der Nachfolgevorschrift des § 11a Abs 3 Satz 2 SGB II idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB II und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453) deutlich. Dass nur der Erziehungsbeitrag und nicht das gesamte Pflegegeld als Einkommen zu berücksichtigen ist, folgt aus dem Wortlaut des § 11 Abs 4 SGB II in der früheren Fassung. Die Nicht-Berücksichtigung des Erziehungsbeitrags für ein erstes und zweites Pflegekind als Einkommen ist zwischen den Beteiligten ebenso wenig umstritten, wie die Berücksichtigung des Erziehungsbeitrags für ein drittes zu 75 % und eines Erziehungsbeitrags für ein viertes zu 100 %. Davon geht auch das LSG zu Recht in seinem Urteil aus.

Hinsichtlich der umstrittenen Feststellungen der als Einkommen zu berücksichtigenden Erziehungsbeiträge für das dritte Kind mit 130,50 Euro (75 % von 174) und für das vierte Kind von 174 Euro, insgesamt 304,50 Euro, ist dem LSG ebenfalls entgegen dem Vorbringen der Revision zu folgen.

Das LSG hat zu Recht den Durchschnitt aller Erziehungsbeiträge, die die Klägerin für ihre vier Pflegekinder erhalten hat, der Berechnung des zu berücksichtigenden Einkommens zugrunde gelegt und diesen mit 174 Euro zutreffend berechnet (≪118 + 118 + 200 + 260≫: 4 = 174). Denn die für die Auffassung des Beklagten notwendige Reihung und Rangfolgenbildung mit der Bestimmung eines ersten bis vierten Pflegekindes ist dem Wortlaut des § 11 Abs 4 SGB II in der damaligen Fassung nicht zu entnehmen und steht im Widerspruch zu dessen systematischer und teleologischer Auslegung sowie der Gesetzesbegründung.

Der Wortlaut des § 11 Abs 4 SGB II aF mit den Begriffen "erstes", "zweites", "drittes", "viertes" beinhaltet nicht zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge der Pflegekinder, sondern zunächst nur eine Regelung über das Ausmaß der anzurechnenden Erziehungsbeiträge. Im Übrigen würde eine zeitliche Reihenfolge ein Kriterium für diese Reihung aufstellen, das dem Gesetz nicht zu entnehmen ist und hinsichtlich dessen keine Klarheit besteht. Während die Revisionsbegründung auf das Datum des Betreuungsvertrages abstellen will (ebenso ohne weitere Begründung: Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, Stand 6/2010, K § 11 RdNr 732), will das von der Revision angeführte LSG Mecklenburg-Vorpommern den Betreuungsbeginn zum Maßstab machen (Urteil vom 18.12.2008 - L 8 AS 60/08 - RdNr 84). Beide Kriterien müssen aber nicht zu derselben zeitlichen Reihenfolge führen. Welchem der Vorzug zu geben ist, kann dem Gesetz nicht entnommen werden, zumal auch ein Abstellen auf das Alter der Kinder als dritte Möglichkeit denkbar erscheint (so für die Anrechnung von Kindergeld: Hasske in Estelmann, SGB II, Stand 4/2008, § 11 RdNr 130).

Gegen eine solche Reihung oder Rangfolge sprechen systematische Gründe und der Zweck der Regelung.

Denn unter systematischen Gründen muss der Zusammenhang mit § 11 Abs 3 SGB II in der damaligen Fassung über die als Einkommen nicht zu berücksichtigenden zweckbestimmten Einnahmen beachtet werden, der für das Urteil des BSG vom 29.3.2007 (B 7b AS 12/06 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 3) entscheidend war, das nachfolgend zu § 11 Abs 4 SGB II in der hier einschlägigen Fassung führte. In diesem Urteil, das Leistungen vor dem Inkrafttreten dieser Fassung des § 11 Abs 4 SGB II betraf, hat das BSG den Erziehungsbeitrag, wenn in einem Haushalt nur bis zu zwei Pflegekinder betreut werden, als nicht zu berücksichtigende zweckbestimmte Einnahme nach § 11 Abs 3 Nr 1 Buchst a SGB II angesehen (bestätigt durch BSG vom 1.7.2009 - B 4 AS 9/09 R - SGb 2010, 367 mit Anmerkung Münder). Auf der andere Seite wurde in dem Urteil vom 29.3.2007 schon auf die "Gerechtfertigkeitsprüfung" gemäß § 11 Abs 3 SGB II in der früheren Fassung hingewiesen, nach der eine zweckbestimmte Einnahme als Einkommen zu berücksichtigen ist, wenn sie die Lage der leistungsberechtigten Person so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären (BSG vom 29.3.2007, aaO, RdNr 21). In die Gesetzesbegründung zur Schaffung des § 11 Abs 4 SGB II idF des GSiFoG wurden diese Überlegungen übernommen (BT-Drucks 16/1410 S 21).

Zweck der Regelung ist es, aufgrund dieses Zusammenhangs bei bis zu zwei Kindern die Erziehungsbeiträge nicht als Einkommen zu berücksichtigen und bei einer größeren Anzahl von Kindern den gesamten Erziehungsbeitrag nur zu einem Teil zu berücksichtigen, weil dann die Grenze des nicht zu berücksichtigenden Einkommens auch im Hinblick auf die so genannte Gerechtfertigkeitsprüfung überschritten ist.

Diese Grenze kann jedoch nicht von Zufälligkeiten abhängen, sondern muss aufgrund des Gleichheitssatzes aus Art 3 Abs 1 Grundgesetz in vergleichbaren Situationen auch zu vergleichbaren Ergebnissen führen. Dies wird jedoch nur gewährleistet, wenn auf den Durchschnitt der jeweils gezahlten Erziehungsbeiträge abgestellt wird und nicht auf den Erziehungsbeitrag für das jeweilige Kind, das mehr oder weniger zufällig als das vierte Kind gerechnet wird. Die Zufälligkeit der Ergebnisse zeigt auch der vorliegende Fall, in dem der Erziehungsbeitrag für den nach Auffassung des Beklagten unstreitig als viertes Kind anzusehenden J. 260 Euro beträgt. Wenn jedoch D. oder C. als viertes Kind zu berücksichtigen wären, läge der als Einkommen voll zu berücksichtigende Erziehungsbeitrag bei nur 118 Euro. Dies ist entgegen der Auffassung der Revision und des von ihr angeführten Urteils des LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 18.12.2008 (L 8 AS 60/08) nicht nur eine Zufälligkeit wie bei Stichtagsregelungen, sondern ein systematisches Problem von unterschiedlichen Grenzen bei der Gerechtfertigkeitsprüfung trotz sonst vergleichbarer Lage.

Des Weiteren würde eine Reihung der Pflegekinder zB nach dem Datum der Betreuungsverträge weitere Abgrenzungsfragen aufwerfen und im Widerspruch zu den Zielen des SGB VIII stehen, die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Ggf könnte versucht werden, durch die Beendigung des alten Vertrages und den Abschluss eines neuen Vertrages die Reihenfolge zu ändern oder auch durch andere Strategien die Erziehungsbeiträge für das erste und das zweite Pflegekind zu optimieren.

Im Übrigen ging auch die Gesetzesbegründung von einem solchen einheitlichen Betrag für die Erziehungsbeiträge aus, wie der Bezugnahme auf die Empfehlung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge eV mit 202 Euro pro Kind und Monat zu entnehmen ist (BT-Drucks 16/1410 S 21) und dem das Abstellen auf den Durchschnitt der Erziehungsbeiträge Rechnung trägt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3082315

NZS 2012, 912

SGb 2012, 466

info-also 2012, 232

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