Leitsatz (redaktionell)

Bei der Erteilung eines Zugunstenbescheides nach KOF-VfG § 40 Abs 1 ist die Verwaltungsbehörde befugt, nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen darüber zu entscheiden, von welchem Zeitpunkt an die gegenüber dem früheren unrichtigen Bescheid günstigere Regelung einsetzen soll.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Auf die Sprungrevision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 8. November 1967 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid vom 24. März 1966 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 1966 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Versorgungsbehörde gewährte dem Kläger mit Umanerkennungsbescheid vom 25. Mai 1951 wegen Teilverlustes des rechten Oberschenkels vom 1. Oktober 1950 an nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. Sie lehnte den im April 1964 vom Kläger gestellten Antrag auf Gewährung der Rente nach einer höheren MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG im Wege eines Zugunstenbescheides mit Bescheid vom 4. August 1964 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. November 1964). Das Sozialgericht (SG) erließ am 5. Mai 1965 folgendes Urteil: "Unter Aufhebung des Bescheides vom 4.8.1964 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.11.1964 wird das beklagte Land verurteilt, Berufsförderungsmaßnahmen bei dem Kläger mit dem Ziel einzuleiten, daß er in eine Stelle des öffentlichen Dienstes nach TOA V b mit der Aufstiegsmöglichkeit nach TOA IV b oder eine gleichwertige Stellung vermittelt wird. Soweit diese Berufsförderungsmaßnahmen aus Gründen, die der Kläger nicht zu vertreten hat, fehlschlagen, ist das beklagte Land verpflichtet, dem Kläger im Wege eines Zugunstenbescheides, unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit, ab 1.10.1950 Versorgung gemäß einer EM von 80 % zu gewähren." In dem nachfolgenden Berufungsverfahren schlossen die Beteiligten am 13. Januar 1966 einen Vergleich, in dem sich der Beklagte verpflichtete, unter Berücksichtigung des Beweisergebnisses der ersten Instanz in eine erneute Prüfung einzutreten, ob die Rente des Klägers im Zugunstenwege erhöht werden könne, und den Kläger nach erfolgter Prüfung auf seinen Antrag vom April 1964 entsprechend neu zu bescheiden. Der Kläger nahm daraufhin seine Klage zurück.

Nunmehr erteilte die Versorgungsbehörde den Bescheid vom 24. März 1966, mit dem sie den Bescheid vom 25. Mai 1951 insoweit abänderte und vom 1. Januar 1960 an Versorgungsbezüge nach einer MdE um 80 v.H. gewährte. Sie führte hierzu aus, daß der Kläger nicht mehr in der Lage sei, aufgrund seiner Schädigungsfolge den Beruf eines Gartenbautechnikers auszuüben, so daß er im Vergleich zu seiner jetzigen Tätigkeit als Verwaltungsangestellter beruflich besonders betroffen sei. Eine weitergehende Rückwirkung der Erhöhung der MdE über den 1. Januar 1960 hinaus lehnte die Versorgungsbehörde unter Hinweis auf die Verwaltungsvorschriften (VV) Nr. 8 zu § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1966).

Das SG hat mit Urteil vom 8. November 1967 unter Abänderung des Bescheides vom 24. März 1966 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 1966 den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. Oktober 1950 Versorgung gemäß einer EM von 80 v.H. zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, es könne der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht folgen, daß dem Beklagten im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG ein Ermessensspielraum bei der Frage zustehe, ob und von welchem Zeitpunkt an er nach dieser Vorschrift einen Zugunstenbescheid erteile. Der Beklagte sei vielmehr verpflichtet, dann einen Zugunstenbescheid zu erteilen, wenn er die Rechtswidrigkeit der früheren bindend gewordenen Entscheidung erkannt habe oder hätte erkennen können. Diese Verpflichtung bestehe auch hinsichtlich der Frage, von welchem Zeitpunkt an die günstigere Regelung vorgenommen werden solle. Der Beklagte dürfe die Rückwirkung nicht auf einen Zeitraum von vier Jahren beschränken. Durch § 40 Abs. 1 VerwVG habe der Gesetzgeber der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor der Rechtssicherheit gegeben. Diese materielle Gerechtigkeit sei aber unteilbar. Liege ein Fall des § 40 Abs. 1 VerwVG vor, so ergebe sich daraus, daß der bisherige bindende Bescheid unrichtig, also rechtswidrig sei. Er müsse demzufolge zurückgenommen werden und an seine Stelle müsse der neue Zugunstenbescheid auch zeitlich in vollem Umfang treten. Da beim Kläger seit dem Inkrafttreten des BVG, dem 1. Oktober 1950, zu Unrecht ein besonderes berufliches Betroffensein verneint worden sei, habe er von diesem Zeitpunkt an somit einen Anspruch auf die höhere Rente nach einer MdE von 80 v.H. Der Begriff der Rechts- und Sozialstaatlichkeit, wie er sich aus Art. 20 des Grundgesetzes (GG) ergebe, bedeute die volle Erfüllung aller rechtmäßigen Ansprüche auf dem Gebiete des Sozialrechts.

Dem Anspruch des Klägers stehe auch nicht die vom Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen, weil § 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auf Versorgungsansprüche keine entsprechende Anwendung finde.

Das SG hat die Berufung zugelassen.

Gegen dieses ihm am 24. November 1967 zugestellte Urteil hat der Beklagte unter Beifügung der Zustimmungserklärung des Klägers mit einem am 18. Dezember 1967 beim BSG eingegangenen Schriftsatz vom 15. Dezember 1967 Sprungrevision eingelegt und diese mit einem am 22. Januar 1968 beim BSG eingegangenen Schriftsatz vom 19. Januar 1968 begründet.

Er beantragt zu erkennen:

"Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des SG Duisburg vom 8. November 1967 geändert und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind - auch im ersten Rechtszug - nicht zu erstatten."

Der Beklagte rügt eine Verletzung der §§ 54 Abs. 2 Satz 2, 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie der §§ 24 und 40 Abs. 1 VerwVG; ferner rügt er eine Verletzung des § 197 BGB durch das SG. Er führt hierzu insbesondere aus, es sei zwar richtig, daß er verpflichtet sei, dann einen Zugunstenbescheid im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG zu erteilen, wenn die frühere bindend gewordene Regelung des Versorgungsrechtsverhältnisses unzutreffend sei. Das SG habe jedoch verkannt, daß ihm - dem Beklagten - bei der Frage, von welchem Zeitpunkt an die neue günstigere Regelung gelten solle, ein Ermessensspielraum zustehe. Dies ergebe sich aus dem Wort "kann" in § 40 Abs. 1 VerwVG. Er habe von seinem Ermessen im Rahmen der VV Nr. 8 zu § 40 Abs. 1 VerwVG insoweit Gebrauch gemacht, als er die MdE des Klägers wegen besonderen beruflichen Betroffenseins in Höhe von 80 v.H. statt bisher 70 v.H., vier Jahre rückwirkend vom Antrag des Klägers an gerechnet, festgesetzt habe. Ein Ermessensfehlgebrauch oder eine Willkür sei insoweit nicht zu ersehen. Das SG habe somit § 40 Abs. 1 VerwVG verletzt; gleichermaßen § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG, denn es habe sein Ermessen nicht an die Stelle des der Versorgungsbehörde zustehenden Ermessens setzen und daher den Beklagten nicht verurteilen dürfen, die Neuregelung vom Inkrafttreten des BVG, also vom 1. Oktober 1950 an, vorzunehmen. Ebenso habe das SG § 197 BGB verletzt. Es habe verkannt, daß auch bei Versorgungsansprüchen die Vorschriften über die Verjährung nach dem BGB entsprechend anzuwenden seien. Wegen seines weiteren Vorbringens wird auf die Revisionsbegründung des Beklagten vom 19. Januar 1968 verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen und den Beklagten zu verurteilen, ihm die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahren zu erstatten.

Er ist der Auffassung, daß die Entscheidung des SG zutreffend ist und bezieht sich insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils. Zur Darstellung seines Vorbringens wird auf die Revisionserwiderung vom 12. Februar 1968 verwiesen.

Da das Urteil des SG durch die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG mit der Berufung anfechtbar war, ist auch die Sprungrevision gegen das Urteil des SG zulässig, die der Beklagte unter Vorlage der schriftlichen Einwilligungserklärung des Klägers form- und fristgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet hat (§§ 161, 164, 166 SGG). Sie ist auch begründet.

Zwischen den Beteiligten ist nur streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG die Rente des Klägers wegen besonderen beruflichen Betroffenseins im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG bereits vom 1. Oktober 1950 an und nicht, wie in dem angefochtenen Bescheid geschehen, vom 1. Januar 1960 an von 70 v.H. auf 80 v.H. zu erhöhen. Die vom SG vertretene Auffassung, daß der Versorgungsbehörde im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG bei der Prüfung der Frage, von welchem Zeitpunkt an die in dem Zugunstenbescheid getroffene günstigere Regelung beginnen soll, kein Ermessen zusteht, sondern sie verpflichtet ist, den Zugunstenbescheid auch zeitlich an die Stelle des früheren unrichtigen Bescheides zu setzen, kann nicht gebilligt werden. Das SG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG die Verwaltungsbehörde dann nicht die Berichtigung versagen darf, wenn die Überprüfung eines früheren bindend gewordenen Bescheides ergibt, daß dieser der materiellen Rechtslage widerspricht (s. dazu BSG 26, 146). Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom 14. März 1967 (aaO) hierzu mit näherer Begründung ausgeführt, daß die der Verwaltungsbehörde erteilte Ermächtigung in § 40 Abs. 1 VerwVG dort ihre Grenze findet, wo die Ablehnung eines Zugunstenbescheides dem materiellen Recht und damit der Gerechtigkeit widerspricht. Wenn die Verwaltungsbehörde nach § 40 Abs. 1 VerwVG zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen "kann", so ist damit vom Gesetzgeber für die Verwaltung verbindlich angeordnet, daß ihre Bindung an Recht und Gesetz, die sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, im Falle der Kollision eines bindend gewordenen rechtswidrigen Bescheides mit einem dem Versorgungsberechtigten günstigeren Versorgungsrecht die Realisierung dieses Rechts, nicht aber ein Festhalten an der Bindung, erfordert. Steht demnach fest, daß ein früherer bindend gewordener Bescheid unrichtig ist, so besteht für die Verwaltungsbehörde keine Wahl, entweder zugunsten des Berechtigten nach § 40 Abs. 1 VerwVG einen neuen Bescheid zu erteilen oder davon Abstand zu nehmen. Sie ist dann verpflichtet, einen der materiellen Rechtslage entsprechenden neuen Bescheid zu erteilen, so daß insoweit für ein Ermessen der Verwaltungsbehörde kein Raum mehr besteht (BSG 26, 146, 149). Im vorliegenden Fall ist die Verwaltungsbehörde dieser Verpflichtung auch nachgekommen, denn sie hat dem Kläger auf seinen Antrag vom April 1964 den angefochtenen Bescheid vom 24. März 1966 erteilt, mit dem sie die Rente für die anerkannten Schädigungsfolgen nach einer MdE um 80 v.H. festgesetzt hat, weil die früheren verbindlich gewordenen Bescheide, in denen die MdE wegen der anerkannten Schädigungsfolgen mit 70 v.H. bezeichnet worden war, unrichtig waren.

Entgegen der Auffassung des SG ist die Verwaltungsbehörde bei der Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 VerwVG befugt, nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen darüber zu entscheiden, von welchem Zeitpunkt an die gegenüber dem früheren unrichtigen Bescheid günstigere Regelung einsetzen soll.

Der erkennende Senat hat in der oben zitierten Entscheidung (siehe dazu BSG 26, 150 ff) aus Wortlaut, Sinn und Zweck des § 40 Abs. 1 VerwVG gefolgert, daß der Verwaltungsbehörde bei der Frage, von welchem Zeitpunkt an die günstigere Regelung zu treffen ist, ein Ermessen zusteht. Der § 40 Abs. 1 VerwVG verpflichtet die Verwaltungsbehörde nicht, die Neuregelung auch zeitlich rückwirkend "an die Stelle" der früheren Regelung zu setzen. Der Wortlaut des § 40 Abs. 1 VerwVG, in dem es heißt, daß die Verwaltungsbehörde "jederzeit" zugunsten des Berechtigten einen neuen Bescheid erteilen "kann", schränkt weder das Recht der Verwaltungsbehörde ein, darüber zu bestimmen, von welchem Zeitpunkt an die neue Regelung eintreten soll, noch wird dadurch die Verwaltungsbehörde verpflichtet, von einem bestimmten Zeitpunkt an die günstigere Regelung zu treffen. Sie kann daher über die zeitliche Wirkung des von ihr erlassenen Zugunstenbescheides nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden. Dem steht auch nicht der Grundsatz der "Gesetzmäßigkeit" der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG entgegen. Dieser Grundsatz besagt nicht, daß die Verwaltung allein die materiell-rechtlichen Gesetze zu beachten hat, sondern daß sie "alle" Gesetze beachten muß, auch diejenigen, die die Bindungswirkung von Verwaltungsakten und die Rechtskraft von Urteilen betreffen (§ 77 SGG, § 24 VerwVG) und Garanten der Rechtssicherheit darstellen. Damit ist die Verwaltungsbehörde in doppelter Hinsicht gebunden, einerseits ist sie verpflichtet, im Einzelfall materiell-rechtlich richtig zu handeln, andererseits ist sie auch gehalten, die formellen Gesetze, die der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden dienen, zu beachten. Bei einer Kollision dieser beiden Grundsätze, wie sie immer bei einer Änderung verbindlich gewordener Entscheidungen auftritt, hält sich daher die Verwaltungsbehörde mangels einer sich aus dem Gesetz ergebenden besonderen Regelung für den Ausgleich zwischen den beiden Grundsätzen im Rahmen des ihr nach § 40 Abs. 1 VerwVG eingeräumten Ermessens, wenn sie der Bindungswirkung gegenüber der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit zeitlich den Vorzug gibt. Keinesfalls ist bei einer solchen Kollision immer der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit mit einer auch für die Vergangenheit aufhebenden Wirkung der Gebundenheit der Vorzug zu geben. Hierzu hat der erkennende Senat auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Band 7, 194, 196 verwiesen (siehe dazu auch § 79 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, besteht kein Anlaß; dies um so weniger, als alle Kriegsopfersenate des BSG und auch die früher in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung zuständig gewesenen (7. und 11. Senat) diese Rechtsauffassung vertreten (siehe dazu 7. Senat, BSG 15, 140; 8. Senat, Urteil vom 14. Dezember 1966 - 8 RV 185/65 - und vom 26. Januar 1967 - 8 RV 407/64 -; 9. Senat, BSG 19, 268, 287; Urteil vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67 -; 11. Senat, BSG 19, 12). Der erkennende Senat hat sich ferner in seinem Urteil vom 21. Juni 1968 (10 RV 906/66) und zuletzt der 9. Senat in seinem Urteil vom 21. März 1969 (9 RV 476/67) nochmals eingehend mit der gegen die Rechtsprechung des BSG gerichteten und insbesondere in KOV 1967, 33, 49 ff und KOV 1968, 49 ff veröffentlichten Gegenmeinung auseinandergesetzt. Bei der gegen die Auffassung des BSG vertretenen Meinung, wonach die Verwaltungsbehörde die günstigere Regelung nach § 40 Abs. 1 VerwVG stets "an die Stelle" der früheren bindend gewordenen rechtswidrigen Entscheidung treten lassen müsse, wenn diese offenbar unrichtig war und dem materiellen Recht widersprach, wird verkannt, daß in § 40 Abs. 1 VerwVG die Verwaltungsbehörde die Zugunstenregelung treffen "kann". Dieses Wort "kann" würde zu einem "ist" umgedeutet werden, ohne daß sich eine solche gesetzesändernde Interpretation aus Sinn und Zweck des § 40 Abs. 1 VerwVG zwingend ergibt. Der Hinweis des SG auf Vorschriften der Reichsversicherungsordnung und des Angestelltenversicherungsgesetzes greift schon deshalb nicht durch, weil in den entsprechenden Vorschriften der Sozialversicherung bereits ihrem Wortlaut nach eine Verpflichtung zur Berichtigung enthalten ist, während nach § 40 Abs. 1 VerwVG die Verwaltungsbehörde nur eine Zugunstenregelung treffen "kann" (siehe dazu BSG 26, 152, 153). Ebenso greift der vom SG hervorgehobene Gesichtspunkt der "Sozialstaatlichkeit" des Art. 20 Abs. 3 GG gegenüber der vom BSG vertretenen Auffassung nicht durch. Abgesehen davon, daß einem einzelnen allein aus dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit noch kein verfolgbarer Anspruch gegen den Staat erwächst (BSG 15, 1, 8), verkennt das SG, daß die Sozialstaatlichkeit ohne den Grundsatz der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nicht denkbar ist und daß die Rechtssicherheit nicht nur einseitig der im Staat verkörperten Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen Rechte einräumt, sondern daß mindestens ebenso dadurch der Einzelne gegenüber Zugriffen des Staates abgesichert werden soll. Gerade im Hinblick auf die Sozialstaatlichkeit erscheint das mit der Interpretation des § 40 Abs. 1 VerwVG seitens des BSG verbundene Ergebnis aus rechtspolitischen Erwägungen gerechtfertigt; denn es schafft einen Ausgleich in dem Konflikt zwischen den beiden auch mit der Sozialstaatlichkeit verbundenen Gedanken der Durchsetzung des materiellen Rechts und der Rechtssicherheit. Es muß nämlich in einem solchen Falle die dem Staat günstigere Durchsetzung der Rechtssicherheit der materiellen Gerechtigkeit zwar grundsätzlich weichen, jedoch muß das dem Beschädigten günstige Prinzip der materiellen Gerechtigkeit erst von dem Zeitpunkt an zum Zuge kommen, den die Verwaltungsbehörde unter pflichtgemäßer Abwägung aller Umstände zu bestimmen hat (Urteil des erkennenden Senats vom 11. Juni 1968 - 10 RV 906/66 -). Im § 40 Abs. 1 ist ein "Vorrang der materiellen Gerechtigkeit" gerade nicht unbedingt eingeräumt, sondern der Ausgleich dieses Grundsatzes mit dem Grundsatz des Rechtsfriedens für den Einzelfall in das Ermessen der Verwaltungsbehörde gelegt. Soweit hierzu der Kläger meint, es sei darin die Unteilbarkeit der materiellen Gerechtigkeit nicht gewahrt, muß ihm entgegengehalten werden, daß mit der Regelung, wie sie in § 40 Abs. 1 VerwVG gem. der Auslegung des erkennenden Senats getroffen ist, nicht das materielle Recht geteilt wird, sondern nur bestimmt wird, von wann an das volle materielle Recht zum Zuge kommen und an die Stelle desjenigen Rechts treten soll, das bisher fälschlich als das materielle Recht betrachtet worden ist bzw. betrachtet werden mußte.

Ist also davon auszugehen, daß der Versorgungsbehörde bei der Festsetzung der zeitlichen Wirkung einer Zugunstenregelung im Rahmen des § 40 Abs. 1 VerwVG ein Ermessen darüber zusteht, den Beginn dieser günstigeren Regelung zu bestimmen, so war der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 24. März 1966 befugt, die Erhöhung der MdE vom 1. Januar 1960 an festzusetzen. Als Ermessen der Verwaltung wird allgemein das rechtlich begründete Vermögen angesehen, bei Ausübung hoheitlicher Befugnisse zwischen mehreren Verhaltensweisen nach eigenem Abwägen wählen zu können. Dieses Vermögen zu wählen findet seine Grenze dort, wo das gewählte Handeln zur Willkür wird oder gegen verfassungsrechtliche Grundsätze verstößt (BSG 26, 153). Die Versorgungsbehörde hat die Festsetzung des Zeitpunkts der Zugunstenregelung im vorliegenden Fall im Rahmen der VV Nr. 8 zu § 40 Abs. 1 VerwVG vorgenommen. Diese Verwaltungsvorschrift sieht vor, daß in der Regel an der Bindung des früheren Bescheides festzuhalten ist und erst vom Antragsmonat an die Wirkung der günstigeren Regelung einsetzen soll, wenn nicht nach Lage des Falles unter sorgfältiger Abwägung aller Umstände ein rückwirkender Eintritt der Neuregelung - bis zu vier Jahren - geboten ist. Die Versorgungsbehörde hat in dem angefochtenen Bescheid den Beginn der für den Kläger günstigeren Regelung - nämlich die Erhöhung der Rente nach einer MdE um 80 v.H. statt bisher 70 v.H. - auf den 1. Januar 1960 festgesetzt; damit hat sie aufgrund des ihr nach § 40 Abs. 1 VerwVG eingeräumten Ermessens innerhalb des in der VV Nr. 8 zu dieser Vorschrift festgelegten zeitlichen Rahmens der günstigeren Regelung eine Rückwirkung von vier Jahren gegeben, gerechnet vom Beginn des Jahres (1964), in dem der Kläger den Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides gestellt hat. Irgendwelche Tatsachen, die es rechtfertigen, daß die Zugunstenregelung vor dem im angefochtenen Bescheid bezeichneten Zeitpunkt, dem 1. Januar 1960, von der Verwaltungsbehörde vorgenommen werden muß, sind weder vom Kläger vorgetragen noch vom SG festgestellt worden. Somit ist nicht ersichtlich, daß die Verwaltungsbehörde bei der Festsetzung des Zeitpunktes, von dem an die günstigere Regelung beginnen soll, von dem ihr nach § 40 Abs. 1 VerwVG insoweit eingeräumten Ermessen pflichtwidrig Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Bei dieser Sach- und Rechtslage kommt es nicht mehr darauf an, ob der Beklagte sich auf die Verjährung unter entsprechender Anwendung des § 197 BGB berufen kann oder nicht (siehe dazu aber BSG 19, 88 und Urteil des 9. Senats des BSG vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67 -). Das SG hat somit § 40 VerwVG verletzt, so daß die Revision begründet ist. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da der angefochtene Bescheid - wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt - rechtmäßig ist, mußte die Klage als unbegründet abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284808

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