Leitsatz (amtlich)

Bescheide über Ermessensleistungen können im Geltungsbereich des KOV-VfG zu Ungunsten des Berechtigten nur nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts berichtigt werden.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Es besteht keine Veranlassung, von der Rechtsprechung des BSG abzuweichen, nach der mit "neuer Ehe" in § 44 Abs 4 BVG aF immer nur die erste Ehe nach dem Tode des an der Schädigung Verstorbenen gemeint ist und daß eine Fortsetzung der "Versorgungskette" über einen dritten und weiteren Ehemann hinaus mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht vereinbar wäre (vgl BSG vom 1960-04-28 8 RV 1341/58 = BSGE 12, 127, 132, BSG vom 1961-11-16 7/9 RV 306/60 = BSGE 15, 246, 247, BSG vom 1962-06-19 11 RV 32/62 = BSGE 17, 120, 121).

2. Rechtswidrig ist ein Bescheid, wenn er objektiv nicht im Einklang mit dem nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu ermittelnden Inhalt einer Norm steht, ohne daß es noch darauf ankommt, ob es sich um einen "offensichtlichen" Verstoß handelt.

 

Normenkette

KOVVfG § 41 Fassung: 1955-05-02; BVG § 44 Abs. 4 Fassung: 1956-06-06

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. März 1960 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin war in erster Ehe mit A B verheiratet, der 1942 gefallen ist. Ihre zweite 1946 geschlossene Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10. Juni 1948 aus Verschulden des Mannes, ihre dritte 1951 mit A. B. eingegangene Ehe durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10. Dezember 1953 aus beiderseitigem, aber überwiegendem Verschulden des Mannes geschieden. Nach Inkrafttreten des Fünften Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 6. Juni 1956 (BGBl I 463) bewilligte der Beklagte der Klägerin durch den auf § 44 Abs. 4 BVG gestützten Bescheid vom 28. November 1956 ab 1. April 1956 als "Kannbezug" eine Beihilfe von 50,- DM monatlich. Mit Zustimmung des Landesversorgungsamtes (LVersorgA) entzog er durch Bescheid vom 2. Juli 1957 die Beihilfe mit Wirkung vom 31. Juli 1957, weil eine Beihilfe der Witwe nur nach Auflösung der ersten nach dem Tode des Beschädigten geschlossenen Ehe habe gewährt werden können und somit nach Eingehung der zweiten Ehe die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beihilfe weggefallen seien. Der Beklagte verzichtete auf die Rückforderung der bis zum 31. Juli 1957 gewährten Bezüge. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Das Sozialgericht (SG) Heilbronn hob mit Urteil vom 8. Mai 1958 den Widerspruchsbescheid vom 1. Oktober 1957 auf und verurteilte den Beklagten, über den 31. Juli 1957 hinaus Witwenbeihilfe in Höhe von 50,- DM monatlich zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg wies durch Urteil vom 24. März 1960 die Berufung des Beklagten zurück. § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) regele nur die Zurücknahme von Bescheiden über Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch bestehe. Da die Witwenbeihilfe eine Kann-Leistung sei, habe der Bescheid vom 28. November 1956 nicht nach § 41 VerwVG zurückgenommen werden können. Die Rücknahme sei auch nicht nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts rechtmäßig gewesen, denn der Bewilligungsbescheid habe einer zwingenden Rechtsvorschrift nicht offensichtlich widersprochen. Zwar sei nach der Auffassung des Senats unter der neuen Ehe im Sinne des § 44 BVG nur die erste Ehe der Witwe nach dem Tode des Beschädigten zu verstehen. Die gesetzliche Regelung sei jedoch nicht eindeutig und lasse auch nach der Scheidung weiterer Ehen die Gewährung einer Beihilfe angezeigt erscheinen. Das Arbeitsministerium und das LVersorgA Baden-Württemberg hätten noch 1957 die Gewährung einer Beihilfe nicht für rechtswidrig gehalten. Aber auch dann, wenn § 44 BVG die Gewährung einer Beihilfe an die Klägerin nach der Scheidung ihrer dritten Ehe offensichtlich nicht zugelassen habe, sei zu berücksichtigen, daß begünstigende Verwaltungsakte, um rechtmäßig, also fehlerfrei zu sein, nicht in jedem Einzelfalle einer positiven Rechtsgrundlage bedürften. Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Rücknahme solcher Bescheide sei das öffentliche Interesse an der gleichmäßigen Gewährleistung von Versorgungsleistungen gegen das Recht des begünstigten Bürgers an dem Schutz seines Vertrauens auf den Bestand behördlicher Verfügungen abzuwägen. Hier verlange das öffentliche Interesse nicht unabweislich die Entziehung der Beihilfe. Die Klägerin habe auf den Bestand der Bewilligung vertrauen dürfen, zumal ihr die Beihilfe im Einverständnis mit den dem Versorgungsamt (VersorgA) übergeordneten Dienststellen länger als ein Jahr belassen worden sei; sie habe die Fehlerhaftigkeit des Bescheides nicht zu vertreten. Das LSG ließ die Revision zu.

Mit der Revision rügt der Beklagte Verletzung des § 44 Abs. 4 BVG, des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 77 SGG in Verbindung mit einer Verletzung anerkannter Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts. § 41 VerwVG sei zwar nicht anwendbar gewesen, weil mit dem Bescheid vom 28. November 1956 nicht über einen Rechtsanspruch entschieden worden sei. Das LSG sei daher mit Recht von den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes ausgegangen. Das LSG habe aber verkannt, daß der Bescheid vom 28. November 1956 wegen offensichtlichen Verstoßes gegen eine zwingende Rechtsvorschrift zurückgenommen worden sei. § 44 Abs. 4 BVG schütze das Risiko des Scheiterns einer neuen Ehe nicht an sich, sondern nur das Risiko, nach Auflösung der zweiten Ehe keinen realisierbaren Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann zu haben. Diese Folgerung ergebe sich aus dem Vergleich des § 44 Abs. 3 mit § 44 Abs. 4 BVG. Das LSG habe auch die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts falsch angewandt; das überwiegende öffentliche Interesse an der Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei nicht durch die Dauer des Bezuges und nicht dadurch beseitigt worden, daß die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Bescheides nicht zu vertreten habe. Die Rente habe jedenfalls für die Zukunft entzogen werden können, denn das öffentliche Interesse dulde nicht die Gewährung einer wegen Verstoßes gegen das Gesetz rechtswidrigen Rente auf Lebenszeit. Durch die Rücknahme des Bescheides vom 28. November 1956 habe der Beklagte somit nicht gegen die pflichtgemäße Ausübung seines Ermessens verstoßen. Im übrigen habe das LSG nicht das Urteil des SG bestätigen und den Beklagten zur Gewährung der Kann-Leistung verurteilen dürfen, sondern es habe höchstens einen Ermessensmißbrauch feststellen und den Beklagten zum Erlaß eines neuen Bescheides verurteilen können.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 24. März 1960 und das Urteil des SG Heilbronn vom 8. Mai 1958 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des VersorgA Stuttgart vom 2. Juli 1957 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 1957 als unbegründet zurückzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie vertritt die Auffassung, § 44 Abs. 4 BVG beziehe sich nicht nur auf die erste nach dem Tode des Beschädigten geschlossene Ehe der Witwe. Im übrigen schließt sie sich den Ausführungen des LSG an.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG) und daher zulässig. Sie ist, soweit Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt wird, auch begründet.

Streitig ist die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 2. Juli 1957 (Widerspruchsbescheid vom 1. Oktober 1957), durch den der Bescheid vom 28. November 1956 über die Gewährung einer Beihilfe nach § 44 Abs. 4 BVG zurückgenommen wurde. Da der Beklagte keine Rückforderung geltend gemacht hat, ist nur darüber zu entscheiden, ob die Beihilfe wegen Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 28. November 1956 für die Zukunft entzogen werden durfte. Soweit die Revision auf Verletzung des materiellen Rechts gestützt ist, rügt der Beklagte zu Recht unrichtige Anwendung des § 44 Abs. 4 BVG i.d.F. des Fünften Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 6. Juni 1956 (BGBl I 469) und der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts.

Nach § 44 Abs. 4 BVG kann, wenn die neue Ehe geschieden oder aufgehoben worden ist, unter den dort näher bezeichneten weiteren Voraussetzungen eine Beihilfe in Höhe von zwei Dritteln der Witwenrente gewährt werden. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits wiederholt entschieden, daß mit der "neuen Ehe" im Sinne dieser Vorschrift immer nur die erste Ehe nach dem Tode des an der Schädigung Verstorbenen gemeint ist und daß eine Fortsetzung der "Versorgungskette" über einen dritten und weiteren Ehemann hinaus mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht vereinbar wäre (BSG 12, 127, 132; 15, 246, 247; 17, 120, 121). Für eine solche Auslegung des Gesetzes spricht, wie in BSG 12, 131 ff eingehend dargelegt ist, besonders der Vergleich der ursprünglichen Fassung des § 44 BVG mit den durch die Novellen vom 7. August 1953 (BGBl I 866) und 6. Juni 1956 (BGBl I 469) bestimmten Änderungen. Wenn daher § 44 Abs. 4 BVG die Beihilfe an die Voraussetzung knüpft, daß die "neue Ehe" geschieden oder aufgelöst worden ist, so ist dieselbe Ehe gemeint, die nach dem Tod des Beschädigten zu der in den Absätzen 1 und 3 bezeichneten "Wiederverheiratung" geführt hat. An die Stelle der Beihilfe, die nach dem Tode des (neuen) Ehemanns zu zahlen ist (§ 44 Abs. 3 BVG), tritt nach Scheidung oder Aufhebung dieser Ehe die Beihilfe des § 44 Abs. 4 BVG als Kann-Leistung. Der Senat hat sich nicht veranlaßt gesehen, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Daß im Falle des § 44 Abs. 4 BVG die Beihilfe im übrigen auf Grund einer der Versorgungsbehörde übertragenen Ermessensentscheidung gewährt wird, ergibt sich nicht nur aus der Fassung des Gesetzes "kann ... gewährt werden", sondern entspricht auch der Begründung dieser Vorschrift im Bericht des Ausschusses für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen vom 2. Mai 1956 (Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Drucksache 2348 S. 5), auf den die neue Fassung des § 44 im Fünften Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 6. Juni 1956 zurückgeht. Daß es sich bis zum 1. Juni 1960, d.h. bis zur Änderung dieser Vorschrift durch das Erste Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) um eine Kann-Leistung handelte, ist auch bisher in der Rechtsprechung des BSG angenommen worden (BSG 15, 246, 248).

Durch den Bescheid vom 28. November 1956 ist der Klägerin die Beihilfe bewilligt worden, obgleich der gesetzliche Tatbestand, der eine Ermessensentscheidung erst ermöglicht hätte, nicht erfüllt war; es fehlte, nachdem ihre dritte Ehe geschieden worden war, an den gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Beihilfe. Das LSG hat die Rechtmäßigkeit des Berichtigungsbescheides bejaht, und zwar schon deswegen, weil begünstigende Verwaltungsakte, um rechtswirksam zu sein, nicht in jedem Einzelfall einer positiven Rechtsgrundlage bedürften. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit ein solcher Grundsatz im Versorgungsrecht anerkannt werden kann und ob hier nicht der Vorbehalt des Gesetzes gilt, d.h. daß Leistungen nur auf Grund und im Rahmen eines Gesetzes im materiellen Sinne gewährt werden dürfen (vgl. Bogs in Verhandlungen des 43. Deutschen Juristentages Bd. II Sitzungsberichte g 24 ff); denn in § 44 BVG sind die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Beihilfe erschöpfend geregelt. Schon darum kann diese Leistung nicht über den Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung hinaus, also unter Voraussetzungen gewährt werden, die die Verwaltung frei nach ihrem Ermessen bestimmen könnte. Für die Frage der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 28. November 1956 kam es - unbeachtet der Möglichkeit einer Rücknahme dieses Bescheides - auch nicht darauf an, ob er, wie das LSG meint, "einer zwingenden Rechtsnorm offensichtlich widersprach". Wenn ein Bescheid objektiv nicht in Einklang mit dem nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu ermittelnden Inhalt einer Norm steht, ist er rechtswidrig, ohne daß es noch darauf ankommt, ob es sich um einen "offensichtlichen" Verstoß handelt (vgl. BSG in SozR VerwVG § 41 Ca 2 Nr. 7). Hiernach war der Bescheid vom 28. November 1956 wegen Verstoßes gegen § 44 Abs. 4 BVG rechtswidrig.

Das LSG hat, nachdem es die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 28. November 1956 verneint hat, noch geprüft, ob der Bescheid, wenn von seiner Rechtswidrigkeit auszugehen wäre, zurückgenommen werden könnte. Es hat § 41 VerwVG nicht für anwendbar gehalten, weil dieser Vorschrift weder unmittelbar noch mittelbar etwas über die Voraussetzungen der Rücknahme von Bescheiden über die Gewährung von Ermessensleistungen entnommen werden könne und ist - insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG - davon ausgegangen, daß das allgemeine Verwaltungsrecht auch für Verwaltungsakte der Behörden der Kriegsopferversorgung gilt, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist (BSG 8, 11, 14; 15, 81; Urteil des erkennenden Senats vom 27. Februar 1963 - 9 RV 558/59 -). Es ist zu dem Ergebnis gekommen, daß nach diesen Grundsätzen der Rücknahmebescheid vom 2. Juli 1957 rechtswidrig ist. Der Senat ist mit dem LSG der Auffassung, daß § 41 VerwVG hier nicht anwendbar ist, daß aber die von dem LSG in Betracht gezogenen Umstände allein nicht ausreichen, die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 2. Juli 1957 nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zu verneinen.

Über die Frage, ob und inwieweit der Vorschrift des § 41 Abs. 1 VerwVG ein Anhalt für die Voraussetzungen der Rücknahme von Bescheiden über Ermessensleistungen zu entnehmen ist, gehen die Meinungen in Schrifttum und Rechtsprechung auseinander. Das LSG Bremen (Breithaupt 1960, 1012) und Stefen (BVBl 1959, 121, 129) gehen davon aus, daß § 41 VerwVG nicht erschöpfend die Fälle regele, in denen auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung Verwaltungsakte zuungunsten des Versorgungsberechtigten wegen Unrichtigkeit zurückgenommen werden können. In diesem Sinne heben auch die Verwaltungsvorschriften vom 8. Februar 1956 (BAnz. Nr. 33) - Nr. 2 zu § 41 VerwVG (BVBl 1956, 41) - hervor, daß § 41 VerwVG für Bescheide nicht maßgebend sei, mit denen Kann-Leistungen oder Leistungen im Wege des Härteausgleichs gewährt worden sind. Dagegen hat der Bundesminister für Arbeit im Rundschreiben vom 15. Oktober 1956 (BVBl 1956, 191) zum Ausdruck gebracht, nach dem allgemeinen Rechtsgrundsatz "vom Größeren zum Kleineren" (a maiore ad minus) müsse die Berichtigung von Bescheiden über Kann-Bezüge und Härteausgleiche zum wenigsten aus denselben Gründen - gemeint ist, beim Vorliegen der gleichen Voraussetzungen - zulässig sein, unter denen Bescheide über Rechtsansprüche berichtigt werden können. Hiernach sei § 41 VerwVG auch auf Bescheide über Kann-Bezüge und Härteausgleiche anwendbar. § 41 VerwVG stelle eine besondere Ausprägung der Grundsätze über den Widerruf begünstigender Verwaltungsakte für das Versorgungsrecht dar (ähnlich Schönleiter-Hennig, VerwVG § 41 Anm. 1; Sauerwein, VerwVG 2. Aufl. § 41 Anm.2; LSG Hamburg, Urteil vom 5. November 1958, Breithaupt 1959, 161). Diese Auffassung steht jedoch nicht in Einklang mit § 41 Abs. 1 VerwVG, wenn diese Vorschrift ausschließlich eine Regelung der Rücknahme von Bescheiden über Rechtsansprüche enthält. Sie läßt auch nicht hinreichend erkennen, ob für die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte über Kann-Leistungen genügen soll, daß die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind bzw. daß von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) oder ob daneben ein Irrtum der Versorgungsbehörde über den ihrer Ermessensentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt für erforderlich gehalten wird. Gelangt man zu dem Ergebnis, daß die auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung bestehenden Sondervorschriften insoweit keine erschöpfende Regelung darstellen, also nicht für die Fälle gelten, in denen Kann-Leistungen zu Unrecht bewilligt wurden, so sind in diesem Umfang die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts anzuwenden.

§ 41 VerwVG kann zunächst nicht dahin ausgelegt werden, daß Bescheide über Ermessensleistungen im Gegensatz zu Bescheiden über Rechtsansprüche überhaupt nicht zurückgenommen werden könnten. Das Gesetz hat ersichtlich die Rücknahme von Verwaltungsakten, durch die über Rechtsansprüche entschieden wurde, an strengere Voraussetzungen knüpfen wollen als die Rücknahme von Verwaltungsakten über Ermessensleistungen, die mit ersteren nicht wesensgleich sind. Es kann nicht angenommen werden, daß die schwächere Rechtsposition, die zu der Bewilligung der Kann-Leistung führt, eine stärkere Bindung der Versorgungsbehörde an ihre Entscheidung erzeugen soll als ein Bescheid über Rechtsansprüche. Ein solches Ergebnis würde auch eine völlige Abkehr von den Grundsätzen bedeuten, die vor dem Inkrafttreten des VerwVG auf dem Gebiet des Versorgungsrechts und des allgemeinen Verwaltungsrechts für die Rücknahme von Bescheiden über Ermessensleistungen gegolten haben. In den teilweise erst durch § 51 VerwVG außer Kraft gesetzten früheren Vorschriften des Versorgungsrechts (§ 65 Abs. 2 des Verfahrensgesetzes vom 10. Januar 1922 i.d.F. vom 2. November 1934 - RGBl I 1113 -, § 30 Abs. 4 KBLG) ist die Rücknahme rechtswidriger "Bescheide" ohne Rücksicht darauf zugelassen, ob es sich um Bescheide über Rechtsansprüche oder um Leistungen handelt, die nach Ermessen gewährt wurden. Insbesondere hatte auch das Reichsversorgungsgericht die Zurücknahme rechtswidriger Bescheide über Ermessensleistungen, die auf einer Gesetzesverletzung beruhten, zugelassen (RVG 6, 96; 12, 93, 95).

In der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit ist längere Zeit in Rechtsprechung und Literatur fast einhellig die Auffassung vertreten worden, daß die Verwaltung berechtigt sei, rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, darunter auch solche über Ermessensleistungen, jederzeit zurückzunehmen (Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 5. Aufl. 1955 § 13 S. 215, Klinger, Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, 3. Aufl. 1954, § 23 der VO Nr. 165 Anm. A II 3, 4 mit zahlreichen Nachweisen; Haueisen, NJW 1954, 1427; derselbe DVBl 1957, 506 f und 751 f). Im Anschluß an das Urteil des OVG Berlin vom 14. November 1956 (DVBl 1957, 503), ist diese Auffassung in der späteren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht unwesentlich eingeschränkt worden (vgl. BVerwG vom 28. Juni 1957 = NJW 1958, 154, vom 25. Oktober 1957 DVBl 1958, 285 und vom 7. Dezember 1960, DVBl 1961, 380 ff sowie BSG 7, 8, 16; 10, 72, 76; 15, 81 f). Die danach entwickelten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts gestatten nunmehr die Berücksichtigung solcher Umstände, die die Entziehung einer bindend zugesprochenen Leistung im Interesse des einzelnen Berechtigten als unbillig oder nicht zumutbar erscheinen lassen. Dadurch, daß § 41 Abs. 1 VerwVG nur die Rücknahme von Bescheiden über Rechtsansprüche an erschwerte Voraussetzungen geknüpft hat, wurde gleichzeitig der allgemeine Grundsatz, daß auch in der Kriegsopferversorgung - gleichgültig, ob sie Rechtsansprüche oder Ermessensleistungen betreffen - die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte zulässig sein soll, aufrechterhalten. Dieser Grundsatz wurde aber in § 41 Abs. 1 VerwVG nicht für beide Bereiche ausgesprochen, weil der Gesetzgeber offenbar eine gesetzliche Regelung nur für Bescheide über Rechtsansprüche für erforderlich hielt. Damit ist zugleich eine Fortentwicklung der bei Inkrafttreten des VerwVG geltenden Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts ermöglicht worden. Das Schweigen des Gesetzes steht somit der Anwendung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts bei Bescheiden über Ermessensleistungen nicht entgegen. Damit scheidet auch eine Anwendung des § 41 Abs. 1 VerwVG in dem Sinne aus, daß - wie bei Bescheiden über Rechtsansprüche - die Rücknahme von Ermessensentscheidungen an die doppelte Voraussetzung der rechtlichen und tatsächlichen Unrichtigkeit geknüpft ist. Ob bei fehlender Zustimmung des Landesversorgungsamtes die Berichtigung rechtswidrig wäre (vgl. § 41 Abs. 2 VerwVG), bedarf hier nicht der Erörterung, da diese Zustimmung erteilt ist.

Bei der Anwendung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts auf den vorliegenden Fall hat das LSG nicht alle Umstände berücksichtigt, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides von Bedeutung sein können. Es hat dem Interesse der Klägerin an dem Schutz ihres Vertrauens auf den Bestand des Bewilligungsbescheides schon deshalb den Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an einer dem Gesetz entsprechenden gleichmäßigen Gewährung von Leistungen zuerkannt, weil die Beihilfe im Einverständnis des LVersorgA und anscheinend auch des Arbeitsministeriums Baden-Württemberg bewilligt worden war und darum das Vertrauen der Klägerin in den Bestand des Bescheides geschützt werden müsse. Daraus, daß Schwierigkeiten bei der Auslegung des Gesetzes zu der in den Verantwortungsbereich der Behörde fallenden rechtswidrigen Bewilligung der Beihilfe geführt hatten, ergab sich aber allein noch nicht die Rechtswidrigkeit der Entziehung der Beihilfe für die Zukunft. Im Urteil vom 27. Februar 1963 - 9 RV 558/59 - hat der erkennende Senat dargelegt, welche Maßstäbe im einzelnen für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit der Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts anzulegen sind. Hiernach ist die Rücknahme rechtmäßig, wenn das nach dem Verfassungsgrundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -) bestehende öffentliche Interesse an der Beseitigung rechtswidriger Verwaltungsakte höher zu bewerten ist als das Interesse des Begünstigten am Schutz des Vertrauens in den Bestand behördlicher Verfügungen, das nach dem Verfassungsgrundsatz der Rechtssicherheit gleichfalls schutzwürdig ist (BSG 8, 11, 14; 10, 72, 74; 15, 81; Urteil vom 22. März 1962 - 8 RV 989/58 = BVBl 62, 128 Nr. 36; BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1960, DVBl 61, 380; Haueisen, BABl 62, 1015). Aus der Abwägung dieser beiden Grundsätze ergibt sich, daß ein rechtswidriger Verwaltungsakt in der Regel für Vergangenheit und Zukunft zurücknehmbar ist, wenn die Ursache für das Zustandekommen des Verwaltungsakts in den Verantwortungsbereich des Begünstigten fällt (BSG 8, 14; 10, 72, 77), daß aber der Verwaltungsakt für die Zukunft in der Regel auch dann zurückgenommen werden kann, wenn die Umstände, die ihn verursacht haben, in den Verantwortungsbereich der Behörde fallen (BSG 15, 82; BVerwG 5, 312 und DVBl 61, 380).

Hierbei ist, wie in dem Urteil vom 27. Februar 1963 weiter ausgeführt ist, nicht nur von Bedeutung, ob die Ursache für die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes in den Verantwortungsbereich des Begünstigten oder der Behörde fällt; es ist auch in Betracht zu ziehen, welche Zeit seit dem Erlaß des begünstigenden Verwaltungsakts verstrichen ist und wie lange voraussichtlich auf Grund des Bewilligungsbescheides, falls er nicht zurückgenommen wird, Leistungen noch zu gewähren sind (BSG 15, 82). Das Vertrauensinteresse steht nicht in jedem Fall dem Erfüllungsinteresse auf die Rentenleistung gleich; es wird bestimmt und begrenzt durch die Erwägung, inwieweit die Rechtsordnung die Rechtssicherheit, insbesondere das Vertrauen des Begünstigten auf die Bestandskraft des Verwaltungsakts schützen muß, auf die er sich "eingerichtet" hatte (vgl. Haueisen, DVBl 57, 506, 508), und welche Grenzen dem öffentlichen Interesse in einem solchen Falle gesetzt sind. Der Entzug einer Rente für die Zukunft wird zwar regelmäßig als Härte empfunden, das reicht aber noch nicht aus, das öffentliche Interesse geringer als das des Betroffenen zu bewerten.

Wenn nämlich der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in der Regel die Entziehung einer Rente für die Zukunft rechtfertigt, so hat das öffentliche Interesse nur zurückzutreten, wenn im Einzelfalle besonders schwerwiegende Umstände vorliegen, die diese Entziehung als eine unbillige Härte erscheinen lassen. Daher kann auch das vorgerückte Alter des Betroffenen von Bedeutung sein, wenn die Einstellung der Zahlungen eine so einschneidende und dauernde Änderung der Lebensführung bewirkt, daß sie die Existenzgrundlage für die Zukunft erschüttert (vgl. auch BVerwG in DVBl 1961, 380, 382). Ferner gehören dazu Vermögensdispositionen, die im Vertrauen auf den Weiterbezug der Rente getroffen wurden und sich nicht mehr rückgängig machen lassen (BVerwG 13, 253). Dem Interesse des Begünstigten kann gegenüber dem öffentlichen Interesse die überwiegende Bedeutung jedenfalls dann beigemessen werden, wenn entweder ein unlösbarer Zusammenhang zwischen den in der Vergangenheit erbrachten Leistungen und den darauf beruhenden Dispositionen des Begünstigten besteht, die sich in die Zukunft erstrecken oder wenn die Entziehung der Leistung für ihn so einschneidend ist, daß sie ihm nicht mehr zugemutet werden kann. Ob eine solche Unzumutbarkeit vorliegt, ist im Einzelfall unter Abwägung aller für die weitere Lebensführung des Betroffenen bedeutsamen Umstände zu prüfen.

Das LSG hat hiernach nicht alle Gesichtspunkte in Betracht gezogen, die bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an der Rücknahme des Bewilligungsbescheides gegen das Interesse der Klägerin an der Aufrechterhaltung dieses Bescheides auch für die Zeit ab 1. August 1957 von Bedeutung sein konnten. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es diese Umstände ermittelt und gewürdigt hätte, und daß somit das Urteil auf einer Verletzung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts beruht. Das Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die von dem LSG für die Rechtswidrigkeit des Rücknahmebescheides getroffenen Feststellungen nicht ausreichen. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2304818

BSGE, 35

NJW 1964, 1493

MDR 1964, 793

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