Leitsatz (amtlich)

Die erste Alternative des RVO § 1268 Abs 5 "Rente, die dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes zustand" ist nur erfüllt, wenn der Versicherte schon Rente beantragt hatte.

 

Normenkette

RVO § 1268 Abs. 5 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1967 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Es ist zu entscheiden, welche Bezüge der Klägerin als Witwe des Versicherten für die ersten drei Monate nach dem Tode des Versicherten zustehen, nachdem der erwerbsunfähige Versicherte keine Rente bezogen und keinen Rentenantrag gestellt hatte (§ 1268 Abs. 5 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der Versicherte ist am 3. März 1964 gestorben. Er war die letzten Monate vor seinem Tode arbeitsunfähig und erwerbsunfähig. Er hatte aber keine Versichertenrente bezogen und auch keinen Rentenantrag gestellt. Die Beklagte gewährte der Klägerin für die ersten drei Monate nach dem Tode des Versicherten - 1. März bis 31. Mai 1964 - gemäß § 1268 Abs. 5 iVm Abs. 1 RVO Bezüge in Höhe einer Berufsunfähigkeitsrente des Versicherten (Bescheid vom 27. Juli 1964).

Die Klägerin meint, sie müsse Bezüge in Höhe einer Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten; denn der Versicherte sei erwerbsunfähig gewesen und es hätte ihm Erwerbsunfähigkeitsrente zugestanden; ein Rentenantrag des Versicherten sei nicht Voraussetzung für die Entstehung seines Anspruchs auf Erwerbsunfähigkeitsrente gewesen.

Das Sozialgericht (SG) Münster/Westf. hat die Beklagte zur Gewährung der begehrten Bezüge verurteilt und die Berufung zugelassen (Urteil vom 29. April 1966). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 12. Januar 1967).

Das LSG war der Auffassung, dem Versicherten habe zur Zeit seines Todes Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht "zugestanden" (§ 1268 Abs. 5 RVO). Er habe zwar Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gehabt, weil ein Rentenantrag nicht materiell-rechtliche Voraussetzung für das Entstehen des Rentenanspruchs sei. Er sei aber zur Zeit des Todes nicht rentenbezugsberechtigt gewesen, weil er keinen Rentenantrag gestellt habe (§ 1290 Abs. 2 RVO). Der Gesetzgeber habe mit § 1268 Abs. 5 RVO in Anlehnung an die Beamtenversorgung die Rente des Versicherten der Witwe für die ersten drei Monate als Leistungsverbesserung weiter gewähren wollen (BT-Drucks. II zu 3080). § 1268 Abs. 5 RVO solle der Witwe die Umstellung von den bisherigen auf die neuen Lebensverhältnisse erleichtern; dabei seien die bisherigen Lebensverhältnisse in der Regel durch die Höhe der Rente des Versicherten bestimmt gewesen. Dementsprechend seien die Worte "zustehen" und "rentenberechtigt" in § 1268 Abs. 5 RVO im Sinne von "rentenbezugsberechtigt" zu verstehen.

Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß der Versicherte keinen Rentenantrag gestellt habe, ändere nichts daran, daß er "rentenberechtigt" gewesen sei, ihm also ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente "zugestanden" habe.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, wenn schon die Folgen eines verspäteten Antrags auf Gewährung von Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente oder auf Umwandlung einer Berufsunfähigkeitsrente in eine Erwerbsunfähigkeitsrente dem Versicherten angelastet werden (§ 1290 Abs. 2 und 3 RVO), so sprächen die gleichen Gründe für die Annahme, daß auch die Witwe die Folgen eines nicht gestellten Rentenantrags tragen solle.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist nicht begründet.

Nach § 1268 Abs. 5 RVO wird der Witwe für die ersten drei Monate anstelle der Rente nach den Absätzen 1 bis 4 die Rente gewährt, die dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes zustand oder, wenn der Versicherte zu diesem Zeitpunkt nicht rentenberechtigt war, die Rente des Versicherten, aus der die Rente nach den Absätzen 1 bis 3 zu berechnen ist. § 1268 Abs. 5 RVO enthält zwei Alternativen, nämlich, daß dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes eine Rente "zustand" und, daß der Versicherte zu diesem Zeitpunkt "nicht rentenberechtigt" war (vgl. Urteil des Senats vom 27. Juli 1967 - 12 RJ 218/64).

Der Wortlaut der ersten Alternative "Rente zustand" ist nicht eindeutig. Der allgemeine Sprachgebrauch, der "zustehen" mit "zugehören, gebühren" beschreibt (Duden, Etymologie, 1963, Stichwort "stehen") ist sehr allgemein. Auch der Wortlaut der zweiten Alternative "nicht rentenberechtigt" ist nicht so eindeutig, daß im Zusammenhang damit der Begriff "Rente zustand" schon sicher bestimmt werden könnte; denn "rentenberechtigt" besagt für sich nicht klar, ob nur die materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente vorliegen müssen oder ob der Anspruch durch Antragstellung realisiert sein muß. Die Rechtslage in der Rentenversicherung ist verschieden je nachdem, ob ein Versicherter, der die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Berufsunfähigkeitsrente oder Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt, einen Rentenantrag gestellt hat oder nicht. Hat der Versicherte keinen Antrag gestellt, so hat er zwar dennoch materiell-rechtlich einen Rentenanspruch. Der Anspruch ist aber noch nicht fällig (SozR Nr. 4, 5, 6, 8 zu § 29 RVO) und für die Zeit vor Antragstellung, während der die materiell-rechtlichen Voraussetzungen schon erfüllt sind, wird die Rente nicht rückwirkend gewährt (§ 1290 Abs. 2 RVO). Die Worte "Rente zustand" können im Hinblick auf diese unterschiedliche Rechtslage schon bei Auslegung nach dem Wortsinn dahin verstanden werden, daß eine Rente erst dann "zusteht", wenn sie zu gewähren ist. Zu gewähren ist sie erst, wenn der Anspruch fällig geworden ist. Fällig wird er aber erst mit der Antragstellung.

Der Ausdruck, daß Leistungen "zustehen", wird in den Vorschriften der Rentenversicherung auch an anderer Stelle gebraucht, so in § 1243 Abs. 3 RVO, § 1263 Abs. 2 RVO idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG), § 1276 Abs. 2 Satz 2, § 1288 Abs. 1, §§ 1295, 1301 RVO. Diese Vorschriften ergeben keine eindeutige Bestimmung des Begriffs "Rente zustand". Der Begriff "Zustehen einer Leistung" kann daher immer nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen Inhalt und Zweck der Vorschriften ausgelegt werden. Deshalb sind auch bei der Auslegung des § 1268 Abs. 5 RVO Sinn und Zweck dieser Vorschrift in den Vordergrund zu rücken.

Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte des § 1268 Abs. 5 RVO sprechen dafür, daß die Witwe nur bei einem schon realisierten Rentenanspruch des Versicherten die Bezüge nach der ersten Alternative dieser Vorschrift beanspruchen kann.

Die Vorschrift wurde vom Ausschuß für Sozialpolitik für die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze vorgeschlagen (§ 1272 Abs. 4 des Entwurfs, (BT-Drucks. II/3080). Er begründete seinen Vorschlag folgendermaßen: "Abs. 4 ist als eine wesentliche Leistungsverbesserung neu eingefügt worden. Danach wird für die ersten drei Monate nach dem Tode des Versicherten dessen Rente weitergewährt. Diese Regelung wurde in Anlehnung an die Beamtenversorgung getroffen." Für einen Vergleich mit der Beamtenversorgung ist die zur Zeit des Erlasses der Neuregelungsgesetze geltende Fassung des Bundesbeamtengesetzes (BBG) vom 14. Juli 1953 heranzuziehen. Die Vorschriften des BBG selbst bieten nur wenig Anhalt für einen Vergleich mit der Rentenversicherung. Dagegen läßt sich der im Beamtenrecht mit den Sterbevierteljahresbezügen verfolgte Zweck mit den Verhältnissen in der Rentenversicherung vergleichen.

Nach § 122 Abs. 1 BBG idF vom 14. Juli 1953 erhielt der überlebende Ehegatte eines Beamten "mit Dienstbezügen" für die auf den Sterbemonat folgenden drei Monate als Sterbegeld "die Dienstbezüge" des Verstorbenen; bei Ruhestandsbeamten und entlassenen Beamten trat an die Stelle der Dienstbezüge das Ruhegehalt oder der Unterhaltsbeitrag. Es handelt sich also immer um Bezüge, die dem verstorbenen Beamten schon selbst zu gewähren waren. Die Dienststelle knüpft somit bei der Gewährung des Sterbegeldes an die Hinterbliebenen unmittelbar an die Bezüge des Beamten an.

In der Rentenversicherung ist es anders. Hier gibt es beim Tod des Versicherten zwei Fälle, die sich dem Versicherungsträger bei der Gewährung von Hinterbliebenenbezügen darbieten. Der erste Fall ist der, daß der Versicherte von Rechten nach der RVO schon Gebrauch gemacht hat, also Ansprüche realisiert hat. Der zweite Fall ist der, daß er keinen Gebrauch gemacht hat. Mit der Lage im Beamtenrecht ist nur der erste Fall, daß der Versicherte von Rechten durch Antragstellung Gebrauch gemacht hat, zu vergleichen. Der zweite Fall, daß der Versicherte keine Rechte durch Antragstellung geltend gemacht hat, gleichgültig, aus welchen Gründen und ob er sie mit Erfolg hätte geltend machen können, ist nur der Rentenversicherung eigen.

Im ersten Fall kann der Versicherungsträger, wie der Dienstherr im Beamtenrecht zur Festsetzung der Höhe der Bezüge der Witwe für das Sterbevierteljahr von den Bezügen des Versicherten auszugehen hat, auch nur von den letzten Bezügen des Versicherten ausgehen. Dem entspricht in § 1268 Abs. 5 RVO die erste Alternative: Die Rente, die dem Versicherten zur Zeit seines Todes "zustand". In der Rentenversicherung wird über die Regelung im Beamtenrecht hinaus auch diejenige Witwe durch höhere Sterbevierteljahresbezüge begünstigt, deren versicherter Ehemann nicht Gebrauch von seinen Rechten nach der RVO gemacht hat. Dies geschieht mit der im Beamtenrecht nicht aktuellen zweiten Alternative des § 1268 Abs. 5 RVO, wonach die Witwe für das Sterbevierteljahr die Rente des Versicherten erhält, aus der ihre Witwenrente nach § 1268 Abs. 1 bis 3 RVO zu berechnen ist.

Diese Unterscheidung und Auslegung der beiden Alternativen entspricht dem Sinn und Zweck des § 1268 Abs. 5 RVO. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist wie im Beamtenrecht (vgl. die Begründung des Ausschusses für Sozialpolitik in BT-Drucks. II zu 3080), der Witwe die mit dem Sterbefall verbundenen besonderen Aufwendungen und die Umstellung auf die veränderten Verhältnisse zu erleichtern. § 1268 Abs. 5 RVO ist damit ganz auf die praktischen Bedürfnisse abgestellt, die für die Witwe beim Tod des Ehegatten entstehen. Um diesen Zweck zu erfüllen, muß § 1268 Abs. 5 RVO vor allem einfach angewandt werden können; er muß besonders praktikabel sein. Dafür ist es erforderlich, daß ohne besondere Schwierigkeiten festzustellen ist, welche Bezüge die Witwe für das Sterbevierteljahr zu erhalten hat. Dazu muß der Versicherungsträger eine klare Ausgangslage haben. Diese ist bei der hier vorgenommenen Auslegung des § 1268 Abs. 5 RVO gegeben. Im ersten Fall, in dem der Versicherte seine Ansprüche angemeldet hat, wird seine finanzielle Lage - die Versichertenrente - zu Gunsten der Witwe für das Sterbevierteljahr beibehalten. Dies ist ohne Schwierigkeiten durchzuführen. Im zweiten Fall des Nichtgebrauchmachens von Rechten durch den Versicherten, in dem eine Anknüpfung an eine nach der RVO verwirklichte Rechtslage des Versicherten nicht möglich ist, erhält die Witwe für das Sterbevierteljahr höhere Bezüge, indem ihr nicht sechs Zehntel, sondern die volle Versichertenrente, aus der ihre Witwenrente zu berechnen ist, gewährt wird. Auch dies ist verhältnismäßig einfach durchzuführen; denn dazu ist lediglich das Versicherungsverhältnis des Verstorbenen festzustellen; es müssen jedoch nicht Umstände in dessen Person, wie etwaige Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, Zeitpunkt deren Eintritt usw., ermittelt werden.

Dem steht nicht entgegen, daß es Fälle gibt, in denen zur Zeit des Todes des Versicherten über dessen erhobenen Anspruch (zB auf Rentengewährung oder auf Weitergewährung einer entzogenen Rente) noch nicht bindend entschieden ist und das anhängige Verwaltungs- oder Streitverfahren fortzuführen und zu beenden ist (§ 1288 Abs. 2 RVO); denn es ist nicht der Regelfall, von dem der Gesetzgeber ausgeht, daß zur Zeit des Todes eines Versicherten ein Verfahren über dessen Ansprüche noch schwebt. Im übrigen wird das Verfahren über vom Versicherten erhobenen Ansprüche nicht zur Feststellung der Witwenbezüge während des Sterbevierteljahres fortgeführt, sondern zur Entscheidung über den Anspruch des Versicherten für die Zeit bis zu dessen Tod. Der für den Versicherungsträger notwendige klare Ausgangspunkt für die Witwenbezüge nach § 1268 Abs. 5 RVO wird in solchen Fällen infolge des noch nicht bindend abgeschlossenen Verfahrens über den vom Versicherten erhobenen Anspruch lediglich erst später festgestellt.

Aus diesen Gründen entspricht die Auslegung des § 1268 Abs. 5 RVO durch das LSG im Ergebnis dem Gesetz (vgl. auch BSG vom 27. Juli 1967 - 12 RJ 218/64).

Die Klägerin hat demnach keinen Anspruch auf Bezüge in Höhe einer Erwerbsunfähigkeitsrente des Versicherten für die Zeit vom 1. März bis 31. Mai 1964. Das Urteil des LSG ist gesetzmäßig. Die Revision ist daher nicht begründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2284757

BSGE, 116

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