Leitsatz (redaktionell)

1. Nach HArbG § 2 Abs 1 vom 1951-03-14 ist Heimarbeiter, wer in selbstgewählter Arbeitsstätte (eigener Wohnung oder selbstgewählter Betriebsstätte) allein oder mit seinen Familienangehörigen im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern gewerblich arbeitet, jedoch die Verwertung der Arbeitsergebnisse dem unmittelbar oder mittelbar Auftraggebenden überläßt.

2. Das HArbG bietet keine Stütze dafür, daß unter einem Gewerbetreibenden lediglich ein solcher zu verstehen ist, auf den die Vorschriften der GewO anzuwenden sind. Gewerbebetrieb ist vielmehr auch ein Versicherungsunternehmen, da es ein Handelsgewerbe ist. Ob ein Gewinn tatsächlich erzielt wird, ist für die Erfüllung des Rechtsbegriffs des Gewerbetreibenden unerheblich. Nach HArbG § 2 Abs 4 geht die Heimarbeitereigenschaft nicht dadurch verloren, wenn Auftraggeber Personen oder Personenvereinigung des privaten oder öffentlichen Rechts sind.

Die Auffassung, Heimarbeiter könne nicht sein, wer unmittelbar für den Letztverbraucher arbeite, findet im Gesetz (HArbG § 2 Abs 1) keine Stütze. Heimarbeit (gewerbliche Arbeit) iS von HArbG § 2 Abs 1 setzt keine Tätigkeit voraus, die nur der Herstellung, Bearbeitung oder Verpackung von Waren dient. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob es sich um eine auf gewisse Dauer angelegte und auf die Sicherstellung des Lebensunterhalts gerichtete Tätigkeit handelt, die nach der im Laufe der Jahre möglicherweise wechselnden Verkehrsanschauung als typische Heimarbeit anzusehen ist.

3. Als Gewerbebetrieb iS des HArbG gelten nicht nur Unternehmen, die den Vorschriften der GewO unterliegen, sondern auch solche der Industrie und des Handels; ein Versicherungsunternehmen ist daher - als Handelsgewerbe - ebenfalls ein Gewerbebetrieb iS des HArbG.

4. Die Beurteilung der Frage, ob eine Phonotypistin, die in selbstgewählter Betriebsstätte (eigener Wohnung) und freibestimmender Arbeitszeit auf ihrer Schreibmaschine Arbeiten ausführt, Heimarbeiterin iS des HArbG § 2 Abs 1 ist, hängt davon ab, ob sich bereits eine genügend gefestigte Verkehrsanschauung dahin gehend gebildet hat, daß diese Beschäftigung als typische, die Merkmale der Schutzbedürftigkeit der Heimarbeit aufweisende Tätigkeit anzusehen ist.

 

Leitsatz (amtlich)

Eine in selbstgewählter Betriebsstätte und frei gewählter Arbeitszeit nach Tonbanddiktat tätige Schreibkraft (Phonotypistin) ist Heimarbeiterin iS des AVAVG § 195 (jetzt AFG § 101 Abs 2) iVm HArbG § 2 Abs 1, wenn ihre Tätigkeit nach gefestigter Verkehrsanschauung als typische Heimarbeit angesehen wird. Dabei kommt es auf das Tätigkeitsmerkmal einer mehr manuellen oder mechanischen Arbeit nicht entscheidend an.

 

Normenkette

AVAVG § 76 Abs. 2 Fassung: 1957-04-03, Abs. 1 Fassung: 1957-04-03, § 195 Fassung: 1957-04-03; AFG § 101 Abs. 2 Fassung: 1969-06-25, § 103 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, Abs. 3 Fassung: 1969-06-25; HArbG § 2 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1951-03-14, Abs. 4 Fassung: 1951-03-14

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. September 1969 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist verheiratet; sie hat ein Kind, das am 14. September 1960 geboren ist. Vom 1. März bis 30. April 1965 und vom 8. November 1965 bis 31. Juli 1967 war sie bei der A Feuerversicherung, Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, vormals Deutsche Beamten-Feuerversicherung a. G. als "Schreibkraft nach Tonbanddiktat" beschäftigt. Die Klägerin führte die Arbeiten zu Hause auf eigener Schreibmaschine aus. Ihre Arbeitszeit betrug durchschnittlich drei bis vier Stunden täglich. Es wurden für sie Beiträge zur Krankenversicherung, Angestelltenversicherung und Arbeitslosenversicherung abgeführt. Sie galt als Stenotypistin in Heimarbeit". Die Tätigkeit endete, weil die Arbeitgeberin Ganztagskräfte einstellte.

Am 1. August 1967 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg) mit dem Bemerken, sie könne wegen der Betreuung ihres Kleinkindes weiterhin nur Heimarbeit verrichten. Das Arbeitsamt München lehnte mit Bescheid vom 18. August 1967 den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, sie stehe der Arbeitsvermittlung nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes (§ 76 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -) zur Verfügung. Die Voraussetzungen der für Heimarbeiter geltenden Ausnahme des § 76 Abs. 2 AVAVG seien nicht gegeben, weil die Klägerin innerhalb der Rahmenfrist des § 85 AVAVG für ihre Arbeitgeberin nicht gewerblich tätig und deshalb nicht Heimarbeiterin im Sinne des § 2 Abs. 1 des Heimarbeitsgesetzes (HAG) vom 14. März 1951 gewesen sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. September 1967). Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) München durch Urteil vom 15. Oktober 1968 den ablehnenden Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 1967 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alg vom 4. August bis 11. November 1967 zu zahlen. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 17. September 1969 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Klägerin habe mit ihrer Tätigkeit für die Adler Feuerversicherung bis 31. Juli 1967 die Anwartschaftszeit nach § 85 AVAVG erfüllt, weil sie mindestens 26 Wochen vor der Arbeitslosmeldung am 1. August 1967 als Phonotypistin gearbeitet habe. Es habe sich bei dieser Tätigkeit um eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Heimarbeiterin gehandelt. Die Klägerin habe daher zur streitigen Zeit ihrer Arbeitslosigkeit auch der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden, weil sie infolge häuslicher Bindung (Versorgung eines Kleinkindes) ihre Arbeitsbereitschaft auf die Übernahme von Heimarbeit zulässig habe beschränken können (§ 76 Abs. 2 AVAVG). Die von der Klägerin für die A Feuerversicherung verrichtete Tätigkeit, nämlich Schreibarbeiten nach Tonbanddiktat auf eigener Schreibmaschine in der eigenen Wohnung, sei als gewerbliche Arbeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 HAG anzusehen. Insoweit sei die vom Bundesarbeitsgericht (BAG) im Urteil vom 10. Juli 1963 - 4 AZR 273/62 - (BAG 14, 245 = Arbeitsrechtliche Praxis - AP - Nr. 3 zu § 2 HAG) vertretene Auffassung zu teilen, daß der Begriff "gewerbliche Arbeit" zwar die Herstellung und Bearbeitung von Waren umfasse, sich darin aber nicht erschöpfe und nicht verlangt werden könne, daß Heimarbeiter eine Arbeit verrichten müßten, die der eines gewerblichen Arbeiters oder Angestellten zumindest vergleichbar sei. Der Schutz des Heimarbeiters, der mit dem HAG verfolgt werde, verlange vielmehr eine weite Auslegung des Begriffs "gewerbliche Arbeit". Er bestimme sich im wesentlichen nach der Verkehrsanschauung und danach, ob die Tätigkeit auf Dauer zur Sicherstellung des Lebensunterhalts ausgeübt werde. Aus den vom SG eingeholten Stellungnahmen der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und des Arbeitgeberverbandes der Versicherungsunternehmen in Deutschland ergebe sich, daß die Vergabe von Schreibarbeiten nach Tonbanddiktat in Heimarbeit sich inzwischen eingebürgert habe. Auch diese Kreise bewerteten solche Arbeiten als "gewerbliche Arbeiten" im Sinne des HAG.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision bekämpft die Beklagte diese Rechtsauffassung. Sie führt dazu aus: Die Klägerin sei insbesondere deshalb nicht als Heimarbeiterin anzusehen, weil ihre Arbeitgeberin als Versicherungsverein kein Gewerbetreibender und Schreibarbeit nach Tonbanddiktat auch nicht als "gewerbliche Arbeit" im Sinne des HAG anzusehen sei.

Die Beklagte beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist begründet. Der Rechtsstreit muß zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Nach § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG steht de Arbeitsvermittlung nur zur Verfügung, wer nicht durch sonstige Umstände, insbesondere tatsächliche oder rechtliche Bindungen, die eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange (§ 66 AVAVG) ausschließen, gehindert ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben und nach der im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsauffassung für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommt. Kann der Arbeitslose nur Heimarbeit übernehmen, so steht dies für die Dauer seines Anspruchs auf Alg der Annahme, daß er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, nicht entgegen, wenn er innerhalb der Rahmenfrist des § 85 AVAVG mindestens 26 Wochen eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Heimarbeiter ausgeübt hat (§ 76 Abs. 2 AVAVG). Der Ausnahmetatbestand des § 76 Abs. 2 AVAVG ist nicht schon dann gegeben, wenn der Arbeitslose subjektiv meint, nur Heimarbeit übernehmen zu können. Vielmehr ist erforderlich, daß seine persönlichen Verhältnisse die Beschränkung auf Heimarbeit als begründet erkennen lassen und für die Heimarbeit subjektiv ernstliche Arbeitsbereitschaft anzunehmen ist. Die Ausnahmevorschrift betrifft nur solche Heimarbeiter, die nach § 76 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 AVAVG der Arbeitsvermittlung in eine andere Beschäftigung objektiv nicht zur Verfügung stehen (vgl. Draeger/Buchwitz/Schönefelder, Komm. zum AVAVG, § 76, Anm. 28; Krebs, Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - 1966 -, § 76, Anm. 51; BSG SozR Nr. 6 zu § 87 AVAVG aF und Nr. 5 zu § 76 AVAVG). Da die Klägerin in der hier streitigen Zeit, nämlich von August 1967 an, ein siebenjähriges schulpflichtiges Kind zu betreuen hatte und das Berufungsgericht unangefochten festgestellt hat, sie sei infolge ihrer häuslichen Bindung nicht in der Lage gewesen, andere Tätigkeiten als Heimarbeit zu übernehmen, sind die Voraussetzungen vom Berufungsgericht im vorliegenden Fall insoweit zutreffend als erfüllt angesehen worden. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt daher allein davon ab, ob die Klägerin während ihrer Beschäftigung bei der A Feuerversicherung Heimarbeit verrichtet hat.

Nach § 195 AVAVG gelten im Sinne der Vorschriften über Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe als Arbeitnehmer auch die Heimarbeiter im Sinne des § 2 Abs. 1 HAG. Danach ist Heimarbeiter, "wer in selbstgewählter Arbeitsstätte (eigener Wohnung oder selbstgewählter Betriebsstätte) allein oder mit seinen Familienangehörigen (§ 2 Abs. 5 HAG) im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern gewerblich arbeitet, jedoch die Verwertung der Arbeitsergebnisse dem unmittelbar oder mittelbar auftraggebenden Gewerbetreibenden überläßt". Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klägerin in selbstgewählter Betriebsstätte, nämlich in ihrer eigenen Wohnung, mit ihrer eigenen Schreibmaschine vom Tonbandgerät die Tonbanddiktate, die ihr angeliefert wurden, abgeschrieben hat.

Die Revision meint, die Klägerin könne als Heimarbeiterin im Sinne des § 2 Abs. 1 HAG schon deshalb nicht angesehen werden, weil ihre Arbeitgeberin als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit nicht als Gewerbebetrieb im Sinne der Vorschriften des HAG anzusehen sei. Sie ist der Auffassung, Gewerbebetrieb im Sinne des HAG sei nur ein Unternehmen, das auch nach der Gewerbeordnung (GewO) als Gewerbebetrieb anzusehen sei. Die Arbeitgeberin der Klägerin unterliege aber der Beaufsichtigung durch das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungs- und Bausparkassenwesen (§§ 15 ff des Gesetzes über die Beaufsichtigung der privaten Versicherungsunternehmen und Bausparkassen vom 6. Juni 1931 - RGBl I 315). Die GewO werde auf derartige Versicherungsunternehmungen nach § 6 GewO nicht angewandt. Auch das Gewerbesteuergesetz idF vom 25. Mai 1965 (BGBl I 459) könne man nicht, wie das Berufungsgericht es getan habe, heranziehen. Unter dieses Gesetz falle nämlich der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit nur kraft einer Fiktion (§ 2 Abs. 2 aaO). Aus dieser Fiktion könne nicht geschlossen werden, daß die Arbeitgeberin der Klägerin ein Gewerbebetrieb im Sinne des HAG sei. Es könne auch nicht auf § 2 Abs. 4 HAG verwiesen werden. Diese Vorschrift beschränke sich nämlich nur auf "die Herstellung, Bearbeitung oder Verpackung von Waren". Ihr seien im übrigen typischerweise nur gemeinnützige und karitative Organisationen, die Heimarbeiter nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung beschäftigten, unterzuordnen.

Mit Recht ist dieser Auffassung der Beklagten schon das Berufungsgericht entgegengetreten. Nach der GewO ist Gewerbetreibender, wer als Selbständiger eine auf Dauer angelegte Tätigkeit, einen bestimmten Kreis von Geschäften planmäßig und in der Absicht betreibt, sie als ständige Einnahmequelle berufsmäßig auszunutzen, d. h. aus ihnen Gewinn zu ziehen. Ob ein Gewinn tatsächlich erzielt wird, ist für die Erfüllung des Rechtsbegriffs des Gewerbetreibenden unerheblich (vgl. Landmann/Rohmer, GewO, 12. Aufl., Einl. RdNr. 87 ff; Maus, Heimarbeitsgesetz, § 2, Anm. 9; Baumbach/Duden, HGB, 17. Aufl., § 1, Anm. 1). Gewerbebetrieb ist also auch ein Versicherungsunternehmen, da es ein Handelsgewerbe ist. Der GewO und dem Handelsgesetzbuch unterliegt insoweit der gleiche Gewerbebegriff. Versicherungsunternehmungen werden aus besonderen versicherungsrechtlichen Gründen, nicht aber, weil sie kein Gewerbebetrieb wären, nach § 6 GewO von den Vorschriften der GewO ausgenommen. Das HAG bietet keine Stütze dafür, daß unter einem Gewerbetreibenden lediglich ein solcher zu verstehen sei, auf den die Vorschriften der GewO anzuwenden sind. Das hat auch nicht Maus (aaO) ausgeführt; ihn hat die Beklagte insoweit mißverstanden. Das ergibt sich schon daraus, daß Maus (aaO) ausdrücklich auf die Literatur und Rechtsprechung zum Handelsrecht verweist. Auch das BAG vertritt in dem Urteil vom 10. Juli 1963 (aaO) die Auffassung, daß als Gewerbebetrieb ein solcher "des Handwerks, der Industrie, des Handels usw." in Betracht kommt. Dafür spricht ferner, worauf das Berufungsgericht mit Recht hingewiesen hat, daß nach § 2 Abs. 4 HAG die Eigenschaft als Heimarbeiter nicht verlorengeht, wenn Auftraggeber Personen oder Personenvereinigungen des privaten oder öffentlichen Rechts sind, welche die Herstellung, Bearbeitung oder Verpackung von Waren nicht zum Zweck der Gewinnerzielung betreiben. Die Eigenschaft der Arbeitgeberin der Klägerin als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit ist deshalb in diesem Zusammenhang auf jeden Fall unerheblich.

Die Beklagte meint nun weiter unter Hinweis auf Maus (Anm. zu AP Nr. 3 zu § 2 HAG unter Ziff. 1), Heimarbeiter könne niemand sein, der unmittelbar, wie die Klägerin, für den Letztverbraucher arbeite. Richtig ist, daß in Praxis und Literatur bisher die Auffassung vertreten wurde, zwischen dem sog. Letztverbraucher und dem Heimarbeiter müsse ein Zwischenglied eingeschaltet sein, der sog. Verleger bzw. Auftraggeber, so daß immer ein dreigliedriger Tatbestand für die Verwertung der Arbeitsergebnisse vorhanden sein müsse (Heimarbeiter - Auftraggeber - Letztverbraucher; vgl. Maus aaO mit weiteren Nachweisen aus dem Schrifttum). Zutreffend hat bereits das BAG (aaO) ausgeführt, daß diese Auffassung im Gesetz (§ 2 Abs. 1 HAG) keine Stütze finde. Auch übersieht die Beklagte, daß Maus (aaO Bl. 4 R unter Ziff. 3) insoweit dem BAG ausdrücklich zugestimmt hat und selbst die Ansicht vertritt, daß im Hinblick auf § 2 Abs. 4 HAG auch ein zweigliedriger Tatbestand die Heimarbeitereigenschaft begründen könne. Da der Gesetzeswortlaut die Dreigliedrigkeit nicht erfordert und im Vordergrund die schutzwürdige Interessenlage des Heimarbeiters zu stehen hat, kann es auf dieses von der Beklagten für erforderlich gehaltene Merkmal nicht entscheidend ankommen.

Die Revision ist ferner der Auffassung, die Klägerin sei auch deshalb keine Heimarbeiterin gewesen, weil sie eine Tätigkeit verrichtet habe, die in den typischen Aufgabenbereich der Büroangestellten und nicht in den der "gewerblichen Arbeiten" falle, und weil die Sozialversicherungsbeiträge zur Angestelltenversicherung, nicht aber zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet worden seien. Dieser Auffassung ist das Berufungsgericht mit Recht entgegengetreten. Zu Unrecht meint die Beklagte, gewerbliche Arbeit im Sinne des § 2 Abs. 1 HAG setze eine Tätigkeit voraus, welche der Herstellung, Bearbeitung oder Verpackung von Waren diene. Sie übersieht dabei, daß das Merkmal der gewerblichen Arbeit im Sinne des § 2 Abs. 1 HAG das Herstellen und Bearbeiten von Waren zwar umfaßt, sich jedoch nicht darin erschöpft. Der Begriff der gewerblichen Arbeit ist weit auszulegen. Es ist unerheblich, ob die Tätigkeit, würde sie in abhängiger Arbeit geleistet, als die eines gewerblichen Arbeiters oder eines Angestellten anzusehen wäre. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob es sich um eine auf gewisse Dauer angelegte und auf die Sicherstellung des Lebensunterhalts gerichtete Tätigkeit handelt, die nach der im Laufe der Jahre möglicherweise wechselnden Verkehrsanschauung als typische Heimarbeit anzusehen ist (BAG 14, 245 = AP Nr. 3 zu § 2 HAG). Der Beklagten ist indes zuzugeben, daß weder das Urteil des BAG vom 10. Juli 1963 (BAG aaO) noch die Ausführungen von Maus in der Anmerkung hierzu (AP Nr. 3 zu § 2 HAG) schon bestätigen, daß es sich bei der in der Wohnung verrichteten Tätigkeit einer Phonotypistin um die Tätigkeit einer Heimarbeiterin im Sinne des § 2 Abs. 1 HAG handelt. Das BAG (aaO) hatte sich nur mit der Frage des Adressenschreibens, also mit einer mehr manuellen und mechanischen Tätigkeit, zu befassen, während es im vorliegenden Fall um die Beurteilung geht, ob auch eine über manuelle und mechanische Fertigkeiten hinausgehende, in gewissem Umfang - geistiges Mitdenken notwendig machende Arbeit noch als typische Heimarbeit nach der Verkehrsanschauung angesehen werden kann. Das hat in der Tat Maus (aaO) verneint; er meint, von Heimarbeit im Sinne der Verkehrsanschauung könne nur die Rede sein, wenn eine Tätigkeit geleistet werde, "die man nach der bisherigen Entwicklung als typische Heimarbeit bezeichnen" könne. Auch Maus gibt aber damit zu erkennen, daß er ebenso wie das BAG (aaO) bei der Beurteilung einer Tätigkeit als Heimarbeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 HAG von der Bestimmung durch die Verkehrsanschauung ausgeht. Da diese im Laufe der Zeit wechseln kann (BAG aaO), steht auch nicht ein für allemal fest, daß Heimarbeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 HAG nur mehr manuelle und mechanische Tätigkeiten sein können. Heimarbeiter sind wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit und der Eigenart ihrer sozialen Lage in besonderem Maße schutzbedürftig (BAG aaO). Die besondere Schutzbedürftigkeit liegt darin, daß die Heimarbeit wegen ihrer eigenartigen Struktur und ihrer starken Abhängigkeit von Konjunkturschwankungen stets der Gefahr besonderer sozialer Mißstände ausgesetzt ist, andererseits aber bei einer angespannten, unter Arbeitskräftemangel leidenden Volkswirtschaft auf die Beschäftigung von Personen in Heimarbeit nicht verzichtet werden kann. Heimarbeiter wurden schon bisher geschützt, weil sie den Auftraggebern nicht in einheitlichen Organisationen gegenüberstehen und ihnen daher nicht wirtschaftlich gleichstark beim Aushandeln der Arbeitsbedingungen gegenübertreten können. Sie sind nicht in der Lage - wie die im Betrieb zusammengefaßten Arbeitnehmer -, sich kennenzulernen, ihre Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam für ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einzutreten. Sofern eine staatliche Überwachung nicht funktioniert, können sie viel unauffälliger als Arbeitnehmer in den Betrieben beschäftigt werden. Sie sind daher besonders der Gefahr wirtschaftlicher Benachteiligung ausgesetzt (vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Bd. I, § 10 I 2 - S. 57; Maus, HAG, 2. Aufl., Einleitung S. 26; Richter, Handbuch für Heimarbeit - 1951 - S. 31; BT-Drucks. VI/1838 und VI/2278). Die soziologischen Veränderungen in der Industriegesellschaft können es somit rechtfertigen, im geschäftlichen Verkehr eine qualifizierte und weniger manuell und mechanisch bestimmte Tätigkeit als typische Heimarbeit anzusehen, wenn angesichts der gewandelten Bedingungen in der Industriegesellschaft die Lage solcher Arbeitskräfte sie ebenso schutzbedürftig erscheinen läßt, wie das unter den vorgenannten Voraussetzungen schon für bisher als typische Heimarbeit angesehene Tätigkeiten galt. Es kommt deshalb nicht entscheidend darauf an, ob die Tätigkeit der Klägerin als Phonotypistin in selbstgewählter Betriebsstätte eine mehr mechanische oder manuelle Tätigkeit war, sondern maßgebend ist, ob sich bereits eine genügend gefestigte Verkehrsanschauung in dem hier in Rede stehenden Zeitraum (August 1966 bis Juli 1967) feststellen läßt, daß die Beschäftigung einer Phonotypistin in selbstgewählter Betriebsstätte und freibestimmter Arbeitszeit als typische, die Merkmale der Schutzbedürftigkeit der Heimarbeit aufweisende Tätigkeit angesehen wurde.

Für das Vorliegen einer solchen Verkehrsanschauung geben die im ersten Rechtszug eingeholten Auskünfte der Verbände der Sozialpartner einen gewissen Anhalt. Indessen reichen sie noch nicht aus, um das Bestehen einer gefestigten Verkehrsanschauung schon für den Geltungsbereich des AVAVG allgemein bejahen zu können. Dazu bedarf es noch weiterer eingehenderer Feststellungen des Berufungsgerichts, die das Revisionsgericht von sich aus nicht treffen kann (§ 170 SGG). Der Rechtsstreit muß deshalb an das LSG zurückverwiesen werden. Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht unter Beachtung der vorstehenden Leitlinien, nach denen sich die Anerkennung einer Tätigkeit als schutzbedürftig im Sinne der Heimarbeit zu richten hat, durch umfassende Ermittlungen bei den zuständigen Wirtschaftskreisen (Industrie- und Handelskammern, Arbeitgeber-, Unternehmer- und Arbeitnehmerverbänden) feststellen müssen, ob bereits 1966/67 die Tätigkeit einer Phonotypistin in selbstgewählter Betriebsstätte und selbstbestimmter Arbeitszeit von der Verkehrsanschauung in der Bundesrepublik allgemein als typische Heimarbeit anerkannt worden ist.

Das Berufungsgericht wird in seinem abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

RegNr, 4248

ABA 1972, 86 (LT1)

USK, 71190 (ST1-4)

AP § 2 HAG (LT1), Nr 7

Breith 1972, 427 (LT1)

Die Beiträge 1972, 22 (ST1-3)

SozR § 195 AVAVG (LT1), Nr 1

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