Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 22.03.1976)

 

Tenor

  • Die Beklagte wird entsprechend ihrem Anerkenntnis verurteilt, dem Kläger die Bergmannsrente für die Zeit vom 1. Januar 1974 an zu zahlen.
  • Im übrigen wird auf die Revision der Beklagten das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. März 1976 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die dem Kläger gewährte Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit zu entziehen.

Der Kläger, der im Bergbau bis zum 28. Februar 1960 als Hauer, danach als Hilfszimmerer und Rauber und außerhalb des Bergbaus als Arbeiter und Schauermann tätig gewesen war, bezog von der Beklagten seit dem 1. Dezember 1961 wegen der Folgen eines am 25. Juli 1961 erlittenen Verkehrsunfalls die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit. Er wurde auf Veranlassung und auf Kosten der Beklagten in der Zeit vom 2. Mai 1972 bis zum 31. Mai 1973 zum Büropraktiker umgeschult. Nach bestandener Prüfung ist er jedoch nicht in eine entsprechende Stelle vermittelt worden. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 15. November 1973 die dem Kläger gewährte Rente mit Ablauf des Monats Dezember 1973 entzogen, weil der Kläger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr vermindert bergmännisch berufsfähig, berufsunfähig oder erwerbsunfähig sei. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 3. Juni 1975 den Bescheid der Beklagten vom 15. November 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1974 aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 22. März 1976 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, in den Verhältnissen des Klägers sei seit der Rentengewährung eine die Rentenentziehung rechtfertigende wesentliche Änderung nicht eingetreten. Der Gesundheitszustand sei im Verhältnis zum Zeitpunkt der Rentengewährung im wesentlichen unverändert geblieben. Die Umschulung zum Büropraktiker und die dadurch erworbenen neuen Kenntnisse und Fähigkeiten seien ebenfalls nicht als wesentliche Änderung anzusehen.

Der Kläger, der noch keine Berufserfahrung als Büropraktiker habe, sei nicht in der Lage, beide Hände voll einzusetzen, so daß er die berufliche Tätigkeit eines Büropraktikers nicht vollwertig verrichten könne. Eine Vermittlung des Klägers in eine entsprechende Stelle sei – wohl nicht zuletzt wegen dieser Behinderung – bisher nicht möglich gewesen. Die Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) lägen also nicht vor. Auch die Tatbestandsmerkmale des § 86 Abs. 2 RKG seien nicht erfüllt. Der Kläger sei nicht in der Lage, in einem knappschaftlichen Betrieb die persönliche Rentenbemessungsgrundlage von 20. 174,91 DM jährlich zu erwerben. Ein solches Einkommen könnte er lediglich in der Gruppe 4 der kaufmännischen Angestellten erzielen. Für solche Tätigkeiten fehlten ihm aber die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der – vom LSG zugelassenen – Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, eine Änderung in den Verhältnissen des Klägers sei in mehrfacher Hinsicht eingetreten. Neben einer Besserung des Gesundheitszustandes und einer Anpassung an die körperlichen Gegebenheiten träten neue Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Erwerb des Führerscheins mit der Möglichkeit zur Nutzung eines Kraftwagens. Infolge dieser Änderungen sei der Kläger wieder in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Er könne als Büropraktiker bzw. Angestellter in der Verwaltung tätig werden. Dem LSG könne nicht darin gefolgt werden, daß die Frage nach der Fähigkeit zur vollwertigen Verrichtung dieser Tätigkeiten erst nach Tätigwerden auf einem entsprechenden Arbeitsplatz zu beantworten sei. Das Berufungsgericht habe bei seiner Wertung unberücksichtigt gelassen, daß die Umschulung des Klägers zum Büropraktiker in Kenntnis der Anforderungen an einen entsprechenden Arbeitnehmer in Wirtschaft und Verwaltung im Einverständnis mit dem Kläger, nach Beratung durch einen Arzt und durch zwei Psychologen sowie nach Durchführung einer zehntägigen Berufsfindungsmaßnahme mit Arbeitserprobung erfolgt sei. Der erfolgreiche Abschluß einer Umschulung reiche für die Rentenentziehung aus; durch tatsächliche Ausnutzung der erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten werde nur zusätzlich bestätigt, daß die Umschulung erfolgreich gewesen sei. Vermittlungsschwierigkeiten müßten unberücksichtigt bleiben. Ein Versicherter müsse sich grundsätzlich auf ihm zumutbare Tätigkeiten verweisen lassen, selbst wenn es wegen der Besonderheit seines Leidens nicht einfach sei, einen Arbeitsplatz zu finden. Der Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten habe dazu geführt, daß der Kläger nunmehr in der Lage sei, als Büropraktiker oder kaufmännischer Angestellter zu arbeiten, so daß er nicht mehr erwerbs- oder berufsunfähig sei. Das LSG habe im übrigen auch prüfen müssen, ob der Kläger nicht in der Lage sei, andere Tätigkeiten, z .B. als Pförtner, Telefonist oder Hilfsarbeiter im Büro zu verrichten. Auch die Verweisung auf diese Arbeiten stütze die Entziehung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und die Nichtgewährung der Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit.

Im Termin hat die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Bergmannsrente über den 31. Dezember 1973 hinaus anerkannt. Im übrigen hat sie beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der im Termin nicht vertreten war, beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat die Beklagte – entsprechend ihrem in der mündlichen Verhandlung erklärten Teilanerkenntnis – verurteilt, dem Kläger die Bergmannsrente für die Zeit vom 1. Januar 1974 an zu zahlen. Eine entsprechende teilweise Erledigung des Rechtsstreits aufgrund einer Annahme dieses Anerkenntnisses durch den Kläger war nicht möglich, weil dieser in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, so daß ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung durch Anerkenntnisurteil anzunehmen ist. Die Verurteilung durch Anerkenntnisurteil ist nach dem gemäß § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbaren § 307 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) geboten, ohne daß es der Prüfung bedurfte, ob die Voraussetzungen des § 45 RKG für die Gewährung der Bergmannsrente vorliegen. Der entsprechenden Anwendung des § 307 Abs. 1 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren stehen die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten, insbesondere der Grundsatz des Amtsbetriebes und das Prinzip der Amtsermittlung nicht entgegen. Das Prinzip der Amtsermittlung wird vor allem von der entsprechenden Anwendung des § 307 Abs. 1 ZPO nicht berührt. Das Anerkenntnisurteil ist nicht Folge eines Zugestehens von Tatsachen, das abweichend vom Zivilprozeß (§ 288 ZPO) wegen der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) im sozialgerichtlichen Verfahren ohne Bedeutung ist. Es trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, daß die Beteiligten außerhalb des Rechtsstreits (z.B. durch Vertrag oder Verwaltungsakt) oder im Prozeß (z.B. durch gerichtlichen Vergleich oder angenommenes Anerkenntnis nach § 101 SGG) über den Streitgegenstand verfügen können. Insbesondere § 101 Abs. 2 SGG zeigt deutlich, daß das Anerkenntnis auch im sozialgerichtlichen Verfahren von Bedeutung ist. Diese Vorschrift macht zwar im allgemeinen den Erlaß eines Anerkenntnisurteiles überflüssig, weil das angenommene Anerkenntnis den Rechtsstreit unmittelbar erledigt, ohne daß es noch eines Urteils bedarf. Diese Vorschrift ist aber weder lex spezialis zu § 307 Abs. 1 ZPO noch macht sie dessen entsprechende Anwendung allgemein überflüssig (vgl. hierzu Brackmann, “Handbuch der Sozialversicherung”, 1. bis 8. Auflage 1977, Bd. I/2 S. 246w; Peters/Sautter/Wolff, “Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit”, 4. Aufl. 1977, Vorbemerkung 2d) cc) zu §§ 123 – 142 S. II/102 – 4 –). Wird das Anerkenntnis – wie im vorliegenden Fall – vom Prozeßgegner nicht angenommen, weil er in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten ist, so ist bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen unter Bejahung des Rechtsschutzbedürfnisses über den anerkannten Anspruch durch Anerkenntnisurteil zu entscheiden. Es bleibt in diesen Fällen trotz des § 101 Abs. 2 SGG ein Bedürfnis für die entsprechende Anwendung des § 307 Abs. 1 ZPO. Eines ausdrücklichen Antrags auf Erlaß eines Anerkenntnisurteiles (§ 307 Abs. 1 ZPO) bedurfte es im vorliegenden Fall nicht (vgl. BGHZ 10, 333, 336; Stein/Jonas, Komm. zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl. 1972, Anm. IV/2 zu § 307). Mit dem schriftsätzlich gestellten Antrag des Klägers auf Zurückweisung der Revision der Beklagten, der durch den Sachvortrag des Berichterstatters Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden ist, wird im Ergebnis die Weiterzahlung der Bergmannsrente über den Entziehungstag hinaus erstrebt. Dieser Antrag ist – wenn dies auch nicht ausdrücklich gesagt ist – auch dahin zu verstehen, daß bei Abgabe eines Anerkenntnisses des Anspruchs durch die Beklagte durch Anerkenntnisurteil entschieden werden soll.

Soweit die zulässige Revision der Beklagten die Gesamtleistung wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit betrifft, ist sie insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung setzt nach § 86 Abs. 1 RKG, § 1286 Abs. 1 RVO – entgegen der Ansicht des LSG – keine “wesentliche” Änderung der Verhältnisse voraus, es genügt vielmehr jede Änderung in den Verhältnissen des Versicherten, die zur Folge hat, daß er nicht mehr berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist. Nach den nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts, die nach § 163 SGG für den Senat bindend sind, hat der Kläger durch die Umschulung zum Büropraktiker neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben. Darin liegt eine Änderung der Verhältnisse, die dann die Rentenentziehung rechtfertigt, wenn durch sie die bis dahin bestehende Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit entfallen ist. Das ist dann der Fall, wenn die neuen Kenntnisse und Fähigkeiten den Kläger in die Lage versetzen, eine Tätigkeit zu verrichten, auf die er nach § 1246 RVO, § 46 RKG und § 1247 RVO, § 47 RKG verwiesen werden kann. Das LSG ist zwar davon ausgegangen, daß der Kläger wegen der Behinderung der rechten Hand die Tätigkeit eines Büropraktikers nicht vollwertig verrichten könne. Diese Feststellung ist, aber zu pauschal und unbestimmt, um damit die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit eines Büropraktikers auszuschließen. Ein Versicherter kann nur dann auf eine zumutbare, seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit nicht verwiesen werden, wenn er solche Arbeitsverrichtungen, die für diese Tätigkeit wesentlich sind, nicht ausüben kann. Das Berufungsurteil läßt nicht erkennen, an welchen konkreten Arbeitsverrichtungen, die für die Tätigkeit eines Büropraktikers wesentlich sind, der Kläger wegen der eingeschränkten Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand gehindert ist. Im übrigen hat die Beklagte auch mit Recht die Verletzung des § 128 Abs. 1 SGG gerügt. Das LSG hätte nicht ohne Berücksichtigung des Ergebnisses·der durchgeführten Arbeitserprobung und des Erfolgs der Umschulung – wegen der fehlgeschlagenen Vermittlungsversuche – annehmen dürfen, der Kläger könne die Tätigkeit eines Büropraktikers nicht vollwertig verrichten. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß sich ein Versicherter grundsätzlich auf eine ihm zumutbare Tätigkeit, zu deren Verrichtung er in der Lage ist, verweisen lassen muß, selbst wenn es wegen der Besonderheiten seines Leidens vielleicht nicht einfach ist, einen Arbeitsplatz zu finden (Sozialrecht Nr. 11 zu § 46 RKG). Das Tatsachengericht darf zwar fehlgeschlagene Vermittlungsversuche im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigen; doch darf es andere wesentliche Umstände, die auf die Fähigkeit zur Verrichtung der Tätigkeit schließen lassen – wie die Arbeitserprobung und die bestandene Prüfung –, nicht außer acht lassen. Das Berufungsgericht wird bei der erneuten Entscheidung, unter Berücksichtigung dieser Umstände feststellen müssen, ob der Kläger die Tätigkeit eines Büropraktikers verrichten kann oder an welchen konkreten Arbeitsverrichtungen, die für diese Tätigkeit wesentlich sind, er durch die eingeschränkte Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand gehindert ist.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

DVBl. 1980, 88

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