Leitsatz (amtlich)

Wird ein während der Mitgliedschaft erkrankter Versicherter nach seinem Ausscheiden aus der Versicherung wegen dieser Krankheit arbeitsunfähig, so hat er den vollen Anspruch auf Krankengeld im Rahmen des RVO § 183 Abs 2; RVO § 183 Abs 1 S 2 gilt für diesen Anspruch nicht.

 

Normenkette

RVO § 183 Abs. 2 Fassung: 1961-07-12, Abs. 1 S. 2 Fassung: 1961-07-12

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. Oktober 1965 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, wie lange einem Versicherten Krankengeld zusteht, der noch während seines Beschäftigungsverhältnisses behandlungsbedürftig erkrankt, aber erst nach seinem Ausscheiden arbeitsunfähig wird.

Der Kläger war wegen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung vom 10. Juni 1960 an Mitglied der beklagten Ortskrankenkasse. In der Folgezeit erkrankte der Kläger mehrfach wegen derselben Herz- und Kreislaufbeschwerden und erhielt deswegen in der Zeit vom 14. Oktober 1961 bis 1. Mai 1963 von der Beklagten Krankengeld für insgesamt 28 Wochen und zwei Tage. Am 18. Oktober 1963 schied er aus der Beschäftigung aus, um sich eine leichtere Arbeit zu suchen. Zu der beabsichtigten neuen Arbeitsaufnahme kam es nicht, weil der Kläger am 22. Oktober 1963 von seinem behandelnden Arzt Dr. G wegen des gleichen Herzleidens erneut arbeitsunfähig krank geschrieben wurde. Die Beklagte gewährte dem Kläger Krankengeld nur bis zum 17. April 1964 und lehnte die Zahlung über diesen Zeitpunkt hinaus mit Schreiben vom 3. Januar 1964 unter Hinweis auf § 183 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab, weil ein Anspruch auf Krankenpflege auch nur für längstens 26 Wochen nach dem Ausscheiden aus der Mitgliedschaft bestehe. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger nach Maßgabe von Gesetz und Satzung Barleistungen bis zur Höchstdauer von 78 Wochen zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es genüge, daß der Versicherungsfall während des Versicherungsverhältnisses eingetreten sei. Versicherungsfall sei der Eintritt der Erkrankung, zu dem als weitere Voraussetzung des Krankengeldanspruchs die Arbeitsunfähigkeit hinzutreten müsse. Im vorliegenden Fall sei der Versicherungsfall der Krankheit vor Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses eingetreten und habe von dem auf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgenden Tage weitere 78 Wochen hindurch fortbestanden. Für die Dauer des Krankengeldanspruchs sei § 183 Abs. 2 RVO maßgebend, der für den vorliegenden Fall keine Ausnahme von der Frist der 78 Wochen kenne. § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO sei hier nicht anzuwenden, da er nur für die Krankenpflege, nicht aber für das Krankengeld gelte. Auch § 214 RVO komme nicht zum Zuge, weil die Erkrankung noch während des Beschäftigungsverhältnisses eingetreten sei. Dem Kläger stehe daher noch Krankengeld bis zum 4. Oktober 1964 zu.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt.

Sie trägt vor, in den Fällen, in denen wie hier die behandlungsbedürftige Erkrankung vor dem Ausscheiden aus der Versicherung, die Arbeitsunfähigkeit aber erst nachher eingetreten sei, dürfe das Krankengeld höchstens solange gezahlt werden, wie die Krankenpflege zu gewähren sei, die Krankengeldzahlung sei also in analoger Anwendung des § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO spätestens 26 Wochen nach dem Ausscheiden einzustellen. Wenn die Krankheit den Versicherten erst nach dem Ausscheiden arbeitsunfähig krank mache, so würde die uneingeschränkte Anwendung des § 183 Abs. 2 RVO dazu führen, daß dem Versicherten vom Zeitpunkt seiner Arbeitsunfähigkeit an für längstens 78 Wochen Krankengeld zustünde, während die Krankenpflege nur für 26 Wochen zu beanspruchen sei. Grundleistung in der Krankenversicherung sei aber die Krankenpflege. Für die Nebenaufgabe, die Zahlung von Krankengeld, die den Lebensunterhalt des Versicherten und seiner Angehörigen sicherstellen solle, hätten andere Sozialleistungsträger einzutreten, wenn der Versicherte keinen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld habe. Es werde der Systematik und der Aufgabe der Krankenversicherung nicht gerecht, wenn die Krankenkassen die sekundären Leistungen (Krankengeld) erbringen müßten, ohne zur primären Leistung (Krankenpflege) verpflichtet zu sein.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Hamburg vom 5. Oktober 1965 und des SG Hamburg vom 10. Juni 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.

Die Dauer des Anspruchs auf Krankengeld richtet sich nicht nach § 214 Abs. 1 RVO, weil der Versicherungsfall (eine behandlungsbedürftige Erkrankung) noch während des Beschäftigungsverhältnisses und nicht erst nach dessen Beendigung eingetreten ist. Maßgebend ist vielmehr § 183 Abs. 2 RVO. Hiernach wird Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung gewährt, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch nur für höchstens 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren. § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO, wonach die sonst ohne zeitliche Begrenzung gewährte Krankenpflege spätestens 26 Wochen nach dem Ausscheiden endet, wenn ein Mitglied während des Bezugs von Krankenpflege aus der Versicherung ausscheidet, gilt nicht für das Krankengeld. Denn Abs. 1 regelt die Dauer der Krankenpflege, die nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei usw. umfaßt. Dagegen legt § 183 Abs. 2 RVO die Dauer des Krankengeldes fest, das nach § 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO zu gewähren ist, wenn die Krankheit den Versicherten arbeitsunfähig macht. § 183 Abs. 1 und 2 RVO enthalten also eine getrennte Regelung für die beiden Kassenleistungen. Schon aus dem Wortlaut des Gesetzes ist somit ersichtlich, daß der Gesetzgeber beide Ansprüche bezüglich ihrer Dauer verschieden geregelt hat.

Aber auch die bisherige Entwicklung bestätigt diese Auffassung. Schon in dem Erlaß des Reichsarbeitsministers über Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 2. November 1943 (AN 1943 S. 485) ist die Dauer der Krankenpflege und des Krankengeldes verschieden geregelt (vgl. Abschn. I Nr. 1 für die Krankenpflege; Abschn. I Nr. 2 Buchst. a und c für das Krankengeld). Danach endete der Anspruch auf Krankenpflege - wie nach heutigem Recht - spätestens 26 Wochen nach dem Ausscheiden aus der Versicherung, während der Anspruch auf Krankengeld, wenn die Arbeitsunfähigkeit erst nach dem Ausscheiden aus der Versicherung eingetreten war, über diesen Zeitpunkt hinaus und auch mit insgesamt längeren Bezugszeiten gegeben sein konnte. Auch das Reichsversicherungsamt (RVA) hat in der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5545 vom 25. November 1943 (AN 1944, S. 38) ausgeführt, daß Krankengeld auch über die Zeit der Gewährung von Krankenpflege hinaus nach § 183 Abs. 1 Satz 1 RVO aF auf die volle satzungsmäßige Dauer (vgl. Abschn. I 2 c Satz 1 des genannten Erlasses) gewährt werden müsse. In der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5582 vom 15. September 1944 (AN 1944 S. 286) hat das RVA diese Auffassung bestätigt.

Wenn der Gesetzgeber in Abkehr von dem bisherigen Rechtsgedanken, daß sich die zeitliche Begrenzung der Krankenpflege nach dem Ausscheiden nicht auf den Krankengeldanspruch auswirken, dieser vielmehr jeweils "auf die volle satzungsmäßige Dauer" gewährt werden soll, bei der Neufassung des § 183 Abs. 1 und 2 RVO durch das Gesetz vom 12. Juli 1961 - BGBl I 913 - die Bezugsdauer des Krankengeldes von der der Krankenpflege hätte abhängig machen wollen, so wäre das in der Neuregelung sicherlich deutlich zum Ausdruck gekommen. Die z. T. wörtliche Übernahme der alten Regelung (vgl. Abschn. I Nr. 2 des Erl. von 1943 und § 183 Abs. 1 RVO nF) zeigt aber im Gegenteil, daß der Gesetzgeber sich bewußt an die alte Regelung angelehnt und damit auch die grundsätzlich unterschiedliche Bezugsdauer von Krankenpflege und Krankengeld gewollt hat. Es sprechen auch beachtliche Gründe für eine kürzere Dauer der Krankenpflege - im Gegensatz zum Krankengeld - bei Personen, die aus der Versicherung ausgeschieden sind. Jemand, der nur behandlungsbedürftig, aber nicht arbeitsunfähig ist und aus der Versicherung ausscheidet, hat die Möglichkeit, eine neue versicherungspflichtige Beschäftigung einzugehen und damit für einen neuen Versicherungsschutz im Krankheitsfall zu sorgen. Diese Möglichkeit hat aber ein arbeitsunfähig Erkrankter nicht. Er ist auf das Krankengeld angewiesen.

Demnach berührt § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO nicht die Dauer des Anspruchs auf Krankengeld. Diese richtet sich vielmehr allein nach § 183 Abs. 2 RVO, auch wenn das während der Mitgliedschaft erkrankte Mitglied erst nach seinem Ausscheiden aus der Versicherung arbeitsunfähig geworden ist. Der Kläger hat daher im vorliegenden Fall einen Anspruch auf Krankengeld bis zu 78 Wochen, wie ihn das DSG zugebilligt hat.

Nicht zu prüfen war hier, ob in solchen Fällen - d. h. beim Zusammentreffen von Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit - auch Krankenpflege über die Dauer des § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO hinaus zu gewähren ist.

Die Revision der Beklagten muß daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2296900

BSGE, 57

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