Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 04.02.1955)

SG Konstanz (Urteil vom 19.08.1954)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. Februar 1955 aufgehoben.

Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 19. August 1954 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Die Mutter der Kläger ist seit 1942 mit dem Versicherten Emil R. verheiratet. Im Jahre 1943 wurde ihr Sohn Manfred geboren. Seit dem 22. Juni 1944 wird Emil R. vermißt; eine gerichtliche Todeserklärung liegt nicht vor. Am 4. April 1953 wurden die Kläger geboren.

Manfred R. erhält vom 1. Juli 1948 an Waisenrente nach seinem verschollenen Vater; ein Todeszeitpunkt ist in diesem Bescheid nicht ausdrücklich festgestellt worden. Seit dem 1. August 1955 bezieht die Mutter der Kläger Witwenrente.

Einen Antrag der Kläger auf Waisenrente lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) ab (Bescheid vom 26.3.1954). Sie stellte in diesem Bescheid nach § 1260 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF als Zeitpunkt des Todes des Emil R. den 30. Juni 1944 fest und begründete die Ablehnung des Antrags damit, daß bei Zugrundelegung dieses Todeszeitpunkts die Ehe als aufgelöst zu gelten habe, die Kläger somit mehr als 302 Tage nach der Auflösung der Ehe geboren und deshalb nicht „eheliche Kinder” im Sinne des § 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO aF seien.

Die Klage vor dem Sozialgericht (SG) Konstanz hatte keinen Erfolg (Urteil vom 19.8.1954). Auf die Berufung der Kläger hin verurteilte das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die beklagte LVA antragsgemäß, den Klägern Waisenrente vom 1. Januar 1954 an zu gewähren; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 4.2.1955).

Gegen dieses Urteil hat die beklagte LVA Revision eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils das Urteil des SG zu bestätigen.

Auf eine entsprechende Vorlage des Senats nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Große Senat am 11. Mai 1960 beschlossen (BSG 12 S. 147):

Die Feststellung des Todeszeitpunkts nach § 1260 Satz 1 RVO aF ist nicht dafür maßgebend, ob die den Anspruch erhebende Waise ein „eheliches Kind” des verschollenen Versicherten im Sinne des § 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO aF ist.

Unter Berufung auf diesen Beschluß hat die beklagte LVA bei dem zuständigen Staatsanwalt beantragt, die Ehelichkeit der Kläger anzufechten oder die gerichtliche Todeserklärung des verschollenen Emil R. zu beantragen. Der Staatsanwalt machte von der Möglichkeit Gebrauch, die Ehelichkeit der Kläger anzufechten. Die beklagte LVA hat nunmehr – unter Beifügung von Fotokopien der Geburtsurkunden der Kläger mit entsprechenden Randvermerken – geltend gemacht, die Unehelichkeit der Kläger sei rechtskräftig festgestellt worden (Urteil des Landgerichts Waldshut vom 23.3.1961, verkündet am 27.4.1961).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der beklagten LVA ist begründet. Die Klage muß abgewiesen werden, da die Kläger nicht „Kinder” des Versicherten im Sinne des § 1258 Abs. 1 Satz 1 RVO aF, § 1267 Abs. 1 Satz 1 RVO nF sind. Die Annahme des LSG, daß die Kläger „eheliche Kinder” des Versicherten sind (vgl. § 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO aF, § 1267 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1262 Abs. 2 Nr. 1 RVO nF), ist durch die nach Verkündung des angefochtenen Urteils ergangene rechtskräftige Feststellung der Unehelichkeit hinfällig geworden. Nach dieser Feststellung, die auf den Tag der Geburt zurückwirkt (vgl. Palandt, BGB 21. Aufl. § 1593 Anm. 2), kann die Unehelichkeit der Kläger von jedermann geltend gemacht werden (§ 1593 BGB).

Die Tatsache der rechtskräftigen Feststellung der Unehelichkeit der Kläger kann im vorliegenden Fall vom Revisionsgericht berücksichtigt werden, obwohl diese Feststellung erst während des Revisionsverfahrens getroffen wurde. Grundsätzlich können zwar erst nach der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht eingetretene Umstände – „neue Tatsachen” – keine Berücksichtigung bei der Entscheidung des Revisionsgerichts finden (vgl. § 163 SGG). Dieser Grundsatz gilt jedoch dann nicht, wenn die neue Tatsache einen Wiederaufnahmegrund im schwebenden Rechtsstreit abgeben würde. Mit Recht sah das Reichsgericht diese Ausnahme als durch die Erwägung gerechtfertigt an, daß es im Sinne einer vernünftigen Prozeßökonomie liege, Wiederaufnahmegründe noch in einem anhängigen Rechtsstreit zu erledigen, anstatt die Partei, die sie geltend mache, damit auf ein nach rechtskräftigem Abschluß des anhängigen Rechtsstreits einzuleitendes Wiederaufnahmeverfahren zu verweisen (Urteil vom 29. März 1944 in Deutsches Recht 1944, 498; vgl. auch BGHZ 3, 65; BVerwG 10, 357; Stein/Jonas/Schönke/Pohle, ZPO 18. Aufl. § 561 Anm. II 2c; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts 9. Aufl. S. 713; Baumbach/Lauterbach, ZPO 26. Aufl. § 561 Anm. 3 c; Peters/Sautter/Wolff, SGG 3. Aufl. § 163 Anm. 3 b).

Diese Begründung kann auch dann durchgreifen, wenn im Revisionsverfahren mit dem neuen Vorbringen ein Restitutionsgrund nach § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. § 580 Nr. 7 b der Zivilprozeßordnung (ZPO) geltend gemacht wird. Allerdings birgt gerade der Fall, daß der Beteiligte sich erst in der Revisionsinstanz auf eine aufgefundene oder für ihn verfügbar gewordene Urkunde beruft, die Gefahr in sich, daß mit dem neuen Vorbringen der Versuch einer mißbräuchlichen Hemmung des Eintritts der Rechtskraft oder der Vollstreckung eines in der Berufungsinstanz ergangenen Urteils unternommen wird (BGHZ 3, 65, 69; 5, 240, 247 ff.; vgl. auch BGH in NJW 1955, 1359 Nr. 11). Insbesondere ist denkbar, daß die Urkunde nur an Stelle eines anderen, keinen Restitutionsgrund bildenden Beweismittels in den Prozeß eingeführt wird, um einen Restitutionsgrund zu gewinnen. Lassen sich diese Bedenken jedoch nach „der jeweiligen verfahrensrechtlichen Lage des anhängigen Rechtsstreits” (BGHZ 5, 248) ausräumen, so kann auch die erst in der Revisionsinstanz für den Beteiligten verfügbar gewordene Urkunde im Sinne des § 580 Nr. 7 b ZPO (vgl. für das Verwaltungsverfahren der Träger der Rentenversicherung § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO) einen Restitutionsgrund darstellen.

Grundsätzlich ist hierfür allerdings erforderlich, daß die Urkunde vor der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz errichtet ist (BGHZ 2, 245, 246). Von diesem Grundsatz sind jedoch Ausnahmen zuzulassen für Urkunden, die ihrer Natur nach nicht im zeitlichen Zusammenhang mit den durch sie bezeugten Tatsachen errichtet werden und die deshalb zwangsläufig nur Tatsachen beweisen können, die einer zurückliegenden Zeit angehören (RG in HRR 1933, 1621; BGHZ 2, 245, 247). Demgemäß hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit Recht den nach Rechtskraft eines Urteils in einem Scheidungsverfahren eingetragenen Randvermerk zu einer Geburtsurkunde, in dem die Legitimation eines Kindes durch nachfolgende Eheschließung der Eltern festgestellt wurde (vgl. § 31 Abs. 1 des Personenstandsgesetzes idF vom 8. August 1957, BGBl I S. 1125 –PStG–), als Urkunde angesehen, die nach § 580 Nr. 7 b ZPO geeignet ist, eine Wiederaufnahmeklage zu stützen (NJW 1952, 666 Nr. 15).

So muß auch der Randvermerk zu einer Geburtsurkunde, mit dem – wie im vorliegenden Fall – auf Grund eines Statusurteils im Ehelichkeitsanfechtungsverfahren die Unehelichkeit eines Kindes bezeugt wird (vgl. § 30 Abs. 1 PStG), als eine Urkunde angesehen werden, die eine einer zurückliegenden Zeit angehörende Tatsache beweist (BGHZ 34, 77, 79 f.). Wenn der BGH dessenungeachtet in dem genannten Urteil den Randvermerk nicht als eine Urkunde anerkannt hat, auf die eine Restitutionsklage gestützt werden kann (vgl. dazu die von Gaul in einer Besprechung dieses Urteils geäußerten Bedenken in „Ehe und Familie” 1961, 173, 174 ff.), so beruhte das auf Gründen, die im vorliegenden Verfahren nicht gegeben sind. Der BGH hatte in dem von ihm zu entscheidenden Fall – in dem es um Nachholung eines im Scheidungsverfahren mißglückten Schuldnachweises mittels des die Unehelichkeit des Kindes und damit den Ehebruch der Ehefrau des Restitutionsklägers bezeugenden Randvermerks ging – auf das schon früher in der Rechtsprechung des BGH hervorgehobene Bedenken hingewiesen, daß auf dem Umweg anderen, keinen Revisionsgrund bildenden Beweismittels wie Zeugenaussagen und Gutachten in den Prozeß eingeführt werden könnten. Weiterhin war darauf abgestellt worden, daß der Restitutionskläger selbst die Ehelichkeit des Kindes schon vor Abschluß des Vorprozesses hätte anfechten und dergestalt erreichen können, daß der Randvermerk bei der Geburtsurkunde eingetragen würde. Beide Gründe entfallen in dem hier vorliegenden Zusammenhang. Der die Unehelichkeit der Kläger bezeugende Beischreibungsvermerk ist in diesem Verfahren nicht Hilfstatsache für das eigentliche Tatbestandselement, sondern betrifft unmittelbar die Anspruchsvoraussetzung der Ehelichkeit. Die Möglichkeit der Manipulation mit der Urkunde anstelle anderer, keinen Restitutionsgrund abgebender Beweismittel scheidet somit aus. Ebensowenig hätte die beklagte LVA das Ehelichkeitsanfechtungsverfahren in Gang setzen können; sie hatte auf die Entschließung des Staatsanwalts keinen bestimmen den Einfluß. Unter diesen Umständen jedenfalls bestehen keine Bedenken, den die Unehelichkeit bezeugenden Randvermerk als eine Urkunde im Sinne des § 580 Nr. 7 b ZPO anzusehen. Die Revision der beklagten LVA ist somit begründet.

Im vorliegenden Fall kann das Revisionsgericht auch abschließend in der Sache selbst entscheiden. Zwar hat dieses regelmäßig bei dem Wiederaufnahmegrund, der im schwebenden Verfahren in der Revisionsinstanz geltend gemacht wird, nur die Zulässig keit der Wiederaufnahmeklage zu prüfen und „die Beurteilung der tatsächlichen Voraussetzungen für das Wirksamwerden des Wiederaufnahmegrundes” – nach Zurückverweisung der Sache – dem Berufungsgericht zu überlassen (vgl. Rosenberg aaO und die oben zitierte Rechtsprechung des RG und des BGH). Indessen beschränkt sich im vorliegenden Fall die Beweiswürdigung auf die Prüfung des Randvermerks, einer öffentlichen Urkunde, die nach § 66 i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 PStG die durch Eintragung eines Randvermerks beurkundete Tatsache des geänderten Personenstands des Kindes beweist. Die Möglichkeit, daß der Nachweis der Unrichtigkeit der beurkundeten Tatsache erbracht werden könnte (§ 60 Abs. 2 Satz 1 PStG), ist mit Sicherheit ausgeschlossen. Würde bei dieser Sachlage, die für eine diesen Namen noch verdienende Beweiswürdigung keinen Raum läßt, das der Rechtsstreit nur zur Feststellung einer urkundlich gestützten Tatsache, auf die es für die abschließende Entscheidung allein noch ankommt, zurückverwiesen werden, so wäre der Grundsatz der Prozeßwirtschaftlichkeit verletzt, wie er gerade im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit in dem Auftrag an das Revisionsgericht seinen Ausdruck gefunden hat, in der Sache selbst zu entscheiden, falls die Revision begründet ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Demnach kann der Senat im vorliegenden Fall die Tatsache der Unehelichkeit der Kläger selbst feststellen.

Steht somit fest, daß die Kläger unehelich sind, so ist ihr Anspruch auf Waisenrente unbegründet. Ihre Klage ist abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Bogs, Dr. Schraft, Dr. Langkeit

 

Fundstellen

BSGE, 186

NJW 1963, 971

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