Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtbeteiligung am Prüfverfahren. Wirtschaftlichkeitsprüfung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der kassenärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung ist die vom Beschwerdeausschuß gewählte Prüfmethode grundsätzlich auch für die gerichtliche Überprüfung maßgebend.

2. Zur Ergänzung des statistischen Kostenvergleichs kann eine (beschränkte) Einzelfallprüfung durchgeführt werden.

3. Verspätet vorgebrachte Einwendungen des Kassenarztes können im gerichtlichen Verfahren uU unberücksichtigt bleiben.

 

Orientierungssatz

Wenn sich ein Kassenarzt am Prüfverfahren nicht beteiligt und erstmals im gerichtlichen Verfahren Einwendungen erhebt, unterläuft er das gesetzlich vorgesehene Verfahren und verlagert so die Wirtschaftlichkeitsprüfung (unzulässiger Weise) in die gerichtliche Instanz.

 

Normenkette

RVO § 368n Abs. 5 Fassung: 1977-06-27, § 368e

 

Verfahrensgang

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 02.04.1986; Aktenzeichen S 5 Kn 106/83)

Hessisches LSG (Entscheidung vom 18.03.1987; Aktenzeichen L 7 Ka 1003/86)

 

Tatbestand

Gegenstand des Rechtsstreits sind Kürzungen des Honorars eines Kassenarztes wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise.

Der Kläger ist als Internist in W. niedergelassen und nimmt an der kassenärztlichen Versorgung teil. Seine Abrechnungen in den hier streitbefangenen Quartalen weichen wie folgt von den Durchschnittswerten seiner Fachgruppe ab:

Quartal:

IV/80

I/81

III/81

IV/81

I/82

Fallzahl

Fachgruppe

467

488

474

493

496

Kläger

292

249

210

201

189

Rentneranteil

Fachgruppe

39%

38%

41%

40%

39%

Kläger

29%

29%

31%

33%

32%

Gesamtkosten

pro Fall (DM)

Fachgruppe

79,23

80,98

73,31

76,78

79,99

Kläger

106,52

110,57

105,98

105,51

105,36

Mehrkosten

27,29

29,59

32,67

28,73

25,37

= %-Satz des Betrags

der mittleren

Abweichung

109%

128%

175%

149%

115%

Gesamtkosten

pro Rentnerfall (DM)

Fachgruppe

95,55

97,58

89,91

94,55

97,85

Kläger

158,31

160,22

143,19

130,68

146,86

Mehrkosten

62,76

62,64

53,28

36,13

45,01

= %-Satz des Betrags

der mittleren

Abweichung

230%

241%

231%

156%

190%

Kosten bei den

Sonderleistungen pro

Fall (DM)

Fachgruppe

22,94

22,17

23,07

24,46

Kläger

37,22

41,03

40,39

35,08

Mehrkosten

14,28

18,86

17,32

10,62

= %-Satz des Betrags

der mittleren

Abweichung

97%

138%

128%

76%

Kosten bei den

Sonderleistungen pro

Rentnerfall (DM)

Fachgruppe

25,85

26,21

Kläger

55,65

58,89

Mehrkosten

29,80

32,68

= %-Satz des Betrags

der mittleren

Abweichung

204%

225%

Kosten bei den

Laborleistungen pro

Rentnerfall (DM)

Fachgruppe

24,58

25,39

22,59

22,63

24,69

Kläger

51,01

52,41

47,15

39,46

47,50

Mehrkosten

26,43

27,02

24,56

16,83

22,81

= %-Satz des Betrags

der mittleren

Abweichung

306%

269%

299%

186%

226%

Außerdem enthält die Abrechnung des Klägers für das Quartal I/82 bei den Beratungen einen Mehraufwand von durchschnittlich DM 10,89 pro Fall (= 221% des Betrags der mittleren Abweichung). Ein Vergleich der Fallwerte des Klägers mit den entsprechenden Durchschnittswerten der Fachgruppe (gemäß den Statistiken des AOK-Landesverbandes Hessen) ergibt bei den Arzneimittelverordnungen erhebliche Unterschreitungen, bei den Krankenhauseinweisungen mehr Unter- als Überschreitungen, bei den Arbeitsunfähigkeitsfällen durchgehend Überschreitungen und bei der Dauer der Arbeitsunfähigkeit meist Unterschreitungen. Bei den Arzneiverordnungen stehen sich folgende Fallkosten gegenüber:

Quartal

IV/80

I/81

III/81

IV/81

I/82

Mitglieder

Fachgruppe

52,36

52,59

53,17

54,36

52,73

Kläger

29,50

24,99

24,74

31,02

28,87

Rentner

Fachgruppe

131,97

134,16

129,51

133,16

131,67

Kläger

98,10

75,41

79,90

73,31

70,22

Nach Überprüfung der Abrechnungsunterlagen kürzte der Prüfungsausschuß die Abrechnungen des Klägers für IV/80 um DM 850,00 (bei den Sonderleistungen um DM 10,00 pro Rentner-Fall), für I/81 um DM 730,00 (bei den Gesamtfallkosten um DM 10,00 pro Rentner- Fall), für III/81 um DM 1.710,00 (bei den Sonderleistungen um DM 5,00 pro Fall und bei den Laborleistungen um DM 10,00 pro Rentner-Fall), für IV/81 um DM 1.665,00 (bei den Sonderleistungen um DM 5,00 pro Fall und bei den Laborleistungen um DM 10,00 pro Rentner-Fall) und für I/82 um DM 2.244,00 (bei den Beratungen um DM 3,00 pro Fall, bei den Sonderleistungen um DM 5,00 pro Fall und bei den Laborleistungen um DM 12,00 pro Rentner-Fall).

Der vom Kläger angerufene Beschwerdeausschuß, der Beklagte, bestätigte die Entscheidungen des Prüfungsausschusses. Obwohl er hinsichtlich der Quartale IV/80 und I/81 ein offensichtliches Mißverhältnis zwischen den hohen Fallkosten des Klägers und den Durchschnittswerten der Fachgruppe annahm, sah er sich aus besonderen Gründen veranlaßt, die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise betragsmäßig am Einzelfall nachzuweisen. Anhand der Abrechnungsunterlagen ermittelte er für IV/80 bei 71 Rentnerfällen Einsparungsmöglichkeiten bei den Sonderleistungen von DM 1.059,80 (DM 14,93 pro Fall) und für I/81 bei 59 Rentnerfällen Einsparungsmöglichkeiten beim Gesamthonorar von DM 2.579,30 (DM 43,72 pro Fall). Hinsichtlich der drei anderen Quartale setzte er die erheblichen Fallkostenüberschreitungen noch nicht einem offensichtlichen Mißverhältnis gleich, weshalb er es für erforderlich hielt, die Unwirtschaftlichkeit anhand einer repräsentativen Zahl von Einzelfällen nachzuweisen. Aufgrund einer Überprüfung von jeweils 50% der abgerechneten Mitglieder- und Familienfälle nahm er Einsparungsmöglichkeiten von DM 465,10, DM 539,45 und DM 676,20 an, die er nach Hochrechnung auf die Gesamtfallzahl auf DM 950,20 (DM 6,60 pro Fall), DM 1.078,90 (DM 7,99 pro Fall) und DM 1.352,40 (DM 10,56 pro Fall) erhöhte. Im übrigen verwies er, da bei diesen drei Quartalen die gleichen Auffälligkeiten wie bei den früheren Quartalen bestünden, auf die Einsparungsmöglichkeiten, die bei den Rentnerfällen bezüglich der Quartale IV/80 und I/81 ermittelt wurden.

Darüber hinaus führte der Beklagte zur Begründung seiner Entscheidung aus: Die "i.m.- und i.v.-Serien", die Leistung nach Nr 65 des Bewertungsmaßstabs-Ärzte (BMÄ) und die EKG-Untersuchungen nach den Nrn 650 und 651 BMÄ erführen durch die angegebenen Diagnosen meist keine bzw nicht immer eine hinreichende Begründung. Die Injektionstätigkeit sollte nur begründeten Ausnahmefällen vorbehalten bleiben, denn im allgemeinen komme der (kostengünstigeren) oralen Medikation die gleiche Wirksamkeit zu. Bei den Laborleistungen seien durch eine gezieltere und differenziertere Vorgehensweise nicht unerhebliche Einsparungen möglich. Eine Besonderheit der Praxis sei u.U. in der niedrigen Fallzahl zu sehen. Andererseits sei nicht außer acht zu lassen, daß es sich bei der Praxis des Klägers um eine allgemeinärztlich geführte Praxis mit unterdurchschnittlichem Leistungsangebot (schmalem Laborspektrum) handele. Die apparative Ausstattung sei weit unterdurchschnittlich. Der Kläger versorge ein übliches Klientel mit einem gegenüber seiner Fachgruppe wesentlich niedrigeren Rentneranteil. Zwischen den Minderaufwendungen bei den Arzneimitteln und den Mehraufwendungen bei den Sonder- und Laborleistungen bestehe kein ursächlicher Zusammenhang. Auch unter größtmöglicher Würdigung der Stellungnahme des Klägers und der Gegebenheit, daß der Kläger auf dem Gebiet der Neuraltherapie tätig sei, müßten die Honorarkürzungen bestätigt werden, zumal die Prüfungen am Einzelfall Einsparungsmöglichkeiten aufgezeigt hätten, die nicht unwesentlich über den vorgenommenen Kürzungen lägen.

Im Klageverfahren hat der Kläger vor allem einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den veranlaßten Labor- und Sonderleistungen und den Einsparungen auf den Gebieten der Arzneimittelversorgung, der physikalisch-balneologischen Therapie und der Krankenhauspflege geltend gemacht. Die genaue Diagnose ermögliche eine äußerst wirtschaftliche Therapie. Die Neuraltherapie, die als Praxisbesonderheit anzuerkennen sei, erfolge zur Behandlung von Erkrankungen aus dem gesamten rheumatischen Formenkreis. Antirheumatische Mittel, die sehr teuer seien, verordne er kaum. Durch eine ausgedehnte Injektionstätigkeit hätten Krankenhauseinweisungen vermieden werden können. Es sei anerkannt, daß auch soziale Gründe für die Entscheidung zur intramuskulären und intravenösen Medikamentengabe herangezogen werden könnten. Dies sei besonders dann der Fall, wenn der Patient aus Altersgründen, aus Krankheitsgründen oder wegen Sprachschwierigkeiten nicht in der Lage sei, Dosierungen zu erfassen und Verordnungen zu befolgen. In seinem Patientengut befinde sich eine überdurchschnittliche Anzahl von depressiv Erkrankten. Bei depressiven Zuständen sei eine rasche Intervention zwingend. Zu dieser pharmakokinetischen Leistung sei eine Tablette nicht in der Lage. Injektionen seien wesentlich stärker wirksam, die Nebenwirkungsfrequenz sei erniedrigt. Dem Beklagten sei auch insoweit zu widersprechen, als er behaupte, daß bei alten Leuten die Feststellung sogenannter Risikofaktoren nicht erforderlich sei, die sogenannten Laborwerte (Transaminasen) nicht nebeneinander bestimmt zu werden brauchten und durch die Diagnosen auf dem Krankenschein die eingehende Untersuchung nach Ziffer 65 BMÄ nicht hinreichend begründet sei. Die zu einzelnen Behandlungsfällen getroffenen Feststellungen seien unzutreffend. Die von ihm (dem Kläger) vorgelegte Liste über besonders krasse Fälle der Fehlbeurteilung könne beliebig fortgesetzt werden, auf Veranlassung des Gerichts werde dies geschehen. Die Fallbeispiele sollten das Gericht veranlassen, die gesamten Abrechnungsunterlagen einem neutralen Sachverständigen - vorzugsweise einem ärztlichen Kollegen mit neuraltherapeutischen Kenntnissen - für ein Sachverständigengutachten zur Verfügung zu stellen.

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide des Beklagten und des Prüfungsausschusses aus folgendem Grunde aufgehoben: Der pauschale Hinweis, daß sich keine Kausalität zwischen Mehr- und Minderaufwendungen erkennen ließe, reiche keinesfalls aus, um den Anschein einer Kompensation durch verminderte Arzneiverordnung zu zerstören. Der Kläger habe an Einzelfällen vorgerechnet, welche ursächlichen konkreten Einsparungen seine Behandlungsmethode erziele. Die Gegenüberstellung von Injektionen auf der einen Seite und physikalisch-medizinischen Leistungen und oraler Medikamente auf der anderen Seite zeigten auf der Hand liegende Einsparungsmöglichkeiten auf, denen der Beklagte von sich aus hätte nachgehen müssen. Erkenne man eine Kompensation nicht an, so sei die Annahme, daß der Durchschnitt der Ärzte wirtschaftlich behandele, nur dann aufrechtzuerhalten, wenn so eklatante Einsparungen wie in diesem Fall entweder auf einem besonderen Patientenkreis (zB vorwiegend Bagatellerkrankungen) oder auf einer medikamentösen Unterversorgung beruhten. Sollte eine entsprechende Beweisführung auf pauschalem Wege nicht möglich sein, so bleibe den Prüfgremien allein der Weg der Einzelfallprüfung, bei der dann die Arzneiverordnung einzubeziehen wäre. Zwar liege den angefochtenen Bescheiden bezüglich der Rentnerfälle eine annähernd vollständige Einzelfallprüfung und bezüglich der Gesamtfälle eine teilweise Einzelfallprüfung zugrunde, diese seien jedoch nicht in die Begründung der Bescheide eingegangen; die Bescheide argumentierten pauschal, ohne auf die Besonderheiten der einzelnen Behandlungsfälle einzugehen.

Auf die Berufung der Beigeladenen zu 1) hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung wird ausgeführt: Bei der Höhe der Überschreitungen der Durchschnittswerte der Fachgruppe sei ein offensichtliches Mißverhältnis gegeben. Es bedürfe keiner näheren Einzelprüfung. Die Nichtkompensationsfähigkeit der Minder- und Mehraufwendungen begründe der Beklagte zwar recht pauschal. Dem Beklagten bleibe es bei Ausübung des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums unbenommen, Kriterien, wenn auch pauschaliert, heranzuziehen, die nicht alle Einwände des Kassenarztes berücksichtigten. Der Beklagte habe insofern rechtsfehlerfrei gehandelt, als er das Vorbringen des Klägers weitgehend berücksichtigt habe. Der Kläger habe in detaillierter Form die Ausrichtung seiner Praxis dargestellt. Die Bedeutsamkeit bzw Stichhaltigkeit dieser Darstellung habe der Beklagte überprüft. Diese Überprüfung mache die Entscheidung der Prüfungsinstanzen für den Senat nachvollziehbar. Der Beklagte habe die Transparenz seiner Entscheidung hergestellt, so daß sie dem Senat im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers verständlich erscheine. Dies gelte auch hinsichtlich der Kompensationsfähigkeit der Minderaufwendungen mit den Mehraufwendungen.

Mit der Revision rügt der Kläger, das Berufungsurteil widerspreche der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowohl hinsichtlich der Behandlung von Praxisbesonderheiten wie hinsichtlich der Behandlung statistisch nachweisbarer und im Einzelfall dargelegter kompensatorischer Ersparnisse. Die Bescheide seien schon deshalb fehlerhaft, weil der Gesamtfall gekürzt worden sei. Es wäre nötig gewesen, eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung leistungsgruppenbezogen, wenn nicht gar ziffernbezogen anzustellen. Ferner sei LSG im Rahmen der Amtsermittlung (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) die Tatsache entgangen, daß er im Vergleich zur Fachgruppe weniger Überweisungen zu anderen Gebietsärzten veranlaßt habe. Entscheidend mangelhaft sei das Berufungsurteil allerdings in der Bewertung und Behandlung der nachgewiesenen kompensatorischen Ersparnisse im Arzneimittelbereich. Die angegriffenen Bescheide enthielten hierzu lediglich nicht nachvollziehbare, pauschale Angaben. Er habe vor dem SG detailliert und fallbezogen die aufgewandten Kosten bei den Sonderleistungen mit den ersparten Kosten im Medikamentenbereich und im physikalisch-medizinischen Bereich dargelegt. Seine Darlegung erstrecke sich darauf, daß er im Rahmen seiner Sonderleistungsfrequenzen (vorwiegend Injektionsleistungen) und im Rahmen der damit verbundenen notwendigen Überwachungsleistungen (Laborleistungen) Tatsachen geschaffen habe, die erheblich und nahezu ausschließlich die erniedrigten Arzneikosten nach sich gezogen hätten. Es würde seine Mitwirkungspflicht überspannen, bei jedem Einzelfall diesen Nachweis darzulegen, zumal seine Mitwirkungspflicht relativiert werde durch die Amtsermittlungspflicht der Prüfgremien und des Gerichts. Diese hätten den bekannt gewordenen Tatsachen nachzugehen und eigene Ermittlungen anzustellen (§ 20 des Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren -SGB X-, § 103 SGG). Schließlich verstoße das Berufungsurteil gegen Denkgesetze. Die Hochrechnung der fallbezogenen Beanstandungen auf die Gesamtfallzahl wäre nur möglich gewesen, wenn die beanstandeten Leistungsziffern in 100% der Fälle erbracht worden wären.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. März 1987 - L 7 Ka 1003/86 - aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen zu 1) gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. April 1986 - S 5 Ka 106/83, S 5 Ka 21/84 - zurückzuweisen.

Die Beigeladenen zu 1) bis 7) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das Berufungsurteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

1. Das LSG hat zum Nachteil des Klägers die Grenzen seiner

Entscheidungsbefugnis überschritten. Die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen ist Ausschüssen übertragen, die mit Vertretern der Ärzte und Krankenkassen paritätisch besetzt sind (§ 368n Abs 5 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Diesen Ausschüssen steht bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise eines Arztes, insbesondere bei der Ermittlung des unwirtschaftlichen Mehraufwands ein Beurteilungsspielraum und bei der Festsetzung der Honorarkürzung ein Ermessensspielraum zu (BSGE 62, 24, 28 = SozR 2200 § 368n RVO Nr 48 mwN). Der Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Ausschüsse erstreckt sich auch darauf, die Prüfungsmethode zu wählen sowie bei einem statistischen Kostenvergleich die Grenzwerte zu bestimmen, ab welchen die Kostenüberschreitungen des geprüften Arztes die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses zu den Durchschnittswerten der Vergleichsgruppe (Fachgruppe) erlauben und damit die Vermutung einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise begründen. Die Entscheidungen der Prüfungsausschüsse sind insoweit nur dann rechtswidrig, wenn sie nicht vertretbar sind. Die gerichtliche Kontrolle ist auf den sich aus § 54 Abs 2 Satz 2 SGG ergebenden Prüfungsrahmen beschränkt. Das LSG hat sich nicht innerhalb dieses Rahmens gehalten.

Das LSG hat entschieden, daß allein der statistische Kostenvergleich die Honorarkürzung rechtfertige und es deshalb einer näheren Einzelfallprüfung nicht bedürfe. Es weicht damit von der Entscheidung des beklagten Ausschusses ab. Es setzt seine Entscheidung an die Stelle der Entscheidung des Beklagten. Dieser hatte den statistischen Kostenvergleich als nicht ausreichend angesehen und es für erforderlich gehalten, die Unwirtschaftlichkeit betragsmäßig am Einzelfall bzw anhand einer repräsentativen Zahl von Einzelfällen nachzuweisen. Das LSG greift mit seiner abweichenden Entscheidung in unzulässiger Weise in den Beurteilungsspielraum des Beklagten ein. Ein solcher Eingriff läge nur dann nicht vor, wenn die besonderen Umstände des vorliegenden Falles keine andere als die vom LSG getroffene Entscheidung zuließen. Eine derartige Ausnahmesituation ist jedoch nicht gegeben. Der Kläger kann seine Revision auf diese Rechtsverletzung stützen, denn er ist durch sie beschwert. Bei der Entscheidung des LSG wäre ihm die Möglichkeit genommen, die Ergebnisse der Einzelfallprüfungen des Beklagten zu widerlegen. In den gerichtlichen Vorinstanzen hat er aber gerade dies zu erreichen versucht.

2. Der vom Beklagten beschrittene Prüfungsweg ist jedenfalls in

methodischer Hinsicht nicht zu beanstanden. Das gilt zunächst für den statistischen Vergleich, mit dem der Beklagte seine Prüfung eröffnete. Als Maßstab verwandte er die sogenannte mittlere Abweichung. Darunter ist der Durchschnitt der Abweichungen aller Kassenärzte der Vergleichsgruppe vom Fallkostendurchschnitt dieser Gruppe zu verstehen (vgl dazu und insbesondere zur sogenannten Gauß'schen Normalverteilung: Kalthoff, Berliner Ärzteblatt, 1971, 102 ff). Die Verwendung dieses Maßstabs ist nicht aus Rechtsgründen ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des Senats kommen mehrere Vergleichsmaßstäbe als geeignet in Betracht. Den Prüfungsinstanzen steht auch insoweit ein Beurteilungsspielraum zu (BSG aaO). Der Senat konnte bisher nicht erkennen, daß Vorzüge und Mängel der unterschiedlichen Vergleichsmethoden, die in den einzelnen KÄV-Bezirken angewendet werden, derart eindeutig für einen bestimmten Kostenvergleich sprechen, daß alle anderen als untauglich verworfen werden müßten. Soweit ein Kostenvergleich allein den Gegebenheiten einer Praxis nicht gerecht wird, ist sowieso ein an den Kostenvergleich anschließender weiterer Prüfungsabschnitt veranlaßt (BSG aaO).

Der Beklagte hielt sich auch insoweit im Rahmen des Vertretbaren, als ihm die Ergebnisse des statistischen Kostenvergleichs allein nicht genügten, um die vom Prüfungsausschuß ausgesprochenen Kürzungen bestätigen zu können. Er setzte sich damit insbesondere nicht in Widerspruch zu Entscheidungen des Senats, die die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit für begründet halten, wenn der Arzt die Fallkosten seiner Fachgruppe um 50% bzw um einen Wert zwischen 40 und 60% überschreitet (BSG aaO). Diese vom Senat als vertretbar angesehenen Grenzwerte können nicht auf den im vorliegenden Fall angewandten Vergleich übernommen werden. Hier wurde nicht wie dort auf die prozentuale Überschreitung des Fallkostendurchschnitts der Fachgruppe, sondern auf das Verhältnis der Kostenüberschreitung zur mittleren Abweichung in dieser Gruppe abgestellt. Es liegt auf der Hand, nicht bereits die mittlere Abweichung als Grenzwert zum offensichtlichen Mißverhältnis anzusetzen, sondern einen beachtlich höheren Abweichungswert. Es kann hier beispielsweise auf die in den Bezirken der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) Nordrhein und der KÄV Schleswig-Holstein geltenden Prüfvereinbarungen sowie auf die im Ersatzkassenbereich geltenden Auswahlrichtlinien verwiesen werden. Im Bezirk der KÄV Nordrhein, wo auf den Prozentsatz der Überschreitung des Fallwertes der Fachgruppe abgestellt wird, sehen die Vertragspartner eine Überschreitung jedenfalls dann als offensichtliches Mißverhältnis an, wenn sie mehr als 50% beträgt (§ 17 Abs 3 Satz 2 der Prüfvereinbarung). Im Bezirk der KÄV Schleswig-Holstein, wo man sich nach der Standardabweichung richtet, wird vorbehaltlich der Feststellung von Unwirtschaftlichkeit im einzelnen eine innerhalb der Standardabweichung liegende Honoraranforderung als im Bereich der Norm liegend angesehen; die Überschreitung dieser Grenze soll den je nach der Höhe mehr oder weniger begründeten Verdacht der Unwirtschaftlichkeit rechtfertigen (§ 5 Abs 2 und 3 der Prüfvereinbarung). Die Auswahlrichtlinien der Ersatzkassen tragen dem Umstand Rechnung, daß sie für alle KÄV-Bezirke gelten und daher den unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bezirken gerecht werden müssen. Sie bestimmen daher in Ziffer I.3., daß sich die Auswahl zur Rechnungsprüfung ua zu erstrecken hat auf Honorarabrechnungen, deren Gesamtfallwert den Gruppenfallwert (Fachgruppendurchschnitt) 1) um mehr als 150% der mittleren Abweichung überschreitet, sofern die KÄV die statistische Abweichung nach der Gauß'schen Normalverteilung berechnet, oder 2) um mehr als 40% überschreitet, sofern die statistische Abweichung nach der herkömmlichen Methode errechnet wird, und Honorarabrechnungen, bei denen in den einzelnen Leistungsgruppen der Fallwert den Gruppenfallwert 1.) um mehr als 300% der mittleren Abweichung überschreitet, sofern die KÄV die statistische Abweichung nach der Gauß'schen Normalverteilung berechnet, oder 2.) um mehr als 80% überschreitet, sofern die statistische Abweichung nach der herkömmlichen Methode errechnet wird.

3. Die Fallkostenüberschreitungen des Klägers in den hier

streitbefangenen Quartalen entsprechen in den der Kürzung unterzogenen Leistungsbereichen der mittleren Abweichung der Fachgruppe (= 100%) wie folgt:

in IV/80 bei den Sonderleistungen pro Rentnerfall 204%, in I/81 bei den Gesamtkosten pro Rentnerfall 241%, in III/81 bei den Sonderleistungen pro Fall 138%, und bei den Laborleistungen pro Rentnerfall 299%, in IV/81 bei den Sonderleistungen pro Fall 128%, und bei den Laborleistungen pro Rentnerfall 186%, in I/82 bei den Beratungen pro Fall 221%, und bei den Sonderleistungen pro Fall 76%, sowie bei den Laborleistungen pro Rentnerfall 226%. Es ist als vertretbar hinzunehmen, daß der Beklagte die Kostenüberschreitungen des Klägers pro Fall in III/81 bis I/82 noch nicht einem offensichtlichen Mißverhältnis gleichsetzte und hinsichtlich der Kostenüberschreitungen ab IV/80 pro Rentnerfall zwar ein offensichtliches Mißverhältnis annahm, aber aus besonderen Gründen eine weitere ergänzende Prüfung für erforderlich hielt. Dieses Ergebnis findet eine gewisse Rechtfertigung auch dadurch, daß der Kläger den Fachgruppendurchschnitt bei den Gesamtkosten um weniger als 50% überschritt. In IV/80 steht dem durchschnittlichen Kostenbetrag der Fachgruppe von DM 79,23 ein Überschreitungsbetrag des Klägers von DM 27,29 gegenüber (109% der mittleren Abweichung), in I/81 DM 80,98 : DM 29,59 (128% der mittleren Abweichung), in III/81 DM 73,31 : DM 32,67 (175% der mittleren Abweichung), in IV/81 DM 76,78 : DM 28,73 (149% der mittleren Abweichung) und in I/82 DM 79,99 : DM 25,37 (115% der mittleren Abweichung).

4. Nicht zu beanstanden ist schließlich, daß die Beklagte, nach

dem ihr der statistische Kostenvergleich nicht genügte, sich zur Ergänzung der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkter Einzelfallprüfungen bediente. Diese Möglichkeit wird nicht durch die Entscheidung des Senats vom 2. Juni 1987 - 6 RKa 19/86 - (BSGE 62, 18) ausgeschlossen. In dem damals entschiedenen Fall hatte der Beschwerdeausschuß seine Entscheidung ausschließlich auf das Ergebnis einer Einzelfallprüfung gestützt. Der Senat billigte dieses Vorgehen nicht, weil die anhand der Unterlagen des Arztes durchgeführte Einzelfallprüfung nicht nur einen höheren Verwaltungsaufwand als das statistische Vergleichsverfahren erforderte, sondern dieses auch beweisrechtlich vorzuziehen war. Anders verhält es sich, wenn die Prüfungsinstanzen, wie im vorliegenden Fall, einen statistischen Kostenvergleich vorgenommen haben, dieser aber einer ergänzenden Prüfung bedarf, sei es, weil die Kostenüberschreitungen des Arztes in einem Grenzbereich liegen, sei es, weil besondere Umstände entlastend in Betracht kommen. In einer solchen Situation kann auch eine auf die Behandlungsunterlagen des Arztes beschränkte Einzelfallprüfung zur Aufklärung beitragen (BSGE 46, 136, 138 = SozR § 368n Nr 14 mwN; SozR 2200 § 368n RVO Nr 19 und Nr 31; BSGE 62, 18, 23). So ist beispielsweise ein unwirtschaftlicher Mehraufwand hinreichend nachgewiesen, soweit selbst die Behandlungsunterlagen des Arztes den Behandlungsaufwand nicht rechtfertigen (SozR aaO Nr 31 S 102).

Es kommt somit darauf an, ob die vom Beklagten ergänzend durchgeführten (beschränkten) Einzelfallprüfungen die Honorarkürzungen des Prüfungsausschusses bestätigen oder ob und gegebenenfalls inwieweit die Einwendungen des Klägers durchgreifen. Der Kläger hat zu einem Teil der Behandlungsfälle, auf die der Beklagte seine Entscheidung stützte, im gerichtlichen Verfahren Stellung genommen. Ferner hat er ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er sich auch zu den übrigen Behandlungsfällen äußern kann, wenn es darauf ankommen sollte. Da sich das LSG mit den Einzelfallprüfungen der Beklagten nicht befaßt hat, war schon aus diesem Grunde die Streitsache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Den Einwendungen des Klägers ist nachzugehen.

5. Die Einwendungen können nicht deshalb unberücksichtigt blei

ben, weil sie im wesentlichen erstmals im gerichtlichen Verfahren vorgebracht worden sind. Zwar hält es der Senat unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig, verspätet vorgebrachte Einwendungen gegen Honorarkürzungsbescheide zurückzuweisen. Die Gegebenheiten des vorliegenden Falles reichen hierfür jedoch nicht aus.

Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise eines Arztes hat das Gesetz, wie oben dargelegt, sachverständigen Ausschüssen übertragen. Ein Kassenarzt, der sich am Prüfverfahren nicht beteiligt und erstmals im gerichtlichen Verfahren Einwendungen erhebt, unterläuft das gesetzlich vorgesehene Verfahren und verlagert die Wirtschaftlichkeitsprüfung in die gerichtlichen Instanzen. Dies kann ihm nicht gestattet sein. Den Gerichten ist es zudem grundsätzlich verwehrt, eine umfassende Wirtschaftlichkeitsprüfung durchzuführen; ihnen obliegt lediglich die Kontrolle, ob die - im Rahmen des Beurteilungs- und Ermessensspielraums getroffenen - Entscheidungen der Prüfungsausschüsse mit Gesetz und Recht in Einklang stehen. Den Prüfungsausschüssen kann aber eine unvollständige Berücksichtigung des Sachverhalts nicht vorgeworfen werden, soweit entscheidungserhebliche Umstände nur dem Kassenarzt bekannt sind, von diesem aber nicht im Prüfverfahren geltend gemacht werden (vgl Urteil des Senats vom 8. Mai 1985 - 6 RKa 24/83 -). Ebenso wie im privaten Geschäftsverkehr eine Rechnung ausreichend spezifiziert sein muß, ist auch der Kassenarzt verpflichtet, seine Honoraranforderungen für seine kassenärztliche Tätigkeit, insbesondere einen außergewöhnlichen Mehraufwand zu begründen und zu belegen.

Besteht allerdings für die Prüfungsausschüsse Anlaß zu der Annahme, daß der Kassenarzt seinen bisherigen Vortrag ergänzen kann, so müssen sie ihm dazu Gelegenheit geben. In einem solchen Fall empfiehlt es sich, dem Kassenarzt zur Ergänzung seines Vortrages eine Frist zu setzen und ihn darauf hinzuweisen, daß nach Ablauf der Frist entschieden wird und ein späteres Vorbringen keine Berücksichtigung mehr findet (hinsichtlich der Folgen einer Verletzung der Mitwirkungspflicht bei der Geltendmachung von Sozialleistungen vgl §§ 60, 66 SGB 1).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger zwar erst im gerichtlichen Verfahren ausführlicher zu den Ergebnissen der vom Beklagten durchgeführten Einzelfallprüfungen Stellung genommen. Insbesondere hat er es unterlassen, an der mündlichen Verhandlung vor dem Beschwerdeausschuß am 30. November 1983 teilzunehmen. Zu diesem Verhandlungstermin war er bereits mit Schreiben vom 22. August 1983 geladen und darauf hingewiesen worden, daß nach Lage der Akten entschieden werden kann, falls er zum Termin nicht erscheint. Er war ausdrücklich gebeten worden, an der Verhandlung teilzunehmen, damit er die individuellen Besonderheiten seiner Praxis den Mitgliedern des beklagten Ausschusses persönlich vortragen kann. Mit Schreiben vom 28. Oktober 1983 war ihm ferner eine Aufstellung der Behandlungsfälle übersandt worden, die der mit der Vorprüfung beauftragte Fachreferent des Beklagten in der mündlichen Verhandlung zur Diskussion stellen wollte. Da der Kläger dennoch nicht an der Verhandlung teilnahm, ist es vor allem seinem Verantwortungsbereich zuzurechnen, wenn Besonderheiten seiner Praxis nicht bzw nicht ausreichend Berücksichtigung fanden. Gleichwohl ist es noch nicht gerechtfertigt, ihn mit seinen erst im Klageverfahren vorgebrachten Einwendungen auszuschließen. Dies ist deshalb nicht zulässig, weil die Einzelfallprüfungen erstmals im Beschwerdeverfahren durchgeführt, dem Kläger keine Frist zur Stellungnahme gesetzt und er vor allem nicht auf eine mögliche Zurückweisung verspäteten Vorbringens hingewiesen wurde.

6. Bei der erneuten Prüfung ist auch auf die Behauptung des Klägers

einzugehen, seine besonderen Therapiemethoden hätten zu Einsparungen bei den Arzneimittelverordnungen geführt. Tatsächlich liegen die Fallwerte des Klägers in diesem Leistungsbereich erheblich unter dem Fachgruppendurchschnitt (bei einem Wert zwischen 45% und 75% des Fachgruppendurchschnitts). Auch wenn dies allein nicht ausreicht, um den vom SG angenommenen "Anschein" der Kompensation eines Teils des Behandlungsmehraufwands des Klägers durch verminderte Arzneiverordnungen zu begründen, so spricht doch einiges für einen solchen ursächlichen Zusammenhang. Der Beklagte selbst bestreitet nicht, daß der Kläger Injektionen anstelle von Arzneimittelverordnungen gab. Er hält die Injektionstherapie aber für kostenaufwendiger. Selbst wenn dies zutreffen sollte, so wäre nicht der Injektionsaufwand insgesamt, sondern nur die Kostendifferenz als unwirtschaftlicher Mehraufwand anzusetzen.

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1663773

AusR 1989, 37

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge