Leitsatz (redaktionell)

Straftaten von Gewaltverbrechern gegen Leib und Leben der polizeilich nicht hinreichend geschützten Landbevölkerung in der Zeit nach Beendigung des 2. Weltkrieges als Versorgungsgrund nach BVG § 5 Abs 1d.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 1961 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger begehrt die Feststellung seiner geltend gemachten Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen folgenden, zwischen den Parteien unstreitigen und vom Landessozialgericht (LSG) ausdrücklich festgestellten Sachverhalts;

Am Abend des 1. Oktober 1945 bemerkte der Bruder Anton des Klägers, wie drei fremde Personen die Dorfstraße heraufkamen und auf den väterlichen Hof einbogen. Da bereits am Tage vorher versucht worden war, den Schweinestall aufzubrechen, weckte Anton T seine drei Brüder Hubert, Rudolf und Willi (den Kläger) und begab sich mit ihnen auf den Hof. Beim Auftauchen der Brüder liefen die Fremden in Richtung des Nachbargehöftes weg. Der Kläger wollte ihnen den Weg abschneiden; er lief um einen Schuppen herum, und traf hinter diesem Gebäude auf die Fremden. Einer von ihnen rief: "Ich schieße!", und zwar sagte er das in einem Dialekt, aus dem der Kläger und seine Brüder einen Akzent herauszuhören glaubten, wie ihn die polnischen Arbeiter zu sprechen pflegten. Die Fremden schossen aber nicht, der Kläger erhielt vielmehr einen Stich in den Kopf und einen in die linke Brustseite. Am nächsten Tag fand man auf dem Hof des Nachbarn eine 08-Pistole und eine Uniformmütze.

Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte den Antrag durch Bescheid vom 6. Februar 1958 ab, weil es sich nicht feststellen und beweisen lasse, daß die drei fremden Personen Fremdarbeiter (Ausländer) gewesen seien, und mithin die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 i. V. m. § 1 BVG nicht erfüllt seien. Der Widerspruch blieb erfolglos.

Mit der Klage hat der Kläger Bescheinigungen der Amtsverwaltungen Sundern und Freienohl beigebracht. Das Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Brüder des Klägers als Zeugen und durch Einholung der Auskünfte des Regierungspräsidenten in Arnsberg vom 13. Oktober 1959 sowie des Gutachtens des Facharztes für innere Krankheiten Dr. K vom 9. Januar 1960. Durch Urteil vom 7. April 1960 hat es die Verwaltungsbescheide aufgehoben und festgestellt, daß Pleuramantelschwarte links mit Verwachsung der linken Zwerchfellkuppe und Verziehung der Mittelfellorgane nach links sowie Verkrümmung der Brustwirbelsäule, reizlose Narben am Kopf und der linken Brustseite, Schädigungsfolgen nach dem BVG seien. Das SG hat ausgeführt, die drei Personen, die auf den Hof des Vaters des Klägers eingedrungen seien, seien polnische Fremdarbeiter aus dem Lager Sundern gewesen. Es entspreche den damaligen Gegebenheiten, daß die Polen auf dem Hof eine strafbare Handlung im Sinne des Strafgesetzes hätten begehen wollen. Außerdem sei allgemein bekannt, daß Deutsche bei solchen Ausschreitungen verletzt und getötet worden seien. Derartige Schäden seien einer besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG zuzurechnen.

Der Beklagte hat Berufung eingelegt und geltend gemacht, der Kläger habe durch seine eigene freie Willensbestimmung den Körperschaden herbeigeführt. Durch Urteil vom 7. Juni 1961 hat das LSG das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, wenn auch die Vermutung nahe liege, daß die Personen, mit denen der Kläger auf dem väterlichen Hof zusammengestoßen sei, Polen gewesen seien, so könne das doch nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Die Täter hätten offensichtlich einen Diebstahls- oder Einbruchsversuch vornehmen wollen und seien entflohen, nachdem sie entdeckt worden seien. Derartige Delikte seien in der damaligen Zeit häufig auch von Deutschen begangen worden. Da nicht erwiesen sei, daß Ausländer an der Tat beteiligt gewesen seien, fehle es an einem ganz besonders typischen Merkmal eines in damaliger Zeit von "marodierenden Banden" begangenen Gewaltaktes. Auch wenn die Tat von deutschen kriminellen Elementen verübt worden sei, so sei sie nicht wesentlich "durch Maßnahmen der Besatzungsmacht" begünstigt worden, wenngleich nicht verkannt werde, daß das Fehlen einer hinreichend starken deutschen Polizei das Zunehmen solcher Eigentumsdelikte begünstigt habe. Der Vorgang könne aber nicht von der üblichen, überall und zu jeder Zeit vorkommenden Kriminalität abgegrenzt werden. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil die Frage von grundsätzlicher Bedeutung sei, ob ein Diebstahls- oder Einbruchsversuch mit den aus ihm sich möglicherweise ergebenden Gewalttätigkeiten beim Fehlen eines ausreichend allgemeinen deutschen Polizeischutzes eine Straftat darstelle, die aus der besonderen, der militärischen Besetzung eigentümlichen Gefahr erwachsen sei.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund vom 7. April 1960 zurückzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine unzureichende Sachaufklärung und eine Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie eine unrichtige Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG, weil ein wirksamer polizeilicher Schutz vor Gewalttaten krimineller Elemente damals nicht gewährleistet gewesen sei.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist mithin zulässig. Das Rechtsmittel ist auch begründet.

Das LSG hat zutreffend seiner Entscheidung die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG zugrunde gelegt und hat - ebenfalls zutreffend - aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 2, 99; 5, 116; 8, 203) die Gesichtspunkte aufgeführt, welche für die Annahme einer "besonderen Gefahr" vorliegen müssen. Hierzu sei aus der in BSG 5, 116 ff. abgedruckten Entscheidung des erkennenden Senats folgendes wiederholt:

Nach der Besetzung deutschen Gebiets durch die Streitkräfte der Alliierten war die deutsche Bevölkerung insbesondere dadurch gefährdet, daß viele kriminelle Elemente die Freiheit wiedererlangten und ein Teil der während des zweiten Weltkrieges zwangsweise nach Deutschland gebrachten Fremdarbeiter dem Haß gegen die Deutschen freien Lauf ließ. Die Zahl der Raubüberfälle stieg sprunghaft an. Die entwaffnete deutsche Bevölkerung war damals schutzlos Verbrechern ausgeliefert, die teilweise rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch machten. Die Besatzungsmächte waren zu dieser Zeit noch so sehr mit sich selbst und den durch die Besetzung aufgetretenen Problemen beschäftigt und um ihre eigene Sicherheit bemüht, daß sie sich der Verbrecherbekämpfung zunächst kaum widmen konnten. Eine deutsche Polizei bestand unmittelbar nach der Kapitulation überhaupt nicht. Nachdem sie wieder organisiert war, wurde ihr das Tragen und der Gebrauch von Schußwaffen längere Zeit nicht gestattet. Hinzu kam, daß die vorbezeichneten Ausländer zu ihrem rücksichtslosen Treiben dadurch ermuntert wurden, daß sie der deutschen Gerichtsbarkeit nicht unterworfen waren. Die infolge dieser Umstände aufgetretene Unsicherheit und Gefahr für die Bewohner des besetzten Gebietes muß als eine besondere, der Besetzung eigentümliche Gefahr angesehen werden, weil die Besatzungsmächte als die tatsächlichen Inhaber der Polizeigewalt die Zivilbevölkerung nicht in ausreichendem Maße vor Gewalttaten krimineller Elemente schützen konnten. Diese der Besetzung deutschen Gebiets eigentümliche Gefahr ist dann allmählich geringer geworden. Dazu trug nicht nur das schärfere Eingreifen der Militärpolizei, sondern auch die fortschreitende Neuorganisation und die Bewaffnung der deutschen Polizei sowie die sich entwickelnde Zusammenarbeit zwischen der Militärpolizei und der deutschen Polizei bei der Verbrecherbekämpfung bei. Ob und gegebenenfalls von welchem Zeitpunkt ab von einem wirksamen Schutz der Bevölkerung des besetzten Gebietes vor Gewalttaten gesprochen werden kann, hängt aber von den örtlichen Verhältnissen ab und ist nach Lage des einzelnen Falles zu entscheiden.

Der erkennende Senat hat danach nicht zwischen kriminellen Ausländern und Inländern unterschieden (vgl. auch Urteil des 11. Senats in BSG 8, 203 ff.). Auch im Oktober 1945 begangene Straftaten krimineller Inländer können also noch eine besondere, mit der Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängende Gefahr gewesen sein.

Die Anwendung der vom BSG aufgestellten Grundsätze auf den vorliegenden Fall durch das Berufungsgericht ist nicht frei von Rechtsirrtum. Zunächst hat der Beklagte als Verfahrensmangel gerügt, daß das LSG, ohne eigene Beweiserhebung, ausgeführt hat, die Beteiligung von Ausländern an der strafbaren Handlung auf dem Hofe am 1. Oktober 1945 habe nicht zur Überzeugung des Gerichts mit Sicherheit festgestellt werden können. Er hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, daß das Berufungsgericht an anderer Stelle des angefochtenen Urteils - im unmittelbar vorangehenden Absatz - festgestellt hat, man habe am Tage nach der Straftat auf dem Hofe des Nachbarn eine 08-Pistole und eine Uniformmütze gefunden. Wenn das LSG schon aus der bisherigen Beweisaufnahme vor dem SG - diese hat sich nicht auf die Uniformmütze erstreckt - eine Beteiligung von Ausländern nicht glaubte entnehmen zu können, so hätte es diesen letzten Punkt, nämlich welcher Art die Uniformmütze gewesen ist, aufzuklären versuchen müssen, ehe es die Nichtbeweisbarkeit hätte annehmen dürfen. Der vom Kläger gerügte wesentliche Mangel einer unzureichenden Sachaufklärung (eines Verstoßes gegen § 103 SGG) liegt vor. Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf diesem Mangel; denn wenn die Beweisaufnahme das vom Kläger bezeichnete Ergebnis gehabt hätte, hätte sich herausgestellt, daß an der Straftat Ausländer beteiligt waren. In diesem Falle hätte auch nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts eine besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG vorliegen können. Dabei ist die besondere Lage zu berücksichtigen, in welcher sich die kasernierten Fremdarbeiter und Ausländer in der damaligen Zeit befunden haben, insbesondere die Tatsache, daß sie sich vor einem Einschreiten der deutschen Polizei gegen sie, vornehmlich in ihren Lagern, sicher fühlen konnten.

Dem angefochtenen Urteil kann auch nicht darin gefolgt werden, daß der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG dann nicht erfüllt sei, wenn ausschließlich Deutsche an der Straftat beteiligt waren. Wesentlich ist auch in diesem Falle, ob einerseits die deutsche Polizei damals der Bevölkerung noch keinen hinreichenden Schutz gewähren konnte, und ob andererseits die Kriminalität nicht nur hinsichtlich von Raubüberfällen, sondern auch von Diebstählen auf landwirtschaftlichen Anwesen besonders hoch gewesen ist. Das LSG hat nun angenommen, die Straftat am 1. Oktober 1945 sei nach der Art ihrer Ausführung der allgemeinen Kriminalität zuzurechnen. Insoweit hat sich die Revision zu Recht dagegen gewandt, daß die außerordentliche Kriminalität nach der Besetzung deutschen Gebietes sich nicht nur in der Weise, wie es das angefochtene Urteil schildert - durch Eindringen einer bewaffneten Bande, Zusammentreiben der Bewohner mit vorgehaltener Schußwaffe usw. -, abgespielt hat. Vielmehr muß auch das Eindringen auf landwirtschaftliche Anwesen zum Zwecke des Stehlens der außerordentlichen Kriminalität zugerechnet werden, wenn es sich wie vorliegend um eine Bande handelt und derartige Straftaten durch das Versagen des polizeilichen Schutzes außerordentlich zahlreich geworden waren. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die Täter Ausländer oder Deutsche gewesen sind.

Demgemäß konnte das angefochtene Urteil nicht aufrechterhalten werden. Vielmehr war die Sache - wie geschehen - an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Sollte sich durch die weitere Beweisaufnahme eine Beteiligung von Ausländern nicht erweisen lassen, so müßte noch aufgeklärt werden, ob bis zum Oktober 1945 auch die Eigentumsdelikte auf landwirtschaftliche Anwesen so zahlreich geworden waren, daß dies auf den bereits aktenkundigen, unzureichenden polizeilichen Schutz zurückgeführt werden müßte.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380396

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