Leitsatz (amtlich)

Der Schüler einer allgemeinbildenden Schule, der sich während einer Freistunde an einem in der Nähe der Schule gelegenen Kiosk Lebensmittel zum Verzehr während der Freistunde besorgt, steht auf dem Weg zum Kiosk und zurück zur Schule unter Unfallversicherungsschutz.

 

Leitsatz (redaktionell)

Für den Versicherungsschutz ist unerheblich, daß der Schüler gegen das ausdrückliche Verbot, das Schulgebäude zu verlassen, verstoßen hat.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01, § 548 Abs. 3

 

Verfahrensgang

SG Stuttgart (Entscheidung vom 04.06.1982; Aktenzeichen S 3 U 2771/80)

 

Tatbestand

Der am 11. Juli 1965 geborene Kläger war Schüler der K. in S.. Am 8. November 1978 hatte er von 7.45 Uhr an Unterricht. Am Religionsunterricht in der vorletzten Stunde (11.15 Uhr bis 12.00 Uhr) nahm er als Mohammedaner nicht teil. Anstatt sich weisungsgemäß im Schulgebäude aufzuhalten, fuhr er in der Freistunde mit seinem Fahrrad zu einem ca. 250 m vom Schulgebäude entfernten Kiosk, um sich Wurst und Brötchen zu kaufen, wofür er das Geld von seinen Eltern mitbekommen hatte. Auf dem Rückweg vom Kiosk zur Schule stieß er etwa 100 m von der Schule entfernt mit einem Kraftfahrzeug zusammen und wurde dabei schwer verletzt. Der Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche durch Bescheid vom 20. März 1980 ab, weil der Kläger sich widerrechtlich und wissentlich aus dem Aufenthaltsbereich und vom Schulgebäude entfernt habe. Unfallversicherungsschutz sei nicht gegeben, wenn das Schulgebäude aus eigenwirtschaftlichen Gründen verlassen werde. Der Kläger sei keiner mit dem Schulbesuch zusammenhängenden Gefahr erlegen. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 30. September 1980 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH zu zahlen. Ferner hat es den Beklagten verurteilt, der Beigeladenen die bisher aus diesem Unfall erbrachten Leistungen im gesetzlichen Rahmen zu erstatten (Urteil vom 4. Juni 1982). Zur Begründung hat es ausgeführt, daß der Kläger während des Schulbesuchs nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b Reichsversicherungsordnung (RVO) gegen Arbeitsunfall versichert gewesen sei. Obwohl der Kläger die Schule während der Freistunde nicht habe verlassen dürfen, sei der ursächliche Zusammenhang mit dem Schulbesuch durch die Fahrt zum Kauf von Wurst und Brötchen nicht gelöst worden. So wie es den erwachsenen Arbeitnehmern gestattet sei, sich Lebensmittel ihrer Wahl zum alsbaldigen Verzehr zu besorgen, sei dies auch einem Kind zuzubilligen. Der Kläger habe einer Nahrungszufuhr bedurft, um seine "Arbeitsfähigkeit" zu erhalten. Unerheblich sei, daß der Hausmeister der Schule Lebensmittel zum Verkauf an die Schüler bereit gehalten habe. Der Weg von der Schule zum Kiosk sei mit ca. 250 m auch nicht unangemessen weit gewesen.

Das SG hat die Sprungrevision im Urteil zugelassen und der Beklagte hat dieses Rechtsmittel mit Zustimmung des Klägers eingelegt. Er trägt vor, es sei nicht erwiesen, daß der Kläger sich während der Freistunde tatsächlich nur Wurstbrötchen habe besorgen wollen und nur aus diesem Grund den Schulbereich verlassen habe. Die objektive Beweislast liege beim Kläger.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des SG Stuttgart vom 4. Juni 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und die Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Sie tragen vor, daß der Kläger auf dem während der Freistunde zurückgelegten Weg zur Besorgung von Nahrungsmitteln gegen Arbeitsunfall versichert gewesen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist begründet, soweit sie sich gegen seine Verurteilung wendet, der Beigeladenen die bisher aus Anlaß des Unfalls des Klägers erbrachten Leistungen im gesetzlichen Rahmen zu erstatten.

Bei einer zugelassenen Revision ist das angefochtene Urteil von Amts wegen daraufhin zu überprüfen, ob ein in der Revisionsinstanz fortwirkender Verstoß gegen verfahrensrechtliche Grundsätze vorliegt, die im öffentlichen Interesse zu beachten sind und deren Befolgung daher dem Belieben der Beteiligten entzogen ist. Dabei sind Mängel zu berücksichtigen, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozeßvoraussetzungen ergeben (BSGE 25, 235, 236 mwN). Das gilt auch bei der Sprungrevision, die nach § 161 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sonst nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden kann (BSG SozR 1500 § 161 Nr 26). Die Beigeladene hatte beantragt, ihr die aus Anlaß des Arbeitsunfalls des Klägers am 8. November 1978 verauslagten Kosten zu erstatten. Ein solcher (Klage-) Antrag war unzulässig. Als Beigeladene ist sie nicht befugt, gegen einen anderen Beteiligten einen eigenen (Klage-) Anspruch zu verfolgen (BSG SozR 1500 § 75 Nr 2).

Das angefochtene Urteil war daher insoweit aufzuheben und die Klage der Beigeladenen gegen den Beklagten als unzulässig abzuweisen.

Die Revision des Beklagten ist unbegründet, soweit sie sich gegen seine Verurteilung richtet, dem Kläger Rente zu gewähren.

Der Kläger hat am 8. November 1978 einen von dem Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten.

Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Kläger war, wie das SG zutreffend angenommen hat, durch den Besuch einer allgemeinbildenden Schule nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Er hat den Unfall am 8. November 1978 auch im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Schüler erlitten.

Obwohl bei Schülern nicht von einem umfassenden Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule ausgegangen werden kann, hat der erkennende Senat immer auch beachtet, daß die Unfallversicherung der Schüler ein Teil der allgemeinen Unfallversicherung ist. Er hat es daher ua als mit dem Sinn und Zweck der Unfallversicherung der Schüler vereinbar angesehen, den Versicherungsschutz eines Schülers auf einem Betriebsweg im Auftrag eines Lehrers außerhalb der Schule und außerhalb der Unterrichtszeit zum Zwecke einer Besorgung für den Unterricht in der Schule zu bejahen (BSGE 51, 257, 259), und sich auch für die Anwendung der allgemein bei der Beurteilung von Wegeunfällen zu beachtenden Grundsätze, zB hinsichtlich der freien Wahl des Verkehrsmittels für den Weg nach und von der Schule, ausgesprochen (Urteil vom 19. Oktober 1982 - 2 RU 21/81 - Veröffentlichung vorgesehen). Es gelten nach Auffassung des Senats in der Unfallversicherung der Schüler auch die Grundsätze für den Versicherungsschutz auf Wegen zur Einnahme von Mahlzeiten und zum Besorgen von Lebensmitteln, um das Essen auf der Arbeitsstätte alsbald einzunehmen.

Der Weg von dem Ort der Tätigkeit zu der Stelle, an der während der Arbeitszeit das Essen eingenommen wird, ist wesentlich mit durch die versicherte Tätigkeit bedingt. Deshalb ist der Versicherungsschutz auf Wegen begründet, die während der Arbeitszeit zurückgelegt werden, um die Entfernung zwischen dem Ort der Tätigkeit und der Stelle zu überwinden, an der das Essen eingenommen wird (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl S 486 h I mit zahlreichen Nachweisen der Rechtsprechung des BSG). Diese Stelle kann auch ein anderer Ort sein als die Wohnung des Versicherten, zB eine Gaststätte. Der Versicherungsschutz wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß im Betrieb eine Werkskantine eingerichtet ist, denn es steht dem Versicherten frei, das Essen an dem ihm genehmen Ort einzunehmen (BSG SozR 2200 § 550 Nr 28; SozR 2200 § 548 Nr 33). Sucht der Versicherte nicht eine Gaststätte auf, sondern besorgt er sich Lebensmittel, um das Essen auf der Arbeitsstätte alsbald einzunehmen, so ist er auf dem Weg zum Einkauf von Lebensmitteln nach und von dem Ort der Tätigkeit ebenfalls gemäß § 550 Abs 1 RVO geschützt (s Brackmann aaO S 486 h II). Zur Abgrenzung von unversicherten Vorbereitungshandlungen, kommen allerdings hier nur Wege in Betracht, die im Zusammenhang mit einer Arbeitspause von der Arbeitsstätte aus zurückgelegt werden, um Lebensmittel zum alsbaldigen Verzehr am Arbeitsplatz einzukaufen (BSGE 12, 254, 255; SozR Nr 15 zu § 550 RVO; SozR 2200 § 550 Nr 24).

Das SG hat für den Senat bindend festgestellt (s § 163, § 161 Abs 4 SGG), daß sich der Kläger zu dem Kiosk begeben hat, um sich Wurst und Brötchen zu kaufen. Ob der Kläger Wurst und Brötchen gleich am Kiosk verzehren oder mit zur Schule nehmen wollte, um sie dort während der Freistunde zu essen, kann dahingestellt bleiben. In beiden Fällen stand er auf dem Weg von der Schule zum Kiosk und zurück unter Versicherungsschutz, denn die Zurücklegung des Weges war wesentlich durch seine versicherte Tätigkeit als Schüler einer allgemeinbildenden Schule bedingt. Das SG hat insoweit festgestellt, daß der Kläger der Nahrungsaufnahme bedurfte, um seine "Arbeitsfähigkeit" zu erhalten; er hatte nach der Freistunde noch an einer weiteren Unterrichtsstunde teilzunehmen. Der Weg bis zu dem ca. 250 m von der Schule entfernten Kiosk war zudem nicht unverhältnismäßig weit, so daß nicht angenommen werden kann, er wäre gerade zu diesem Kiosk aus eigenwirtschaftlichen Gründen zurückgelegt worden. Nach den Feststellungen des SG war der Kiosk der nächst überhaupt vorhandene Laden für die Versorgung mit Lebensmitteln. Die Tatsache, daß der Kläger sich Lebensmittel auch bei dem Hausmeister der Schule hätte beschaffen können, ist unerheblich. Es stand ihm wie jedem anderen Versicherten grundsätzlich frei, sich die Lebensmittel auch an einem anderen Ort zu kaufen. Unerheblich ist auch, daß der Kläger mit der Fahrt zum Kiosk gegen das ausdrückliche Verbot, das Schulgebäude zu verlassen, verstoßen hatte. Ein verbotswidriges Handeln schließt nach § 548 Abs 3 RVO die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus.

Da der Kläger am 8. November 1978 einen Arbeitsunfall erlitten hat, ist ihm nach § 580 RVO iVm § 581 Abs 1 RVO eine seinem Grad der unfallbedingten MdE entsprechende Rente zu gewähren. Das SG hat festgestellt, daß sich der Kläger durch den Unfall schwerste Hirnverletzungen zugezogen hat und - wie aus dem Urteilsspruch hervorgeht - dadurch eine MdE um 100 vH bedingt wird. In den Entscheidungsgründen fehlen zwar detaillierte Feststellungen zum Grad der unfallbedingten MdE, jedoch hat der Beklagte in seiner Revisionsbegründung insoweit keine Rechtsnorm bezeichnet, die vom SG verletzt worden ist (vgl § 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Die Revisionsbegründung des Beklagten beschränkt sich im wesentlichen ohnehin nur auf das Bestreiten, daß der Kläger sich während der Freistunde tatsächlich nur Wurstbrötchen besorgen wollte und nur aus diesem Grund den Schulbereich verlassen hat. Auf eine angeblich unzureichende Tatsachenfeststellung kann eine Sprungrevision jedoch nicht gestützt werden (vgl § 161 Abs 4 SGG).

Da der Beklagte im vorliegenden Fall nach § 657 Abs 1 Nr 5 RVO der zuständige Unfallversicherungsträger ist, hat ihn das SG zu Recht zur Zahlung einer Rente verurteilt. Seine Revision mußte daher insoweit zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 139

Breith. 1983, 676

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