Leitsatz (redaktionell)

Ein uneheliches Kind, dessen Mutter verstorben ist, hat nur Anspruch auf die Halbwaisenrente, wenn nicht feststellbar ist, daß der außereheliche Vater verstorben oder verschollen ist.

 

Normenkette

RVO § 1269 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. Januar 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der 1942 unehelich geborene Kläger bezieht nach seiner 1954 verstorbenen Mutter die Waisenrente; im Jahre 1943 wurde der Tischler Josef W... (W.), der tschechischer Staatsangehöriger ist, zur Zahlung von Unterhaltsrente für den Kläger verurteilt. Der Aufenthalt W.s ist seit Kriegsende unbekannt, sein Tod oder seine Verschollenheit ist nicht festgestellt; der Kläger vermutete ursprünglich, daß W. in seine Heimat zurückgekehrt sei. Eine Todeserklärung ist nicht erfolgt.

Nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) stellte die Beklagte die Rente auf eine Halbwaisenrente (50,- DM) um; sie lehnte durch Bescheid vom 15. Februar 1958 den Antrag des Vormundes des Klägers ab, die Rente auf eine Vollwaisenrente zu erhöhen.

Das Sozialgericht (SG) Berlin vertrat die Auffassung, ein uneheliches Kind sei stets als Vollwaise anzusehen, wenn seine Mutter gestorben sei; da der uneheliche Erzeuger nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften nicht verwandt mit dem Kind sei, käme es auf dessen Schicksal nicht an; es verurteilte demgemäß die Beklagte zur Zahlung der Vollwaisenrente.

Das Landessozialgericht (LSG) hob das sozialgerichtliche Urteil auf und wies die Klage ab.

Es führt zur Begründung im wesentlichen aus, daß die vom Gesetzgeber nicht näher bestimmten Begriffe "Voll- und Halbwaisen" zwar bei ehelichen Kindern einen eindeutigen Charakter hätten, daß bei unehelichen, im bürgerlich-rechtlichen Sinne demnach vaterlosen Kindern, jedoch aus dem Wortlaut der Begriffe weder gefolgert werden müsse, daß allein die rechtliche Verwandtschaft maßgeblich sei, wie das SG angenommen habe, noch, daß es nur auf das Vorhandensein eines blutmäßigen Vaters ankomme, wie die Beklagte annehme. Ebensowenig vermöge der Hinweis darauf zu überzeugen, daß in der Durchführungsbestimmung zum Soforthilfegesetz und zum Bundesbeamtengesetz (BBG) uneheliche Kinder schon nach dem Tod ihrer Mutter als Vollwaisen anzusehen seien, und daß die Rechtsprechung zum Lastenausgleichsgesetz (LAG) sich dieser Auslegung angeschlossen habe; denn andererseits würde auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung (KOV) die Höhe der Waisenrente davon abhängig gemacht, ob die Mutter oder der Erzeuger noch lebten, so daß demnach von einer einheitlichen gesetzgeberischen Regelung, der gefolgt werden müsse, nicht gesprochen werden könne.

Als ausschlaggebend sieht das LSG vielmehr die Unterhaltsersatzfunktion an, die den Fortfall auch des zweiten unterhaltspflichtigen Elternteils durch eine höhere Waisenrente ausgleichen wolle. Der Begriff der "Vollwaise" müsse daher auch bei unehelichen Kindern so ausgelegt werden, daß dabei die in der Durchführungsverordnung vorgesehene Regelung der Unterhaltsansprüche gegen den mutmaßlichen Erzeuger berücksichtigt werde; nach §§ 1267, 1262 Abs. 2 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beständen derartige Ansprüche, wenn die Vaterschaft oder die Unterhaltspflicht des Versicherten festgestellt sei. Daraus folge, daß uneheliche Kinder nach dem Tod der Mutter Vollwaisen seien, wenn weder die Vaterschaft noch die Unterhaltspflicht eines "Erzeugers" festgestellt sei. Sei jedoch die letztere Feststellung getroffen, so sei das uneheliche Kind auch nach dem Tod der Mutter so lange als Halbweise anzusehen, als der uneheliche Erzeuger nicht verstorben oder verschollen sei.

Das Urteil des LSG vom 29. Januar 1959 ist am 31. März 1959 zugestellt worden. Am 29. April 1959 hat das Jugendamt T... in B... als amtlicher Vormund unter Antragstellung telegrafisch die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und diese am 27. Mai 1959 begründet.

Der Kläger rügt eine Verletzung des § 1775 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Er hält das Urteil des SG im Gegensatz zu dem angefochtenen Urteil für zutreffend; er beruft sich insbesondere erneut darauf, daß in anderen gesetzlichen Regelungen uneheliche Kinder schon beim Tod der Mutter als Vollwaisen angesehen würden und daß - mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) - anzunehmen sei, daß der bürgerlich-rechtliche Verwandtschaftsbegriff auch auf anderen Rechtsgebieten maßgeblich sei.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Gewährung der Vollwaisenrente für den Kläger vom 1. Januar 1957 an zu verurteilen. Er begehrt also die Zurückweisung der Berufung gegen das Urteil des SG.

Demgegenüber beantragt die Beklagte die Zurückweisung der Revision.

Aus § 1589 Abs. 2 BGB lasse sich für die Begriffe Halb- bzw. Vollwaise im Sinne der RVO nichts entnehmen. Das angefochtene Urteil sei zutreffend, wie dies auch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Februar 1959 - 8 RV 1261/57 - ausweise. Wenn uneheliche Kinder bereits nach dem Tod der Mutter als Vollwaisen angesehen würden, läge darin eine Besserstellung gegenüber ehelichen Kindern.

Das BSG hat die Parteien noch auf das Urteil des 3. Senats - 3 RJ 224/58 - vom 23. Juli 1959 hingewiesen. Der Kläger hält diese Urteile auch dann für anwendbar, wenn der Aufenthalt des Erzeugers seit Jahren unbekannt sei, da alsdann von seiner Verschollenheit ausgegangen werden müsse; im übrigen spreche die Tatsache, daß weder in West- noch in Ost-Berlin bei der Polizei über den Verbleib W.s etwas bekannt sei, für dessen Tod in den unruhigen Zeiten des Kriegsendes.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden. Sie ist vom LSG zugelassen und daher statthaft. Sie ist jedoch nicht begründet.

Die Frage der Auslegung des Begriffs "Vollwaise" im Sinne des § 1269 RVO hat das BSG bereits mehrfach beschäftigt. Das Urteil des 3. Senats vom 23. Juli 1959 (BSG 10, 189), dem sich auch der erkennende Senat angeschlossen hat - vgl. die Beschlüsse vom 31. Mai 1960 (SozR RVO § 1269 Aa3Nr. 2) und vom 6. Dezember 1960 (unveröffentlicht, 4 RJ 202/59) -, hat sich eingehend mit dem auch im vorliegenden Falle vom Kläger zur Begründung seiner entgegengesetzten Auffassung besonders hervorgehobenen Umstand, daß die Rentenleistungen der Sozialversicherung grundsätzlich eine Unterhaltsfunktion haben, auseinandergesetzt. Durch jenes Urteil ist klargestellt worden, daß die Vollwaisenrente nach dem Tod der unehelichen Mutter einem unehelichen Kinde nur dann zusteht, wenn auch dessen unehelicher Vater (bzw. Zahlvater) verstorben (oder verschollen) ist; nur wenn die Forderung des Nachweises des Todes oder der Verschollenheit des unehelichen Vaters deshalb ihren Sinn verliert, weil dieser der Person nach überhaupt nicht bekannt ist, wird in dem Urteil eine Ausnahme gemacht.

Im vorliegenden Falle ist der uneheliche Vater (bzw. Zahlvater) durch das Unterhaltsurteil eindeutig bekannt, so daß nach der erwähnten Rechtsprechung, von der insoweit abzuweichen kein Anlaß besteht, die Vollwaisenrente nur zu zahlen wäre, wenn der Tod oder - was hier nach dem Sachverhalt allein in Frage kommen kann - die Verschollenheit W.s feststünde. Der Kläger hatte ursprünglich selbst vorgetragen, es werde vermutet, daß W. als tschechischer Staatsangehöriger in seine Heimat zurückgekehrt sei. Er hat dann später behauptet, es sei anzunehmen, daß W. nicht mehr lebe, so daß er als verschollen zu betrachten sei.

Das LSG hat offenbar angenommen, daß der uneheliche Vater des Klägers nicht als verschollen anzusehen ist, da nur dann die Ausführungen seines Urteils, das uneheliche Kind sei, wenn die Unterhaltspflicht des Erzeugers festgestellt wäre, auch nach dem Tode seiner Mutter solange als Halbwaise anzusehen, als jener Erzeuger nicht verstorben oder verschollen sei, im Zusammenhang mit seiner Folgerung, der Kläger sei nur als Halbwaise anzusehen, und der sich daraus ergebenden Klageabweisung, sinnvoll erscheinen.

Mit dieser Annahme hat das LSG gleichzeitig die Feststellung treffen wollen und getroffen, daß die im Verschollenheits- und Verschollenheitsänderungsgesetz für die Anwendung der Todesvermutung erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Diese tatsächlichen Feststellungen sind mit einer Verfahrensrüge nicht angegriffen, so daß die Revision unter Zugrundelegung der genannten Verschollenheitsvorschriften keinen Erfolg haben kann.

Aus dem Urteil ergibt sich jedoch nicht, ob das LSG bei seiner rechtlichen Prüfung die Anwendbarkeit des § 1271 RVO auf den vorliegenden Fall überhaupt erwogen hat; insoweit könnte daher ein materiell-rechtlicher Fehler vorliegen. § 1271 RVO stellt zwar ausdrücklich nur auf die Feststellung des Todestages verschollener Versicherter ab, aus deren Versicherungsverhältnis von ihren Hinterbliebenen eine Rentenleistung begehrt wird, während die hier fragliche Waisenrente nicht auf einer etwaigen Versicherung des verschollenen Erzeugers beruht. Da die genannte Bestimmung die Rentengewährung an Hinterbliebene jedoch gerade insofern erleichtern will, als diese bei Vorliegen der in ihrem Abs. 1 geforderten Voraussetzungen auch ohne die nur mit größeren Schwierigkeiten zu erreichende gerichtliche Todeserklärung erfolgen soll, könnte eine entsprechende Anwendung des § 1271 RVO auf Fälle wie den vorliegenden vertretbar erscheinen, in denen von der Verschollenheit einer Person, die zwar nicht im Wortsinn jener Bestimmung "Versicherter" ist, trotzdem die Gewährung einer bestimmten Hinterbliebenenrente nach Umfang oder Beginn abhängig ist.

Der Senat brauchte diese zweifelhafte Frage jedoch nicht zu entscheiden, da auch bei einer entsprechenden Anwendbarkeit des § 1271 RVO auf derartige Fälle ein Anspruch des Klägers auf Vollwaisenrente nicht gegeben ist. Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen wäre zwar die erste im § 1271 Abs. 1 Satz 2 RVO geforderte Voraussetzung, das Fehlen glaubhafter Nachrichten während mindestens eines Jahres, gegeben. Mit seiner - bereits oben erörterten - Annahme, der uneheliche Erzeuger des Klägers sei nicht verschollen, hat das LSG jedoch gleichzeitig hinreichend deutlich auch die tatsächliche Feststellung getroffen, daß für das zweite Erfordernis des Satzes 2 aaO, daß Umstände vorlägen, die den Tod W.s wahrscheinlich machten, kein Anhaltspunkt vorliegt. Unter diesen Umständen liegt auch dann, wenn das LSG bei seiner Entscheidung den § 1271 RVO nicht angewandt hat, keine Verletzung materiellen Rechts vor. Die Revision erweist sich damit als unbegründet; sie war daher zurückzuweisen.

Dem Kläger muß unter den gegebenen Umständen anheimgestellt werden, die Todeserklärung W.s zu betreiben, wenn er sich von einem derartigen Verfahren einen Erfolg verspricht.

Die Kostenentscheidung rechtfertigt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304937

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