Entscheidungsstichwort (Thema)

Schülerunfall. Selbstmordversuch eines Schülers. Sprung aus dem Fenster

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes beim Sprung eines Schülers aus dem Fenster, nachdem er während der vorangegangenen Unterrichtsstunde von den Schülern ausgelacht und von der Lehrerin in dieser Situation allein ohne Schutz gelassen wurde.

2. Die Annahme einer den Kausalzusammenhang sonst ausschließenden sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr scheidet aus, wenn die Art des Handelns eines Schülers als Folge der wesentlich mit durch einen Vorfall im vorangegangenen Unterricht zurückzuführenden kurzschlußartigen Reaktion bedingt war.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

SG Stuttgart (Entscheidung vom 05.08.1977; Aktenzeichen S 3 U 3158/76)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 5. August 1977 wird zurückgewiesen.

 

Tatbestand

Der am 12. Dezember 1964 geborene Schüler H (H.) besuchte im Herbst 1975 eine 5. Klasse der O-S-Schule in W. Er befand sich im Probehalbjahr und hatte schulische Schwierigkeiten. Eine Rückschulung in die Hauptschule stand, wie H. und seinen Eltern bekannt war, ernsthaft zur Diskussion. Am 5. November 1975 versagte H. in der Englischstunde und wurde von der Klasse ausgelacht. Nach dem Pauseläuten bemerkte ein Schüler, daß H. mit einem Fuß auf dem Fensterbrett eines geöffneten Fensters stand. Er rief ihn an, H. blickte auch zurück, sagte aber nichts. Der Schüler machte die Lehrerin auf H. aufmerksam. Ehe sie H. jedoch erreichte, sprang dieser aus dem Fenster etwa vier Meter tief auf den Rasen. H. erlitt einen Wirbelvorderkanteneinbruch sowie eine Lippenrißwunde. Beim Durchgangsarzt wurden schulische Schwierigkeiten für den Sprung aus dem Fenster angegeben. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S vertrat die Auffassung, daß es sich bei dem Sprung aus dem Fenster um eine kurzschlußartige Reaktion nach schulischen Schwierigkeiten gehandelt habe.

Die Beklagte, deren Mitglied der Vater des Verletzten ist, lehnte es ab, dem Kläger die aus Anlaß des Sprunges aus dem Fenster entstandenen Aufwendungen zu ersetzen, da ein Arbeitsunfall (Schulunfall) vorliege.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 5. August 1977 abgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt: Der Verletzte habe im Zeitpunkt des Unfalles unter ganz erheblichem Druck von mehreren Seiten gestanden. Richtig sei, daß die Diskussion einer Rückschulung in die Hauptschule schon einige Tage vor dem Unfall stattgefunden habe. Ebenso sicher sei aber auch, daß die Eltern von da an dem Verletzten gegenüber mindestens eine deutliche Erwartungshaltung, wenn nicht mehr, an den Tag gelegt und damit den Verletzten in Vereinsamung und Verzweiflung getrieben hätten. Vermutlich hätte der Verletzte diesem Druck aber standgehalten, wenn nicht in der Unterrichtsstunde am Unfalltag ein für ihn unerträglicher Vorfall gewesen wäre, den die Lehrerin offenbar nicht in pflichtgemäßer Weise gesteuert habe. Da sie zugelassen habe, daß die Schüler der Klasse H. wegen eines schulischen Versagens auslachten und nicht eingegriffen habe, liege in diesem Unterlassen eine der wesentlichen und damit rechtserheblichen Ursachen für die nachfolgende Tat. Damit sei die konkrete schulische Situation während des Unterrichts eine wesentliche Ursache für die nachfolgende Handlung des H., der einem erheblichen Druck nach dem Versagen in der Englischstunde mit der Beschämung des öffentlichen Ausgelachtwerdens, ohne daß die Lehrerin zu seinem Schutze einspringe, auf seine Weise - kurzschlüssig, wie der Gutachter bemerkte - ausgewichen sei.

Das SG hat die Revision im Urteil zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Er trägt vor: Das Gericht bejahe einerseits, daß das verletzte Kind einem besonderen Streß in der Schule unterworfen gewesen sei. Es sei aber nicht einzusehen, weshalb man nur deshalb einen Schulunfall anerkenne, weil sich diese Spannungen nun gerade in der Schule entladen hätten. Ein Abreagieren außerhalb der Schule wäre naheliegender gewesen. Selbst wenn man das Ausgelachtwerden durch die anderen Schüler in der vorangegangenen Stunde als den sogenannten letzten Tropfen werte, welcher das Faß zum Überlaufen bringe, so könne doch nicht verkannt werden, daß die Hauptursache im falschen Verhalten der Eltern liege. Dann sei es absolut nicht richtig, nur deswegen einen Schulunfall anzuerkennen, weil sich dieses Ereignis nun gerade zufällig in der Schule vollzogen habe. Es erscheine sehr fraglich, ob das SG einen Unfall anerkannt hätte, wenn der Schüler erst auf dem Nachhauseweg wegen des gleichen Anlasses zB von einer Brücke oder dergleichen gesprungen wäre. Wenn man der Auffassung des SG folgen wollte, müßten alle Selbstmordversuche, welche Schüler infolge schlechter Zeugnisse vornähmen, als Schulunfälle anerkannt werden. Dieses Ergebnis würde sicher auch von medizinischer oder psychologischer Seite nicht gestützt werden; denn dann müßte logischerweise auch der Selbstmord eines Unternehmers, dessen Firma vom Konkurs bedroht oder bereits in Konkurs geraten sei, als Arbeitsunfall anerkannt werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Ersatz gemäß § 1509a der Reichsversicherungsordnung in Höhe von 1.747,30 DM zu leisten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Ein Entschädigungsanspruch des Klägers gemäß § 1509a der Reichsversicherungsordnung (RVO) setzt voraus, daß die Erkrankung des H., für die der Kläger als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung Leistungen erbracht hat, nicht Folge eines Arbeitsunfalles ist. An dieser Voraussetzung fehlt es. Das SG hat zutreffend entschieden, daß H. am 5. November 1975 einen Arbeitsunfall (Schulunfall) erlitten hat.

Der Schüler H. war während des Besuchs der allgemeinbildenden Schule gemäß § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO gegen Arbeitsunfälle (Schulunfälle) versichert. Versicherungsschutz besteht auch während der Unterrichtspausen (BSG Urteil vom 30. Oktober 1979 - 2 RU 60/79; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl S. 483 1). Dem Sinn des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b und § 548 RVO entsprechend ist bei einer Tätigkeit innerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule (s. BSGE 35, 207, 211; 41, 149, 150; Brackmann aaO S. 483 m) Versicherungsschutz nur gegeben, wenn die Tätigkeit in einem wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch steht (BSG Urteil vom 30. Oktober 1979 aaO; Brackmann aaO S 483 n).

Den tatsächlichen Feststellungen des SG ist allerdings nicht zu entnehmen, was H. mit seinem Sprung aus dem Fenster bezweckte. Das SG hat lediglich dargelegt, daß H. sich nicht als tollkühn oder wagemutig zeigen wollte. Einer Zurückverweisung zu weiteren Ermittlungen bedarf es jedoch nicht. Entscheidend ist, daß unabhängig von dem Zweck des Sprunges das Handeln des H. nach den vom SG festgestellten besonderen Umständen des vorliegenden Falles in ursächlichem Zusammenhang mit dem Schulbesuch stand. Die allgemeine Belastung des H. durch den Besuch der Schule führte nicht nur, wie die Revision meint, gelegentlich des Schulbesuchs zu dem Sprung aus dem Fenster. Wesentlich für den Sprung aus dem Fenster war vielmehr auch nach der Auffassung des SG insbesondere der Umstand, daß H. während der vorangegangenen Unterrichtsstunde von den Schülern ausgelacht und nach den weiteren tatsächlichen Feststellungen des SG von der Lehrerin in dieser Situation allein ohne Schutz gelassen wurde. Diese mit dem Gruppenverhalten durch das Zusammenfassen in Klassen zusammenhängende zusätzliche Belastung verursachte in der Schule die von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S als kurzschlußartige Reaktion bezeichnete Handlung. Da somit auch die Art des Handelns als Folge der wesentlich mit durch den Vorfall im vorangegangenen Unterricht zurückzuführenden kurzschlußartigen Reaktion bedingt war, scheidet schon deshalb die Annahme einer den Kausalzusammenhang sonst ausschließenden sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr (s. Brackmann aaO S. 484 f ff.) aus. Es kann daher dahinstehen, ob ein auf einer schlechten Bewertung seiner Leistungen beruhendes Verhalten eines Schülers den Kausalzusammenhang begründen kann. Das SG hat den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Sprung aus dem Fenster und dem Schulbesuch auch nicht, wie die Revision meint, allein deshalb bejaht, weil sich der Vorfall in der Schule ereignet hat. Wesentlich für den Sprung des H. aus dem Fenster waren vielmehr die mit dem Schulbesuch des H. zusammenhängenden Vorgänge während des unmittelbar vorangegangenen Unterrichts.

Eine Kostenentscheidung entfällt (s. § 193 Abs 4 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658557

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge