Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Unfallrente. bestandskräftiger Verwaltungsakt. ehemalige DDR. Abschmelzung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Befugnis des Versicherungsträgers, Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten, die von einem DDR-Leistungsträger vor dem 3.10.1990 bindend anerkannt waren, nach § 48 Abs 3 SGB 10 von zukünftigen Erhöhungen der Verletztenrente auszusparen (Fortführung von BSG vom 11.5.1995 – 2 RU 24/94 = BSGE 76, 124 = SozR 3-8100 Art 19 Nr 1).

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

RVO § 1150 Abs. 2, § 1154 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; SGB X §§ 45, 48 Abs. 3; EinigVtr § Art. 19 Sätze 1, 3, 2

 

Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 05.12.1995; Aktenzeichen L 3 U 8/94)

SG Dresden (Entscheidung vom 12.04.1994; Aktenzeichen S 9 U 68/93)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 5. Dezember 1995 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, ihren Bescheid vom 28. Oktober 1991 zurückzunehmen, mit dem sie die vom Kläger zu diesen Zeitpunkt bezogene Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung von allen künftigen tatsächlichen und rechtlichen Veränderungen ausgeschlossen hatte.

Der im Jahre 1947 geborene Kläger war als Kraftfahrer beim VEB F. … G. … beschäftigt. Am 27. August 1975 hatte er mit dem betrieblichen LKW Stoffballen nach Polen zu liefern und dort genähte Bademäntel für die Rückfahrt aufzuladen. Beim Aufladen empfand er plötzlich starke Kopfschmerzen. Auf der Rückfahrt als Beifahrer wurde er bewußtlos und mit der ärztlichen Diagnose „Bluterguß im Kopf bzw arterio-venöses Aneurysma im Bereich der rechten Fossa Silvii” am darauffolgenden Tag operiert.

Im September 1976 beantragte der Kläger bei der Sozialversicherung der DDR die Zahlung einer Unfallrente. In einem ärztlichen Gutachten vom 8. November 1976 wurde ein Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den damaligen Beschwerden verneint, weil der operativ nachgewiesene Befund nicht traumatisch entstanden sei, vielmehr eine Anlage-Mißbildung darstelle. Ursache sei eine jederzeit mögliche Blutung aus dem unfallunabhängig entstandenen arteriovenösen Hirnaneurysma gewesen. Eine außergewöhnliche Einwirkung auf die Hirntätigkeit bzw auf die Hirndurchblutung, die von sich aus unabhängig von der Hirngefäß-Mißbildung eine adäquate Hirnschädigung hervorgerufen hätte, habe durch die Arbeitsbesonderheiten am Schädigungstag nicht vorgelegen. Daraufhin wurde der Antrag unter dem 6. Januar 1977 abgelehnt.

Nach weiteren Vorsprachen des Klägers im Jahre 1979 und erneuten Stellungnahmen der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) des damaligen Beschäftigungsbetriebs, in welchem der Unfall als Arbeitsunfall anerkannt wurde, forderte der FDGB-Bezirksvorstand Dresden den FDGB-Kreisvorstand Löbau – Verwaltung der Sozialversicherung – auf, die Entscheidung der BGL des VEB F. … über die Anerkennung als Arbeitsunfall aufzuheben. Der FDGB-Kreisvorstand Zittau teilte daraufhin dem FDGB-Bezirksvorstand Dresden mit, eine Aufhebung der Entscheidung der BGL sei nicht erforderlich; ein Anspruch auf Unfallrente sei aus medizinischen Gründen nicht gegeben. Nachdem die Kreisstelle für ärztliches Begutachtungswesen Löbau dem Kläger mitgeteilt hatte, daß auch bei Beachtung aller von ihm angegebenen neuen Gesichtspunkte bezüglich besonderer Umstände und der Klimasituation am 27. August 1975 medizinisch nicht begründet werden könne, daß die bei ihm bestehende Invalidität Folge eines Arbeitsunfalls sei, wandte sich der Kläger an die Beschwerdekommission für Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung der DDR. Mit Bescheid vom 24. April 1981 teilte der FDGB-Bundesvorstand mit, auch eine nochmalige gründliche Überprüfung aller medizinischen Unterlagen und des Ablaufs seiner Tätigkeit am 27. August 1977 hätten keine begründeten Hinweise dafür ergeben, die bisherigen Entscheidungen abzuändern. Nach einer Beratung mit der Abteilung Gesundheitspolitik des Zentralkomitees der SED legte der FDGB-Bundesvorstand am 15. Februar 1983 fest, als Einzelentscheidung einen Unfallrentenanspruch anzuerkennen. Als Beginn der Unfallrentenzahlung wurde der 1. September 1982 (Eingabe an den Leiter der Abt Gesundheitspolitik des Zentralkomitees der SED am 2. September 1982) vorgesehen und der Körperschaden auf 70 % angesetzt. Am 1. März 1983 erging ein entsprechender Bescheid an den Kläger.

Die Beklagte übernahm zum 1. April 1991 die Zahlung der Rente, die sie mit Wirkung ab 1. Juli 1991 erstmals anpaßte.

Mit Schreiben vom 9. März 1991 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Rentenerhöhung. Anläßlich der Überprüfung des Sachverhalts stellte diese fest, es liege kein Arbeitsunfall vor. Daraufhin teilte sie ihm nach Anhörung mit Bescheid vom 28. Oktober 1991 mit, die derzeitig bezogene Rente nach einem Körperschaden von 70 vH in Höhe von 758,00 DM monatlich werde von allen künftigen tatsächlichen und rechtlichen Veränderungen ausgeschlossen.

Im April 1993 beantragte der Kläger die „Aufhebung der Festschreibung seiner Unfallrente”. Mit Bescheid vom 25. Juni 1993 idF des Widerspruchsbescheids vom 28. September 1993 lehnte die Beklagte den Antrag auf Rücknahme des Bescheids vom 28. Oktober 1991 ab. Zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Bescheids sei § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) uneingeschränkt anzuwenden gewesen, da § 1154 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erst am 1. Januar 1992 in Kraft getreten sei. Selbst bei Anwendung des § 1154 Abs 1 RVO wäre der Bescheid vom 28. Oktober 1991 nicht zurückzunehmen, weil nach dieser Vorschrift § 48 SGB X nur hinsichtlich der sich aus der Bemessung des Körperschadens ergebenden Rechtsfolgen ausgeschlossen sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Rücknahme des Bescheids vom 28. Oktober 1991 verpflichtet, die Unfallrente des Klägers ab 1. Januar 1992 regelmäßig anzupassen (Urteil vom 12. April 1994). Die aufgrund des Bescheids vom 28. Oktober 1991 nicht mehr vorgenommenen Anpassungen der Verletztenrente des Klägers seien zu Unrecht unterlassen worden, weil bei Erlaß dieses Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt worden sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG hinsichtlich des Ausspruchs über die Verpflichtung der Beklagten, die Unfallrente ab 1. Januar 1992 regelmäßig anzupassen, aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen, weil es über die Aufhebung des angefochtenen Bescheids hinausgehend die Verpflichtung der Beklagten zur regelmäßigen Anpassung der Rente ab 1. Januar 1992 nicht hätte aussprechen dürfen. Im ürigen hat das LSG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 5. Dezember 1995). Der Bescheid vom 25. Juni 1993 idF des Widerspruchsbescheids vom 28. September 1993 sei aufzuheben und die Beklagte sei zu verpflichten, den Verwaltungsakt vom 28. Oktober 1991 zurückzunehmen, weil bei dessen Erlaß das Recht unrichtig angewandt worden sei. Entgegen ihrer Auffassung sei sie nach § 48 Abs 3 SGB X nicht berechtigt gewesen, die Rente von allen künftigen tatsächlichen und rechtlichen Veränderungen auszuschließen. Diese Vorschrift setze einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt voraus; der Bescheid des DDR-Leistungsträgers vom 1. März 1983 sei jedoch nicht rechtswidrig iS des § 48 Abs 3 SGB X. Nach Art 19 Satz 1 und 3 des Einigungsvertrags (EinigVtr) vom 31. August 1990 blieben vor dem Beitritt ergangene Verwaltungsakte der DDR grundsätzlich wirksam. Diese könnten nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr unvereinbar seien. Unberührt blieben daneben auch die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten. § 45 SGB X greife nicht ein, weil der Verwaltungsakt vom 1. März 1983 bei seinem Erlaß nicht rechtswidrig gewesen sei. Die Tatsache, daß dieser Bescheid auf einer „Einzelentscheidung” beruhe, begründe nicht die Rechtswidrigkeit. Selbst wenn der Verwaltungsakt als rechtswidrig anzusehen sei, wäre nach den Grundsätzen über die Überleitung des bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet (§ 1150 RVO) die Anwendung der §§ 45 und 48 SGB X auf den vorliegenden Sachverhalt nicht möglich. Nach § 1150 Abs 2 RVO würden Unfälle, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten seien und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle der Sozialversicherung gewesen seien – wie hier –, als Arbeitsunfälle iS der RVO gelten. Die Wahrung des Besitzstands habe danach Vorrang. Damit sei auch eine Überprüfung von nach früherem DDR-Recht bereits bindend anerkannten Arbeitsunfällen aus Anlaß der Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet nach § 48 SGB X ausgeschlossen. Dieser Schutz des Vertrauens und des Besitzstands wirke auch dann (fort), wenn – wie hier – ein Begünstigter einen Erhöhungsantrag stelle oder – etwa infolge einer gesetzlichen Rentenanpassung – die Beklagte von sich aus eine Erhöhung der Rente vorzunehmen habe.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 1154 RVO und § 48 Abs 3 SGB X). Der Kläger habe weder nach dem Recht der ehemaligen DDR noch nach der RVO einen Arbeitsunfall erlitten, weil sowohl § 548 RVO als auch § 20 Arbeitsgesetzbuch (DDR) ein äußeres Ereignis als Ursache eines Körperschadens voraussetze. Sie – die Beklagte – habe im bindenden Bescheid vom 28. Oktober 1991 festgestellt, daß die Hirnschädigung infolge Blutung nicht durch ein solches Ereignis verursacht worden sei. Daher habe sie den Bescheid vom 28. Oktober 1991 auch nur im Hinblick auf die richtige Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X iVm § 1154 RVO überprüft; auch das LSG habe keine ausdrückliche Feststellung hinsichtlich des Vorliegens eines Arbeitsunfalls getroffen. Sei somit die Einzelentscheidung des Bundesvorstands des FDGB rechtswidrig, so habe sie das Recht, die Rente gemäß § 48 Abs 3 SGB X „einzufrieren”. Diese Vorschrift über die Bestandskraft von Verwaltungsakten gelte auch im Beitrittsgebiet, wie sich aus Art 19 Satz 3 EinigVtr ergebe. Die Anwendbarkeit des § 48 Abs 3 SGB X werde auch nicht durch § 1154 Abs 1 Satz 2 Nr 2 RVO ausgeschlossen. Schon dem Wortlaut nach treffe die Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 48 SGB X den vorliegenden Sachverhalt nicht, weil danach § 48 SGB X nicht hinsichtlich der sich aus der Bemessung des Körperschadens ergebenden Rechtsfolgen gelte. Hier seien aber nicht Rechtsfolgen aus der Bemessung des Körperschadens streitig, sondern es fehle an der Kausalität der körperlichen Beeinträchtigung mit einem Arbeitsunfall. Aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Mai 1995 (2 RU 26/94) ergebe sich nichts anderes, da darin keine Entscheidung zu § 48 Abs 3 SGB X getroffen worden sei; der in dem damaligen Verfahren streitige Verwaltungsakt habe eine „Einfrierung” auch nicht vorgenommen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sächsischen LSG vom 5. Dezember 1995 sowie das Urteil des SG Dresden vom 12. April 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist unbegründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Bescheid vom 25. Juni 1993 idF des Widerspruchsbescheids vom 28. September 1993 aufzuheben ist und die Beklagte den Bescheid vom 28. Oktober 1991 nach § 44 Abs 1 SGB X zurückzunehmen hat.

Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht oder nicht in richtiger Höhe erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Beklagte hat bei Erlaß des Verwaltungsakts vom 28. Oktober 1991 das Recht unrichtig angewandt. Sie hat diesen Verwaltungsakt – soweit er den im Revisionsverfahren maßgebenden Streitpunkt betrifft – darauf gestützt, sie könne nach § 48 Abs 3 SGB X die derzeit von ihr gezahlte Rente von allen künftigen tatsächlichen und rechtlichen Veränderungen ausschließen. Diese Auffassung trifft, wie das LSG zutreffend entschieden hat, für den hier zu überprüfenden Verwaltungsakt der Beklagten vom 28. Oktober 1991 nicht zu.

Das im Beitrittsgebiet nach dem 2. Oktober 1990 geltende Recht auf dem Sachgebiet der gesetzlichen Unfallversicherung war zunächst im EinigVtr vom 31. August 1990 (BGBl II 889, 1062, 1216) geregelt (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III, Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet I, Abschnitt III iVm Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet F Abschnitt III EinigVtr). Es handelte sich um Vorschriften für eine Übergangszeit, im allgemeinen bis zum 31. Dezember 1991. Die endgültige Regelung war einem zu erlassenden besonderen Bundesgesetz vorbehalten (Art 30 Abs 5 EinigVtr), das als Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1606) mit Wirkung im wesentlichen vom 1. Januar 1992 die §§ 1148 ff RVO geschaffen hat (s KassKomm-Ricke, Vor § 537 RVO RdNr 1). Demnach richtete sich das bei Erlaß des Bescheids vom 28. Oktober 1991 von der Beklagten anzuwendende Recht bei – wie hier – im ehemaligen Beitrittsgebiet abgeschlossenem Tatbestand nach den Vorschriften des EinigVtr vom 31. August 1990.

Nach Art 19 Satz 1 EinigVtr bleiben vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der DDR grundsätzlich wirksam. Diese können nach Satz 2 dieser Vorschrift nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr unvereinbar sind; unberührt bleiben daneben auch die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten (Art 19 Satz 3 EinigVtr).

Art 19 Satz 1 EinigVtr einerseits und Art 19 Satz 2 und 3 EinigVtr andererseits stehen in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis. Die Wirksamkeit von Verwaltungsakten der früheren DDR-Behörden ist danach die Regel, die Möglichkeit der Aufhebung nach Art 19 Satz 2 oder 3 EinigVtr ist die Ausnahme. Die Aufhebung von Verwaltungsakten der früheren DDR ist die nach Art 19 Satz 2 und 3 EinigVtr an enge Voraussetzungen gebundene Ausnahme. Daraus ergibt sich im Umkehrschluß, daß im Regelfall eine Aufhebung nicht erfolgt. Damit trägt der EinigVtr dem Umstand Rechnung, daß eine vollständige Aufarbeitung von 40 Jahren DDR-Verwaltungspraxis anhand der Prüfungsmaßstäbe der nach dem EinigVtr auch in den neuen Bundesländern – nunmehr – geltenden Rechtsordnung unmöglich wäre. Sie könnte an unüberwindlichen Schwierigkeiten der Sachverhaltsaufklärung scheitern und auch zu neuen Ungerechtigkeiten führen (BSGE 76, 124, 125 mwN).

Es kann dahinstehen, ob die Vorschrift des Art 19 Satz 2 EinigVtr nur auf Eingriffsakte in bestehende subjektive (vor allem: Menschen-)Rechte zugeschnitten ist, die uU auch nach Maßgabe von DDR-Vorschriften rechtswidrige Leistungsablehnungen in der Sozialversicherung der ehemaligen DDR erfaßt (offengelassen BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 8). Denn unter Beachtung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses ist die Vorschrift, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, erkennbar darauf ausgerichtet, daß sie lediglich solche Verwaltungsakte der grundsätzlichen Weitergeltung über den 2. Oktober 1990 hinaus nicht teilhaftig werden läßt, welche in unerträglicher Weise das rechtsstaatliche Rechtsgefühl verletzen würden. Das ist nach den hier vom LSG festgestellten Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls nicht ersichtlich. Es gibt keine allgemeine Schlußfolgerung dahingehend, daß ein Verwaltungsakt, der, wie die Revision meint, die Vorschriften des DDR-Rechts verletzt, so schwerwiegende Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze enthält, daß er nach Art 19 Satz 2 EinigVtr aufzuheben sei (ThürOVG DÖV 1994, 964, 965). Davon abgesehen sind nach den Feststellungen des LSG die Beweggründe, die hinter der die Unfallrente bewilligenden Einzelentscheidung stand, den Akten nicht zu entnehmen. Konkrete Anhaltspunkte für eine rein willkürliche und deshalb rechtsstaatlich unbeachtliche Entscheidung liegen nicht vor, zumal „Einzelentscheidungen” eines Staatsorgans oder eines Staatsfunktionärs, durch den ein genau bezeichnetes Verhalten für konkrete Adressaten (hier FDGB), die dem Staatsorgan oder dem Staatsfunktionär nicht unmittelbar unterstellt waren, im Recht der DDR nichts Unbekanntes waren (s Verwaltungsrecht, 2. Aufl, Staatsverlag der DDR, 1988, S 132 ff sowie Rechtslexikon, Staatsverlag der DDR, 1988, unter dem Stichwort „Einzelentscheidung”).

Als weitere Rechtsgrundlage für die Durchbrechung dieser grundsätzlichen Bestandskraft von Verwaltungsakten der früheren DDR und damit als Rechtsgrundlage des Bescheids vom 28. Oktober 1991 kommen die im Beitrittsgebiet nach Art 8, 19 Satz 3 EinigVtr und Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2 EinigVtr anwendbaren §§ 45 und 48 SGB X in Betracht. Hierbei ist jedoch die Überprüfung des DDR-Ausgangsbescheids unter der Beachtung der oben genannten Gesichtspunkte des vorrangigen Bestandsschutzes auch nach diesen Bestimmungen nur eingeschränkt möglich.

Eine Rücknahme nach § 45 SGB X scheidet hier schon deshalb aus, weil die Beklagte, wie sie im Bescheid vom 28. Oktober 1991 zutreffend ausgeführt hat, im Hinblick auf das vom Kläger in die Richtigkeit des Bescheids vom 1. März 1983 gesetzte Vertrauen auf die Gewährung einer Unfallrente nach einem Körperschaden von 70 % gebunden ist.

Entgegen der Auffassung der Revision sind die Voraussetzungen der Aussparungsvorschrift des § 48 Abs 3 SGB X ebenfalls nicht erfüllt. Zwar ist diese Regelung nicht nur, wie der Kläger meint, bei Fehlern des Ursprungsbescheids anwendbar, die die Höhe der Leistung (zB zu hoch eingeschätzte Minderung der Erwerbsfähigkeit ≪MdE≫), sondern auch bei solchen Fehlern, die den Grund der Leistungsbewilligung betreffen (BSG SozR 1300 § 48 Nrn 51 und 54). Der die Abschmelzung nach § 48 Abs 3 SGB X durchführende Bescheid setzt jedoch stets die Feststellung voraus, daß der Ursprungsbescheid rechtswidrig ist (BSG Urteil vom 2. November 1988 – 2 RU 39/87 = HV-INFO 1989, 84). Damit greift der Bescheid in die Bestandskraft insoweit ein, als der frühere Bescheid entgegen seinem Inhalt keine Basis mehr hergibt, um künftige Leistungsverbesserungen darauf aufzubauen. Dies ist im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes nur hinnehmbar, wenn die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Anerkennungsbescheids durch einen anfechtbaren Verwaltungsakt festgestellt wird. Ohne diese Feststellung bleiben der Ursprungsbescheid und die darauf aufbauenden Bescheide rechtmäßig (BSG SozR 1300 § 48 Nr 54). Der Verwaltung bleibt es dabei unbenommen, die Feststellung der Rechtswidrigkeit durch einen selbständigen Bescheid oder als Teil des Bescheids über die Abschmelzung zu treffen (BSGE 63, 266, 269).

Es kann hier offenbleiben, ob der Bescheid vom 28. Oktober 1991 überhaupt hinreichend bestimmt (s § 33 Abs 1 SGB X) die – konstitutiv wirkende – Feststellung enthält, der Verwaltungsakt des DDR-Leistungsträgers vom 1. März 1983 sei rechtswidrig; denn die Beklagte hat die Rechtswidrigkeit allein auf die vom damaligen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung abweichende „Einzelentscheidung” gestützt. Aus der Einzelentscheidung allein kann jedoch nach dem Recht der DDR nicht geschlossen werden, der Unfall des Klägers sei zu Unrecht als Arbeitsunfall entschädigt worden. Dies gilt um so mehr, als solche Einzelentscheidungen nur auf der Grundlage von Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften ergehen durften und damit dem damaligen Recht entsprechen mußten (Verwaltungsrecht aaO S 132; Rechtslexikon aaO unter dem Stichwort „Einzelentscheidung”). Eine Feststellung der Rechtswidrigkeit der Einzelentscheidung kann im Rahmen des Art 19 Satz 3 EinigVtr iVm § 48 Abs 3 SGB X nur unter Beachtung der bereits erörterten Grundsatzentscheidung des Art 19 EinigVtr erfolgen. Damit wird nach der Entscheidung des Gesetzgebers iVm dem EinigVtr ein – möglicherweise bestehender – Fehler der Rechtsanwendung des Rechts der DDR stärker geschützt als ein solcher nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland vor dem Beitritt.

Durch die erst nach Erlaß des Bescheids vom 28. Oktober 1991 geregelte Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet zum 1. Januar 1992 ist im wesentlichen auch keine andere Rechtslage entstanden. Nach Art 30 Abs 5 Satz 1 EinigVtr hatten die Vertragsparteien des EinigVtr es dem bundesdeutschen Gesetzgeber überlassen, die Einzelheiten der Überleitung des Unfallversicherungsrechts auf das Beitrittsgebiet zu regeln. Dies erfolgt – wie bereits dargelegt – vor allem durch die in Art 8 RÜG vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1606) eingefügten Übergangsvorschriften der §§ 1148 ff RVO.

Nach § 1150 Abs 2 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufkrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten iS des Dritten Buchs der RVO auch dann, wenn sie vor dem 1. Januar 1992 noch nicht festgestellt waren. Nach der Amtl Begründung zum RÜG erfolgte mit dieser gesetzlichen Fiktion aus Gründen des Vertrauensschutzes die Übernahme aller vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten, die nach dem früheren Recht der DDR versichert waren, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn es sich nach der RVO nicht um einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gehandelt hätte (BT-Drucks 12/630 S 7 iVm BT-Drucks 12/405 S 154). Die Wahrung des Besitzstands hat danach selbst insofern Vorrang. Darüber hinaus ist eine Überprüfung von nach früherem DDR-Recht bindend anerkannten Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten aus Anlaß der Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet ausgeschlossen (BSGE 76, 124, 126). Dies gilt nicht nur für die ausdrücklich in § 1154 Abs 1 Satz 2 Nr 2 RVO erwähnten Fälle der sich aus der Bemessung des Körperschadens ergebenden Rechtsfolgen mit den entsprechenden Ausnahmen in § 1154 Abs 1 Sätze 3 bis 6 RVO, sondern auch für die Überprüfung von Fehlern des DDR-Bescheids, die dessen Grund erfassen. Auch in diesen Fällen ist § 48 Abs 3 SGB X nicht anzuwenden. Nach der Amtl Begründung (BT-Drucks 12/405 S 156 zu § 1154 RVO) wird für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetreten sind, durch die gesetzliche Fiktion gemäß § 1154 Abs 1 Satz 1 RVO eine Gleichstellung mit den gemäß §§ 548 ff RVO festgestellten Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten erreicht. Dazu führt die Amtl Begründung (aaO) des weiteren aus, die Vorschrift stelle sicher, daß bereits festgestellte Renten nicht allein aus Anlaß der Überleitung der RVO von Amts wegen zu überprüfen und neu festzustellen seien. „Eine Anwendung des § 48 SGB X scheidet daher aus” (Amtl Begründung aaO).

Maßgebend für dieses gesetzgeberische Anliegen war – wie der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) in seinem RdSchr VB 85/92 vom 3. September 1992 als Ergebnis eines Informations- und Erfahrungsaustausches seiner Mitgliedsberufsgenossenschaften festgestellt hat – auch der Aspekt, daß es bereits an der erforderlichen Gutachterkapazität fehlen würde, um größere Mengen der übergeleiteten ca 300.000 Fälle auf die Richtigkeit der seinerzeit vorgenommenen Bemessung des Grades des Körperschadens (ab 1. Januar 1992 der MdE) bzw auf die Richtigkeit der Kausalitätsbeurteilung zwischen versicherter Tätigkeit und Körperschaden zu beurteilen. Auch Gesichtspunkte der Gleichbehandlung der nicht begutachteten Fälle mit den (nach-)begutachteten Fällen sprechen gegen eine Anwendbarkeit des § 48 Abs 3 SGB X.

Es wäre auch nach Sinn und Zweck der Besitzstandsregelungen nicht zu verstehen, wenn nach § 1154 Abs 1 Satz 2 Nr 2 RVO bei dem wesentlich leichter zu beurteilenden noch bestehenden Grad der MdE die Regelungen des § 48 Abs 3 SGB X nicht anzuwenden wären, wohl aber bei der wesentlich schwierigeren, regelmäßig zeitlich weiter zurückliegenden Feststellung der Entscheidung dem Grunde nach.

Folglich ist bei vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet festgestellten Renten grundsätzlich auch nicht danach zu unterscheiden, ob nach DDR-Recht in Wirklichkeit gar kein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall oder keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit vorgelegen hat oder ob zwar ein solcher Versicherungsfall gegeben war, jedoch der Grad des Körperschadens (die MdE) schon nach dem seinerzeit geltenden Unfallversicherungsrecht der DDR bzw im Vergleich zu den Maßstäben nach § 581 RVO überhöht festgesetzt worden war.

Die von einem DDR-Leistungsträger übernommenen Unfallrenten aus dem Beitrittsgebiet sind nach alledem grundsätzlich nicht nur weiter zu zahlen (s BSGE 76, 124), sondern auch gemäß der jeweiligen Rentenanpassungsverordnung anzupassen (s HVBG RdSchr aaO).

Die Revision war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173508

BSGE 80, 119

BSGE, 119

NJ 1997, 244

SozR 3-1300 § 48, Nr.61

SozSi 1997, 438

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