Leitsatz (amtlich)

"Waisenrentenberechtigt" iS des AVG § 42 S 2 Nr 3 (= RVO § 1265 S 2 Nr 3) ist auch ein Kind, das die Berechtigung zur Waisenrente allein von der früheren Ehefrau ableitet; dabei ist es ohne Bedeutung, ob das Kind vor oder nach der Auflösung der Ehe geboren ist.

 

Normenkette

AVG § 42 S 2 Nr 3 Fassung: 1975-05-07; RVO § 1265 S 2 Nr 3 Fassung: 1975-05-07

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.02.1982; Aktenzeichen L 18 An 131/81)

SG Köln (Entscheidung vom 05.06.1981; Aktenzeichen S 3 An 70/79)

 

Tatbestand

Der Streit geht darum, ob der Klägerin Rente nach § 42 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ab 1. Januar 1979 zusteht.

Die Ehe der 1941 geborenen Klägerin mit dem Versicherten Karl St. wurde aus dessen Verschulden im Jahre 1965 geschieden; aus dieser Ehe stammt ein 1960 geborener Sohn. St. war bis zu seinem Tode im November 1973 wiederverheiratet gewesen. Seine Witwe hatte aus seiner Versicherung Hinterbliebenenrente bezogen; der Anspruch wurde wegen ihrer erneuten Eheschließung Ende 1978 abgefunden. Den deswegen von der Klägerin gestellten Antrag, ihr ab Januar 1979 Geschiedenenwitwenrente zu gewähren, den sie damit begründete, sie habe zwei 1968 und 1972 unehelich geborene Kinder zu erziehen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 1979 ab. Sie hielt die Leistungsvoraussetzungen des § 42 Satz 2 Nr 3 AVG nicht für erfüllt, da die Klägerin mit den unehelichen Kindern keine waisenrentenberechtigten Kinder iS des Gesetzes erziehe und im übrigen weder berufs- oder erwerbsunfähig noch 60 Jahre alt sei.

Der Klage gegen diesen Bescheid haben die Vorinstanzen nach Einholung eines - die Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit verneinenden - medizinischen Sachverständigengutachtens stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat im Urteil vom 5. Februar 1982 ausgeführt, für § 42 Satz 2 Nr 3 AVG sei es unerheblich, daß die Klägerin nach der Scheidung geborene uneheliche Kinder erziehe. Eine Beschränkung auf in einem familienrechtlichen oder zumindest familienähnlichen Verhältnis zum verstorbenen Versicherten stehende Kinder ergebe sich aus dem Gesetz nicht. "Waisenrentenberechtigt" sei dahin zu verstehen, daß das Kind zu dem Personenkreis gehören müsse, der grundsätzlich für den Bezug einer Waisenrente in Betracht komme. Das treffe hier zu, denn nach dem Tode der versicherten Klägerin hätten ihre Kinder einen Anspruch auf Waisenrente. Damit bestehe eine Beziehung zwischen den Kindern und der Versichertengemeinschaft, die zusammen mit der familienrechtlichen Beziehung der geschiedenen Klägerin zu dem verstorbenen Versicherten den Anspruch auf Zahlung der Geschiedenenwitwenrente auslöse. Ob der Begriff "waisenrentenberechtigt" nicht sogar nur iS von "minderjährig" zu verstehen sei, könne dahinstehen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie hält die Auslegung von § 42 Satz 2 Nr 3 AVG durch das LSG weder mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes noch mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für vereinbar. Da fast jedes Kind in einer familienrechtlichen Beziehung zu einer rentenversicherten Person stehe, wäre auch eine Waisenrentenberechtigung fast immer gegeben; dann hätte der Gesetzgeber auf dieses Erfordernis aber verzichten können. Sinngerecht seien waisenrentenberechtigt nur die Kinder des verstorbenen Versicherten, die nach § 44 AVG einen Anspruch auf Waisenrente besitzen könnten; sowohl die frühere Ehefrau als auch das von ihr erzogene Kind müsse in der gleichen versicherungsrechtlichen Beziehung zum Versicherten gestanden haben. In dieser Ansicht stütze sie sich auf SozR 2200 § 1268 Nr 15 und verweise auf SozR 2200 § 1265 Nrn 22 und 32.

Die Klägerin ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Mit den Vorinstanzen geht der Senat davon aus, daß der Klägerin ab 1. Januar 1979 eine Geschiedenenwitwenrente nach § 42 AVG idF des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1065) und des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061) zusteht. Zwar hat sie keinen Anspruch aufgrund der Tatbestände in Satz 1 der Vorschrift. Weder hatte St. ihr zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten noch hat er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt gezahlt. § 42 Satz 1 Halbsatz 1 AVG findet nach der Abfindung der Witwe von St. wegen ihrer Wiederheirat aber deshalb Anwendung, weil die in Satz 2 in den Nrn 1, 2 und 3 aufgeführten Tatbestände erfüllt sind. Die Unterhaltsverpflichtung von St. hat nämlich - nur - wegen seiner Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse nicht bestanden (Nr 1) und die Klägerin hatte im Zeitpunkt der Ehescheidung ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen (Nr 2). Hierüber wird zwischen den Beteiligten nicht gestritten. Entgegen der Ansicht der Beklagten erzieht die Klägerin darüber hinaus jedoch auch "mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind" (Nr 3), denn ihre nach der Ehescheidung unehelich geborenen zwei Kinder sind waisenrentenberechtigte Kinder iS des Gesetzes.

In die Rentenversicherung hat der Begriff waisenberechtigtes oder besser "waisenrentenberechtigtes Kind" erstmals durch das Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl I 1393) Eingang gefunden; hierdurch wurde damals dem § 1256 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, der für die Arbeiterrentenversicherung die Voraussetzungen der Witwenrente regelte, im 1. Absatz ein neuer Anspruchstatbestand angefügt. Er berechtigte eine Witwe zum Rentenbezug, die "zur Zeit des Todes des versicherten Ehemannes mehr als drei waisenberechtigte Kinder erzieht". Als dafür in Frage kommende Kinder hat das Reichsversicherungsamt in EuM 45, 203, 204 unter Hinweis auf sein Rundschreiben vom 3. Oktober 1938 zu § 13 des Ausbaugesetzes (s EuM 43, 289 ff sowie Bothe in Deutsche Rentenversicherung 1939, 20, 21) neben den von dem Verstorbenen stammenden Kindern auch die leiblichen der Witwe bezeichnet, für die Abgrenzung der erzogenen "waisenberechtigten Kinder" waren dabei bevölkerungspolitische Erwägungen maßgebend: Es sollte der Witwe eine umfassende eigene Erziehungsmöglichkeit ohne Existenzsorgen gesichert sein (s hierzu auch BSG in SozR Nrn 9 und 18 zu § 1268 RVO; SozR 2200 § 1268 Nr 3).

Bei der Schaffung der Neuregelungsgesetze von 1957 machte der Gesetzgeber sich entsprechende Gedanken insofern zu eigen, als er die Erhöhung der Witwenrente wegen der Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes (§ 45 Abs 2 Nr 2 AVG = § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO; s auch § 21 Abs 5 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes idF vom 21. Januar 1956) damit motivierte, der Witwe solle im Interesse der Erziehung "ihrer Kinder" eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden (BT-Drucks II/2437, § 1272 S 77; BSG aaO). Diesen Erwägungen gab er im RRG von 1972 bei der Erweiterung von § 42 Satz 2 AVG in den Nrn 2 und 3 auch für die Geschiedenenwitwenrente Raum; nach der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des RRG sollen "in Zukunft alle früheren Ehefrauen eines verstorbenen Versicherten für die Dauer der Kindererziehung einen Anspruch auf Geschiedenenrente haben" (BT-Drucks II/2916 S 41). Mit dem seit dem RRG deswegen auch in der Nr 2 (und Nr 3) des § 42 Satz 2 AVG verankerten Begriff des waisenrentenberechtigten Kindes hat sich der erkennende Senat insoweit bereits befaßt (SozR 2200 § 1265 Nr 22), als er ihn, worin ihm der 5. und 4. Senat in SozR 2200 § 1265 Nrn 32, 60 und 61 gefolgt sind, nicht wörtlich dahin verstanden hat, daß das Kind im Zeitpunkt der Eheauflösung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs erfüllt haben muß (denn der verstorbene frühere Ehemann muß noch gelebt haben); es reicht vielmehr aus, wenn das Kind dem Personenkreis der grundsätzlich waisenrentenberechtigten Kinder iS von § 44 iVm § 39 AVG angehört hat.

Für die Klärung der vom Gesetzestext nicht beantworteten Frage, welcher Kreis von Kindern überhaupt in diesem Sinne als waisenrentenberechtigt in Betracht kommt, ist von weiterer Bedeutung, daß seit 1975 (Inkrafttreten des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter) in § 42 Satz 2 Nr 2 (und Nr 3) AVG ein zusätzlicher Alternativtatbestand eingeführt wurde, aufgrund dessen die frühere Ehefrau rentenberechtigt ist, wenn sie im Zeitpunkt der Eheauflösung für ein Kind zu sorgen hatte, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhielt. Ein solches Kind kann weder vom Versicherten stammen noch aus anderen Gründen die Berechtigung zum Bezug der Waisenrente von ihm herleiten; denn es steht außer Frage, daß der Versicherte im maßgebenden Zeitpunkt in jedem Falle noch am Leben gewesen sein muß. Wer sonst die Waisenrentenberechtigung dem gebrechlichen Kinde zu vermitteln hatte, ist in der Nr 2 des Gesetzes (ebenfalls) nicht angegeben. Da dort nur verlangt ist, die frühere Ehefrau müsse "für ein Kind", das Waisenrente wegen Gebrechlichkeit erhielt, zu sorgen gehabt haben, sind hiernach familienhafte Bindungen weder an sie noch an den verstorbenen Versicherten vorausgesetzt; es kann sich letztlich auch um ein fremdes Kind gehandelt haben, für das die Frau, aus welchen Gründen immer, gesorgt hat.

Im Gegensatz hierzu ist es nach der Nr 3 des § 42 Satz 2 AVG, in deren Rahmen der Senat die vorliegend umstrittene Frage zu entscheiden hat, zwar möglich, daß die gebrechliche Waise in einer versicherungsrechtlichen Beziehung zum Versicherten gestanden hat. Gleichwohl folgt daraus nicht, daß der Kreis der die Rentenberechtigung für die frühere Ehefrau vermittelnden Kinder dort insofern enger sei. Zum einen läßt auch die Fassung der Nr 3 ihrem Wortlaut nach einen von einem Dritten abgeleiteten Waisenrentenanspruch des gebrechlichen Kindes durchaus zu, womit sie im Ergebnis sogar weiter und nicht enger ist, zum anderen ergäbe es darüber hinaus keinen Sinn, hier von Dritten abgeleitete Ansprüche auszunehmen und damit zwangsläufig zu einem ungünstigeren Ergebnis im Vergleich zu der Nr 2 zu gelangen. Inwiefern das der Zielvorstellung des Gesetzgebers entspräche, wäre nicht zu erklären.

Obgleich sich insbesondere mit der Teilregelung für gebrechliche Kinder allerdings nicht schon ohne weiteres die Feststellung rechtfertigen läßt, bei den waisenrentenberechtigten Kindern iS von § 42 Satz 2 Nr 3 AVG könne es sich entsprechend um Kinder handeln, die nach anderen Personen als nach dem verstorbenen Versicherten berechtigt sind, so macht die dargestellte Entwicklung, die die Gesamtregelung im Laufe der Zeit durchgemacht hat, doch immerhin die wiederholt zum Ausdruck gebrachte Absicht des Gesetzgebers deutlich, bei den kindererziehenden früheren Ehefrauen (und ebenso den Witwen) dem Gedanken eines Ausgleichs für wegen der Kindererziehung entgangene bzw entgehende Erwerbsmöglichkeiten den Vorrang einzuräumen gegenüber dem Versicherungsgedanken in seiner herkömmlichen Form. Daß dies der eine Auslegung des Gesetzes bestimmende Grundgedanke ist, wird nun aber ferner durch den aufgrund von Art 4 Nr 2 Buchst b des 1. Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 (1. EheRG) eingefügten § 42a AVG hinreichend bekräftigt, der für Eheauflösungen ab dem 1. Juli 1977 den § 42 AVG ersetzt. Diese Vorschrift gleicht durch eine Rentengewährung an den nicht wiederverheirateten früheren Ehegatten aus dessen eigener Versicherung den Wegfall eines Unterhaltsanspruchs infolge des Todes des früheren Ehegatten aus, solange dem nicht wiederverheirateten Ehegatten die Beteiligung am Berufs- oder Erwerbsleben wegen der Erziehung mindestens eines waisenrentenberechtigten Kindes nicht möglich ist. Nach wem das oder die Kinder waisenrentenberechtigt sein sollen, wird auch in dieser neuen Vorschrift nicht gesagt. Würde hier der Versicherungsgedanke angewandt, dann könnte es sich jedoch ausschließlich um Kinder des unverheiratet gebliebenen früheren Ehegatten handeln, da ihm - als Erziehungsrente - aus der eigenen Versicherung eine Rente zu gewähren ist. Daß ein solches Ergebnis dem Willen des Gesetzgebers nicht entsprechen kann, liegt auf der Hand. Hat der Gesetzgeber gleichwohl aber dort bei der Neuregelung einer gleichgelagerten Materie wieder die Wortfassung gewählt, wie sie in diesem Punkt bereits in § 42 Satz 2 Nr 3 AVG vorhanden ist, dann kann der Begriff "waisenrentenberechtigtes Kind" hier und dort kaum unterschiedlich sein. Vielmehr läßt sich aus dieser Handhabung nur schließen, daß der Gesetzgeber wie in § 42a AVG auch schon in § 42 Satz 2 Nr 3 AVG unter einem waisenrentenberechtigten Kind sowohl ein solches versteht, das nach dem verstorbenen Versicherten berechtigt ist als auch eines, das die Berechtigung von der früheren Ehefrau ableitet. Damit kann es sich jedoch auch um ihre leiblichen Kinder handeln, ohne daß dann noch von Bedeutung zu sein vermöchte, ob die Kinder vor oder nach der Auflösung der Ehe geboren sind.

In dieser Auffassung stimmt der erkennende Senat mit dem 4. Senat des BSG in dessen Entscheidung vom 10. August 1982 (4 RJ 31/81 mit Literaturhinweisen, bisher nicht veröffentlicht) überein (vgl auch das Urteil des 5. Senats in SozR 2200 § 1265 Nr 61), der im Falle eines von der geschiedenen Frau in die Ehe mitgebrachten unehelichen Kindes, allerdings in einer das Urteil nicht tragenden Hilfserwägung, aus dem Sinn und Zweck des § 1265 Satz 2 Nr 3 RVO idF des RRG und des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter abgeleitet hat, der Gesetzgeber stelle es unabhängig davon, woraus sich der Waisenrentenanspruch herleite, schlechthin auf die Erziehung waisenrentenberechtigter Kinder ab. Dies meint auch der erkennende Senat. Dem Gedanken der Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente kommt gegenüber dem Gedanken des Schutzes derjenigen Frauen, von denen wegen der Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann, im Falle des § 42 Satz 2 Nr 3 ersichtlich eine nur nachgeordnete Bedeutung zu; auch ist er insoweit überlagert von Gedankengut, das in die Regelungen des Versorgungsausgleichs Eingang gefunden hat (vgl hierzu die Ausführungen des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1265 Nr 22).

Dem gefundenen Ergebnis vermag die Beklagte mit Hinweisen auf anderslautende Rechtsprechung des BSG nicht zu begegnen. In den von ihr angezogenen Urteilen hat das BSG über die hier anstehende Rechtsfrage nicht entschieden. In SozR 2200 § 1265 Nr 60 hat der 4. Senat die entsprechende, dort von ihm beiläufig aufgeworfene Frage offengelassen; auf diesen Umstand hat er in seinem Urteil vom 10. August 1982 selbst ausdrücklich aufmerksam gemacht.

Hiernach kann die Beklagte der Klägerin die begehrte Rentenleistung nicht verweigern; es verbleibt bei der Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 8. August 1979.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1661421

BSGE, 22

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