Leitsatz (amtlich)

1. Ist der Beginn eines Tages der für den Anfang einer Frist maßgebende Zeitpunkt, so wird dieser Tag bei der Berechnung der Frist nach RVO § 124 Abs 1 - wie nach BGB § 187 - mitgerechnet (Anschluß an RVA, EuM 19, 7; 20, 264).

2. Der Versicherungsträger darf einen Bescheid, durch den eine Dauerrente herabgesetzt oder entzogen wird, vor Ablauf der Jahresfrist des RVO § 622 Abs 2 S 2 frühestens in demjenigen Kalendermonat zustellen, der dem Monat vorausgeht, mit dessen Ablauf die Änderung nach RVO § 622 Abs 2, § 623 Abs 2 wirksam werden darf (Weiterentwicklung von BSG 1965-07-30 2 RU 212/64 = BSGE 23, 218 und BSG 1968-12-19 2 RU 117/66 = BSGE 29, 71).

 

Normenkette

RVO § 124 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15; BGB § 187 Abs. 2 Fassung: 1896-08-18; RVO § 622 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 623 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 622 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Mai 1967 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger zog sich als mithelfender Sohn im landwirtschaftlichen Betrieb seines Vaters am 7. April 1960 bei einem Sturz vom Ackerwagen eine Kopfverletzung zu. Deswegen bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 24. Oktober 1960 eine vorläufige Teilrente in Höhe von 30 v. H. der Vollrente. Mit Bescheid vom 6. Mai 1964. der am selben Tage mittels eingeschriebenen Briefes an den Kläger zur Post aufgegeben wurde, entzog die Beklagte dem Kläger die Rente mit Ablauf des Monats Juni 1964. Zur Begründung verwies sie auf die Beurteilung des Chefarztes der Neurologischen Klinik des O Landeskrankenhauses S, Prof. Dr. W. Dieser Arzt hatte ausgeführt, daß angenommen werden müsse, die verschiedenen psychischen Störungen des Klägers seien unfallunabhängig verlaufen, und ein krankhafter, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Befund der Folgen des Schädelhirntraumas läge nicht mehr vor. Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg durch Urteil vom 31. August 1965 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat auf die Berufung des Klägers den Entziehungsbescheid der Beklagten vom 6. Mai 1964 aufgehoben. In den Entschädigungsgründen hat es ausgeführt: Das SG sei zutreffend davon ausgegangen daß nach § 622 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) in Verbindung mit Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG die durch Bescheid vom 24. Oktober 1960 bewilligte vorläufige Rente kraft Gesetzes am 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 UVNG) Dauerrente geworden sei. Nach § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO könne eine Dauerrente nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden. Nach § 622 Abs. 2 Satz 3 RVO beginne die Frist mit dem Zeitpunkt, in dem die Rente kraft Gesetzes Dauerrente geworden sei. Hieraus folge, daß im vorliegenden Streitfall die Jahresfrist innerhalb welcher eine Änderung nicht habe vorgenommen werden können, am 2. Juli 1963 zu laufen begonnen und am 1. Juli 1964 geendet habe. Die Beklagte habe jedoch den Entziehungsbescheid bereits am 6. Mai 1964 also innerhalb des gesetzlichen Schutzjahres, erlassen. Nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Juli 1965 - 2 RU 212/64 - (BSG 23, 218 = SozR Nr. 1 zu § 622 RVO) sei die Beklagte nicht zum Erlaß des Entziehungsbescheides befugt gewesen. Mit § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO werde nämlich der Zweck verfolgt, einer durch Änderung der Dauerrente in zu kurzen Zeiträumen bedingten Beunruhigung des Rentenempfängers vor allem wegen der damit verbundenen Gefahr für dessen Genesung, vorzubeugen. Diesem Zweck könne die einjährige Schutzfrist nur gerecht werden, wenn sie den Versicherungsträger daran hindere, eine auf die Herabsetzung oder Entziehung der Dauerrente gerichtete Maßnahme jedenfalls für einen früheren als in der Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA) Nr. 2490 (AN 1911, 447) für zulässig erachteten Zeitpunkt zu treffen. Daraus folge, daß Entziehungsbescheide, die im vorletzten Monat vor Ablauf des Schutzjahres erlassen würden rechtswidrig seien. Die Umdeutung des Eintritts ihrer Wirksamkeit auf die Zeit nach dem Ablauf der Jahresfrist sei unzulässig.

Die Beklagte hat - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 622 Abs. 2 RVO durch falsche Berechnung der Schutzjahresfrist nach § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO. Sie führt dazu aus: Die vorläufige Rente des Klägers sei kraft Gesetzes ab 1. Juli 1963, wie das LSG zutreffend ausgeführt habe, zur Dauerrente geworden. Die Jahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO habe jedoch nicht erst am 2. Juli, sondern schon am 1. Juli 1963 zu laufen begonnen, so daß das Ende des Schutzjahres nicht der Ablauf des 1. Juli 1964, sondern schon der des 30. Juni 1964 gewesen sei. Der Entziehungsbescheid vom 6. Mai 1964 sei somit in dem Monat vor Ablauf der Schutzjahresfrist erlassen worden und könne deshalb nicht beanstandet werden.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er tritt den Ausführungen des LSG bei und trägt noch vor: Der 2. Senat des BSG habe bereits im Anschluß an ein § 62 Abs. 2 BVG betreffendes Urteil des BSG vom 23. Februar 1960 (BSG 12, 16, 19) entschieden, ein Bescheid, durch den eine Dauerrente innerhalb der Schutzfrist des § 609 Satz 2 RVO in der Fassung vor Inkrafttreten des UVNG herabgesetzt oder entzogen werde, sei - unbeschadet der Rechtsprechung des RVA - rechtswidrig (BSG 23, 218). Daraus ergebe sich, daß nur ein im letzten Monat des Schutzjahres ergangener Bescheid für wirksam erachtet worden sei. Für den vorliegenden Fall habe dies aber keine Bedeutung, weil der Entziehungsbescheid am 6. Mai 1964, also im vorletzten Monat des Schutzjahres ergangen sei, sofern man dieses überhaupt mit der Beklagten schon mit dem 30. Juni 1964 als abgelaufen ansehe.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht angenommen, die Entziehung der Rente sei rechtswidrig, weil die Beklagte die vom Gesetz (§ 622 Abs. 2 Satz 2 RVO) vorgeschriebene Schutzfrist von einem Jahr nicht eingehalten habe.

Die dem Kläger durch Bescheid vom 24. Oktober 1960 bewilligte vorläufige Rente ist kraft Gesetzes (§ 622 Abs. 2 Satz 1 RVO i. V. m. Art. 4 § 2 Abs. 1 und Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) mit Inkrafttreten des UVNG am 1. Juli 1963 Dauerrente geworden. Nach § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO kann eine Dauerrente nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt in dem die Rente kraft Gesetzes Dauerrente geworden oder der letzte Dauerrentenbescheid zugestellt worden ist (§ 622 Abs. 2 Satz 3 RVO). Entgegen der Auffassung des LSG begann das Schutzjahr im vorliegenden Fall nicht erst am 2. Juli 1963, sondern schon am 1. Juli 1963. Es endete auch nicht am 1. Juli 1964, sondern bereits mit Ablauf des 30. Juni 1964. Das ergibt sich aus § 124 Abs. 1 RVO in Verbindung mit §§ 186 bis 188 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Richtet sich der Anfang einer Frist nach einem Ereignis oder Zeitpunkt, so beginnt die Frist mit dem Tage, "der auf das Ereignis oder den Zeitpunkt folgt" (§ 124 Abs. 1 RVO). Der maßgebende Zeitpunkt ist hier das Inkrafttreten des UVNG am 1. Juli 1963. Dieser Zeitpunkt fällt mit dem Ende des 30. Juni und dem Beginn des 1. Juli 1963 zusammen. Dem maßgebenden Zeitpunkt des Inkrafttretens des UVNG geht daher der 30. Juni 1963 voraus und folgt der 1. Juli 1963.

Diese Auslegung wird nicht nur durch den Wortlaut des § 124 Abs. 1 RVO gedeckt, sondern entspricht auch dem Willen des Gesetzes. Die Vorschriften über Fristen im Ersten Buch der RVO (§§ 124 ff.) lehnen sich nämlich eng an die Vorschriften über die Berechnung der Fristen im BGB (§§ 187, 188, 190, 191, 193) an. So werden in § 124 Abs. 2, § 126 und § 127 Abs. 1 RVO lediglich die Regelungen der §§ 190, 191, 193 BGB wiederholt. Abweichend von § 188 Abs. 2 BGB bestimmt nur § 125 Abs. 1 RVO, daß eine nach Wochen und Monaten berechnete Frist stets mit dem Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monats endigen soll, der nach Benennung oder Zahl dem Tage entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt. Vorschriften über die Berechnung des Endes einer zusammenhängenden Jahresfrist (§ 188 Abs. 2 BGB), eines Halb- oder Vierteljahres und eines halben Monats (§ 189 BGB) sowie darüber was unter Anfang, Mitte oder Ende eines Monats zu verstehen ist (§ 192 BGB), fehlen in der RVO. In diesen Fällen muß auf die Vorschriften des BGB zurückgegriffen werden (§ 186 BGB). Es entspricht daher auch dem Willen des Gesetzes, wenn bei der Auslegung des § 124 Abs. 1 RVO von der Regel des § 186 BGB ausgegangen wird, wonach für die in Gesetzen, gerichtlichen Verfügungen und Rechtsgeschäften enthaltenen Frist- und Terminsbestimmungen die Auslegungsvorschriften der §§ 187 bis 193 BGB gelten. Deshalb kann § 124 Abs. 1 RVO nur dahin verstanden werden, daß diese Vorschrift ihrem wesentlichen Inhalt nach - wenn auch in anderer Fassung - die Regelung des § 187 BGB wiedergibt (ebenso RVA, EuM 19, 7, 11; 20, 264; Schraeder/Strich, Die deutsche Unfallversicherung Bd. 1, § 124 RVO Anm. 1; Hanow, Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, Nachtrag 1928 zu § 124 - S. 45; RVO-Mitglieder-Komm., 2. Aufl., § 124 Anm. 3). Wenn aber für den Anfang einer Frist der Beginn eines Tages - wie in dem zu entscheidenden Rechtsstreit - der maßgebende Zeitpunkt ist, sieht § 187 Abs. 2 Satz 1 BGB ausdrücklich vor, daß dieser Tag bei der Fristberechnung mitzurechnen ist. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb § 124 Abs. 1 RVO von dieser Regelung abweichend ausgelegt werden sollte. Die hier getroffene Auslegung stimmt auch mit der Entstehungsgeschichte des Gesetzes überein, die ebenfalls zum Ausdruck bringt, daß § 124 Abs. 1 RVO seinem Inhalt nach an § 187 BGB angelehnt ist (vgl. Amtl. Begründung S. 70, wiedergegeben bei Hanow, a. a. O, 1. Bd., 5. Aufl., § 124 Anm. 2).

Die Beklagte hat dem Kläger somit die Rente nicht vor Ablauf des Schutzjahres (§ 622 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVO) entzogen. Beim Wirksamwerden der Rentenentziehung - mit Ablauf des 30. Juni 1964 - war das Schutzjahr abgelaufen.

Der Entziehungsbescheid der Beklagten ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil er schon vor Ablauf des Schutzjahres dem Kläger zugestellt worden ist.

§ 622 Abs. 2 Satz 2 RVO schreibt nur vor, daß der Rentenempfänger mindestens ein ganzes Jahr lang in dem ungeschmälerten Genuß der Dauerrente geblieben sein muß. Wenn dies - gegebenenfalls unter Berücksichtigung des § 623 Abs. 2 RVO - der Fall ist, braucht der Versicherungsträger mit der Zustellung des Bescheides, durch den eine Dauerrente herabgesetzt oder entzogen wird, nicht unbedingt ein ganzes Jahr, gerechnet von der Zustellung des letzten Dauerrentenbescheides oder von dem Zeitpunkt an in dem die Rente kraft Gesetzes Dauerrente geworden ist, zu warten (BSG 29, 71 f.). Der 2. Senat des BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG 23, 218, 220; 29, 72) im Anschluß an das RVA (AN 1913, 691, 693; EuM 22, 9, 10) entschieden, daß nach der Zweckbestimmung des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO (§ 609 Satz 2 RVO aF) einer durch Änderung der Dauerrente in zu kurzen Zeiträumen bedingten Beunruhigung des Rentenempfängers, vor allem wegen der damit verbundenen Gefahr für dessen Gesundung, vorgebeugt werden soll. Wie der 2. Senat ebenfalls bereits entschieden hat (BSG 29, 72), wird dieser Zweck aber nicht vereitelt, wenn der Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheid kurz vor Ablauf der Schutzjahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 3 RVO zugestellt wird. Welcher Zeitraum hierfür äußerstenfalls in Betracht kommt, ist in Weiterführung der Rechtsprechung des 2. Senats dem aus dem Zusammenhang des § 622 Abs. 2 Satz 2 und 3 in Verbindung mit § 623 Abs. 2 RVO zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzes zu entnehmen. Danach kann der Versicherungsträger die ihm vom Gesetz (§ 622 Abs. 2 Satz 2 RVO) eingeräumte Möglichkeit, die Rentenleistung in einem Abstand von einem Jahr herabzusetzen oder zu entziehen, im Hinblick auf § 623 Abs. 2 RVO nur verwirklichen, wenn er den Bescheid in demjenigen Monat dem Rentenbezieher zustellt, der dem Monat vorausgeht, mit dessen Ablauf die Änderung nach § 622 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVO wirksam werden darf. Dies muß zugleich die äußerste Grenze für die Zustellung des Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheides während des Laufes des Schutzjahres sein, da bei früherer Zustellung der Zweck des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO - die Verhinderung der Beunruhigung des Rentenempfängers - vereitelt werden könnte.

In dem zur Entscheidung stehenden Rechtsstreit gilt der am 6. Mai 1964 mittels eingeschriebenen Briefes an den Kläger zur Post gegebene Entziehungsbescheid als am 9. Mai 1964 zugestellt (§ 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes). Die Beklagte hat somit die für die Zustellung des Entziehungsbescheides vor Ablauf des Schutzjahres am 30. Juni 1964 äußerstenfalls zur Verfügung stehende "kurze Zeitspanne" (vgl. BSG 29, 72) nicht überschritten.

Nach allem ist die Revision der Beklagten begründet; das angefochtene Urteil muß aufgehoben werden. In der Sache selbst kann der Senat nicht entscheiden, weil es an der erforderlichen Feststellung fehlt, ob eine die Rentenentziehung rechtfertigende wesentliche Äußerung der Verhältnisse tatsächlich eingetreten ist (§ 622 Abs. 1 RVO). Der Rechtsstreit muß daher an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1670248

BSGE, 215

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