Orientierungssatz

Der Senat hält an seiner Rechtsprechung (Festhaltung BSG 1971-07-30 2 RU 84/70 = SozR Nr 29 zu § 548 RVO) fest, daß der Besuch von Ausstellungen und Messen, die den Fachbereich des Unternehmers umfassen, auch ohne konkreten Vertragsabschluß den Interessen des Unternehmens dient (da die Klägerin die Fachmesse des Hotel- und Gaststättengewerbes "Internorga" zusammen mit ihrem Ehemann besucht hatte, um für ihr Restaurant Kühlmöbel und Grillgeräte zu besichtigen, war der Unfall der Klägerin beim Betreten der Ausstellung ein Arbeitsunfall iS des RVO § 548).

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin und ihr Ehemann sind Inhaber des Restaurants "S" in L. Am 26. März 1968 fuhren beide nach H, um auf der Fachmesse für das Hotel- und Gaststättengewerbe "I" Kühlmöbel und Grillgeräte zu besichtigen. Kurz nach dem Betreten des Ausstellungsgeländes stürzte die Klägerin auf einer Treppe und zog sich dadurch eine Prellung und Stauchung des linken Fußes mit Fraktur des linken Außenknöchels und 5. Mittelfußknochens zu. Ihr Ehemann setzte den Besuch der Ausstellung etwa zwei Stunden lang fort und führte mit einigen Ausstellern Informationsgespräche; Abschlüsse wurden nicht getätigt.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 6. November 1968 einen Entschädigungsanspruch der Klägerin ab, weil die Ausstellung zwar Kenntnisse vermittelt habe, die unter anderem für die Einrichtung des Unternehmens von Wert sein konnten, ein über die allgemeine Unterrichtung hinaus bestehendes betriebliches Interesse jedoch nicht erwiesen sei.

Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die Beklagte durch Urteil vom 18. Juni 1969 unter Aufhebung des Bescheides vom 6. November 1968 verurteilt, die Klägerin wegen der Folgen ihres Unfalls vom 26. März 1968 zu entschädigen und ihr darüber einen neuen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erteilen.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 28. Januar 1971 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Während des Besuchs einer Ausstellung, welche die Fachrichtung des Versicherten betreffe, bestehe unabhängig von einer konkreten Kaufabsicht Versicherungsschutz, wenn der Besuch objektiv berufsbedingt und berufsbezogen sowie subjektiv berufsbestimmt sei. Die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA), welche den Versicherungsschutz eines Unternehmers beim Besuch einer Ausstellung vom Nachweis einer ernstlichen Kaufabsicht abhängig gemacht habe (EuM 20, 74; 32, 34), sei zu eng. Die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe bei dem vergleichbaren Problem des Unfallversicherungsschutzes beim Besuch von Veranstaltungen einer Berufsorganisation dem gesteigerten Informationsbedürfnis im modernen Wirtschaftsleben Rechnung getragen und es für den Versicherungsschutz als ausreichend angesehen, daß auf der Veranstaltung der Berufsorganisation den Teilnehmern Kenntnisse vermittelt worden sind, die sie, wenn auch nicht sogleich, so doch später für ihre betriebliche Tätigkeit nutzen sollten und konnten (SozR Nr. 19 und 20 zu § 548 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Es genüge daher der innere ursächliche Zusammenhang zwischen dem versicherten Unternehmen und dem Besuch der Ausstellung, um Versicherungsschutz zu genießen. Sinn der "I" sei es gewesen, den Angehörigen des Gaststättengewerbes die Neuheiten auf ihrem Gebiet vorzustellen und zugleich einen Einblick in die Arbeitsweise zu geben. Die Kenntnisse der Neuheiten ermögliche es dem Unternehmer, konkurrenzfähig zu bleiben, u.a. auch hinsichtlich der sogenannten Laufkundschaft. Der Besuch der "I" sei damit objektiv berufsbedingt, gleichzeitig aber auch berufsbezogen gewesen; die Klägerin sei an der Ausstellung insoweit besonders interessiert gewesen, als es um die Aufbewahrung der Nahrungsmittel (Kühlmöbel) und Zubereitung der Speisen (Grillgeräte) in dem gemeinsam mit ihrem Ehemann geleiteten Betrieb gegangen sei. Subjektiv sei der Besuch der Ausstellung ebenfalls berufsbedingt gewesen, wobei die Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes genügten, zumal da Anhaltspunkte für eine gegenteilige Sachlage nicht gegeben seien. Die beim Besuch der "I" erlittenen Gesundheitsschäden seien somit auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen und die Beklagte sei daher mit Recht dem Grunde nach verurteilt worden, die Klägerin wegen der Folgen des Unfalls zu entschädigen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Der Besuch einer Ausstellung des Gaststättengewerbes habe keine wesentliche Beziehung zum versicherten Unternehmen. Zur Orientierung über technische Neuerungen dienten Fachzeitschriften, Besuche von Vertretern und Werbeschreiben. Hinsichtlich der Laufkundschaft, die nach Ansicht des LSG für die Konkurrenzfähigkeit eine Rolle spiele, habe das LSG keine Feststellungen getroffen. Für diesen Kundenkreis seien die Kühlmöbel und Grillgeräte aber auch nicht ausschlaggebend für einen Lokalbesuch. Der mangelnde Betriebszusammenhang des Ausstellungsbesuches werde auch dadurch bekundet, daß der Ehemann der Klägerin lediglich Informationsgespräche geführt habe. Bei lebensnaher Betrachtungsweise erscheine der Ausstellungsbesuch der Klägerin und ihres Ehemannes mehr aus Gründen der Allgemeinbildung als aus betrieblichen Gründen veranlaßt gewesen zu sein.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach den Anträgen in der Vorinstanz, insbesondere im Ergebnis auf Klagabweisung zu erkennen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie trägt vor, der Besuch einer Fachmesse durch ein Gastwirtsehepaar sei als berufsbedingt anzusehen. Die dabei zu gewinnende Gesamtschau und Informationsmöglichkeit könnten durch einen Vertreterbesuch auch nicht annähernd ersetzt werden.

II

Die Revision ist nicht begründet. Dem angefochtenen Urteil wird im wesentlichen zugestimmt.

Wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 30. Juli 1971 - 2 RU 84/70 - (SozR Nr. 29 zu § 548 RVO) ausgesprochen hat, ist der Umfang des Versicherungsschutzes eines Unternehmers beim Besuch von Ausstellungen und Messen im allgemeinen ebenso zu beurteilen, wie bei der Teilnahme an einer Versammlung seiner Berufsorganisation (BSG 30, 282, 284).

Das RVA hat den Besuch von Ausstellungen und Messen eines Unternehmers lediglich dann als im inneren Zusammenhang mit seinem Betrieb stehend angesehen, wenn der Besuch durch ein unmittelbares betriebliches Interesse veranlaßt, insbesondere eindeutig nachweisbar war, daß ein bestimmter im Unternehmen benötigter Gegenstand auf der Ausstellung oder Messe gekauft oder wenigstens ein fester Termin für einen demnächst abzuschließenden Kaufvertrag vereinbart werden sollte (EuM 32, 34 mit Nachweisen).

Diese Meinung, an der die spätere Rechtsprechung und das Schrifttum fast ausnahmslos festgehalten haben (siehe die Nachweise im Urteil vom 30. Juli 1971 - 2 RU 84/70 -), ist nach der Auffassung des Senats angesichts der heutigen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu eng. Kaum ein Unternehmer kann heute darauf verzichten, sich auf einschlägigen Ausstellungen und Messen über die jeweilige Marktsituation einen Überblick zu verschaffen, um darauf abgestimmt zu investieren. Hersteller, Handel und Gewerbe müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben, ihren Kunden jeweils das Neueste anzubieten in der Lage sein. Daher dient der Besuch von Ausstellungen und Messen, die den Fachbereich des Unternehmers umfassen, auch ohne konkreten Vertragsabschluß den Interessen des Betriebes. Um eine unangemessene Ausweitung des Unfallversicherungsschutzes zu vermeiden, ist lediglich erforderlich, aber auch ausreichend, daß die Reise den Besuch der Ausstellung oder Messe bezweckt hat und nicht nur Nebenzweck einer überwiegend privaten Zwecken dienenden Reise gewesen ist (Bayerisches LSG, Breithaupt 1956, 468, 470; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 1. März 1971, S. 482 L).

Nach den nicht angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts beabsichtigten die Klägerin und ihr Ehemann, als Unternehmer des Restaurants "S", Kühlmöbel und Grillgeräte zu besichtigen. Das darin zum Ausdruck kommende betriebliche Interesse kann, wie die Revision meint, nicht damit in Abrede gestellt werden, daß zur Orientierung über technische Neuerungen im Gaststättenbereich Fachzeitschriften, Vertreterbesuche und Werbeschreiben genügten. Abgesehen davon, daß es dem Unternehmer überlassen bleibt, auf welche Weise er sich über das sein Fachgebiet betreffende Angebot unterrichtet, können Fachzeitschriften, Vertreterbesuche und Werbeschreiben den gegenständlichen Eindruck und die Arbeitsweise eines Geräts nicht vermitteln; dazu bieten aber Ausstellungen und Messen Gelegenheit. Ohne Bedeutung ist es, daß das LSG keine Feststellungen getroffen hat, ob und in welchem Maße das Restaurant "S" von Laufkundschaft besucht wird; der Versicherungsschutz hängt davon nicht ab. Das gilt auch für das Vorbringen der Revision, der Ehemann der Klägerin habe bei dem zweistündigen Besuch der "I" nach dem Sturz der Klägerin nur Informationsgespräche geführt.

Die vorinstanzlichen Gerichte haben daher mit Recht angenommen, daß die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten und somit nach § 548 RVO Anspruch auf Entschädigung gegen die Beklagte hat.

Die Revision der Beklagten war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669288

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