Leitsatz (amtlich)

1. Die Entscheidung über einen Honorarabstrich auf Grund des Honorarverteilungsmaßstabs einer KÄV ("Verteilungskürzung"; vgl RVO § 368f Abs 1 S 3 - 5) gehört nicht zur "Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen" (RVO § 368n Abs 4 S 1). Deshalb sind die in dieser Vorschrift genannten Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse für die Verteilungskürzung nicht zuständig.

2. In der Klage ist hilfsweise die Erhebung des Widerspruchs jedenfalls dann enthalten, wenn es ernstlich zweifelhaft ist, ob vor Erhebung der Klage ein Vorverfahren durchzuführen ist.

Es stellt einen Verfahrungsmangel dar, wenn das Gericht in einem vorverfahrenspflichtigen Rechtsstreit in der Sache ohne Durchführung des Vorverfahrens entscheidet, anstatt den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen (Anschluß an BSG 1964-02-18 11/1 RA 90/61 = BSGE 20, 199; BSG 1966-06-22 3 RK 64/62 = BSGE 25, 66).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gegen die Bescheide der Prüfungsausschüsse ist die Beschwerde zum Beschwerdeausschuß gegeben; Honorarkürzungen auf Grund des Honorarverteilungsmaßstabes können im Vorverfahren bei der Stelle angefochten werden, die die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung bestimmt hat.

2. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung und die Honorarbegrenzung dienen unterschiedlichen Zielen; sie dürfen jedenfalls ohne besondere rechtliche Grundlage den Prüfinstanzen nicht als gemeinsame Aufgabe übertragen werden.

 

Normenkette

RVO § 368f Abs. 1 S. 3 Fassung: 1955-08-17, § 368n Abs. 4 S. 1 Fassung: 1955-08-17, § 368f Abs. 1 S. 4 Fassung: 1955-08-17, S. 5 Fassung: 1955-08-17

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 1966 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger ist als Kassenarzt in B zugelassen. Er wendet sich gegen eine Kürzung von rd. 3.861 DM, die die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) an seiner Honorarforderung für das 1. Vierteljahr 1965 vorgenommen hat (Bescheid vom 23. Juli 1965).

Der Kläger hatte in diesem Vierteljahr 1.416 RVO-Patienten behandelt. Er liquidierte u. a. für Grundleistungen 19.296 DM. Diese wurden im Wege der Verteilungskürzung auf 15.434,40 DM begrenzt.

Diesen Honorarabstrich hat der Kläger mit der Klage angefochten. Er hat geltend gemacht, der ihm erteilte Bescheid sei schon deshalb rechtswidrig, weil die Abrechnungsstelle und nicht der für Honorarkürzungen allein zuständige Prüfungsausschuß entschieden habe. Überdies sei § 8 des Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) nicht durch § 368 f Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gedeckt und daher nichtig.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der beklagten KÄV vom 23. Juli 1965 aufzuheben.

Die beklagte KÄV hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat u. a. vorgetragen, die Begrenzung des Honorars auf 10,90 DM je Behandlungsfall stelle eine Verteilungskürzung und nicht etwa eine Honorarkürzung wegen Unwirtschaftlichkeit nach § 368 n Abs. 4 RVO dar. Die Prüfungsorgane hätten lediglich die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung zu überwachen. Die Durchführung der Verteilungskürzung sei nicht ihre Aufgabe.

Das Sozialgericht (SG) hat den angefochtenen Ablehnungsbescheid der beklagten KÄV aufgehoben; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 18. Oktober 1965). Nach Auffassung des SG hätte der angefochtene Bescheid mit der in ihm enthaltenen Verteilungskürzung nicht - wie tatsächlich geschehen - von der Abrechnungsstelle der beklagten KÄV, sondern von ihrem Prüfungsausschuß erlassen werden müssen.

Gegen dieses Urteil hat die beklagte KÄV Berufung eingelegt. Sie hat ausgeführt, dem SG könne darin nicht beigepflichtet werden, daß die Honorarbegrenzung im Wege der Verteilungskürzung einen Bescheid der Prüfungsinstanzen voraussetze. Seit dem 1. Januar 1963 sei streng zwischen der Honorarverteilung und der Honorarprüfung zu unterscheiden. Nur mit dieser hätten die Prüfungsinstanzen sich zu befassen. Jeder Fall durchlaufe den Kreisprüfungsausschuß. Erst dann komme es zur Begrenzung der vom Prüfungsausschuß beanstandeten oder nicht beanstandeten Honorarforderungen. Eine Verlautbarung des Prüfungsausschusses ergehe nur dann, wenn er Prüfabstriche wegen Unwirtschaftlichkeit vornehme.

Die beklagte KÄV hat beantragt,

das Urteil des SG Schleswig vom 18. Oktober 1965 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat vorgetragen, zu Recht habe das SG angenommen, die Honorarbegrenzung sei so sehr mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung verquickt, daß die Prüfungsinstanzen auch in das Honorarbegrenzungsverfahren einbezogen werden müßten. Darauf, daß die Honorarbegrenzung früher in den Prüfungsvorschriften, ab Januar 1963 jedoch im HVM geregelt worden sei, könne es nicht ankommen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 20. Juni 1966). Das LSG ist davon ausgegangen, daß der angefochtene Honorarabrechnungsbescheid zu Recht von der Abrechnungsstelle der beklagten KÄV erlassen worden sei: Der Bescheid enthalte keine individuellen Prüfabstriche auf Grund einer Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers. Vielmehr sei in ihm nur eine Verteilungskürzung auf Grund des seit dem 1. Januar 1963 gültigen HVM der beklagten KÄV durchgeführt worden. Das sei aber eine rein rechnerische Maßnahme, die keine wertende Beurteilung erfordere, insbesondere nicht durch die Ärzte, die in den zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit berufenen Gremien tätig seien. In der Sache selbst hat es die beim Kläger durchgeführte Verteilungskürzung für rechtmäßig erachtet.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision mit dem Antrag eingelegt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der beklagten KÄV gegen das Urteil des SG vom 18. Oktober 1965 zurückzuweisen,

hilfsweise:

den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Zur Begründung hat er u. a. geltend gemacht: Die Verteilung der Gesamtvergütung durch die KÄV sei eine Angelegenheit der Krankenversicherung i. S. des § 80 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Demgemäß hätte ein Vorverfahren durchgeführt werden müssen. - Die Entscheidung über die Verteilungskürzung hätte vom Prüfungsausschuß - gegebenenfalls auf den Widerspruch hin vom Beschwerdeausschuß - getroffen werden müssen. Die Prüfung wegen Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise und die Verteilungskürzung stünden in innerem Zusammenhang, so daß nur eine Stelle, nämlich die in der RVO vorgesehenen Prüfungsinstanzen, entscheiden könnten.

Die beklagte KÄV hat beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise:

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Sie hält die Auffassung des LSG für zutreffend, daß im vorliegenden Fall kein Vorverfahren durchzuführen sei. Nur bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung sei ein solches in Gestalt des Verfahrens vor dem Beschwerdeausschuß vorgesehen. Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungsweise (§ 7 HVM) sei auch bei der beklagten KÄV nach wie vor den in § 368 n Abs. 4 RVO vorgesehenen Prüfungsinstanzen vorbehalten. Im vorliegenden Falle sei aber nur eine Verteilungskürzung nach § 8 HVM durchgeführt worden, und zwar auf der Grundlage eines HVM, der zur Durchführung des gesetzlichen Auftrags in § 368 f Abs. 1 RVO beschlossen worden sei.

II

Die Revision des Klägers ist begründet: Zu Unrecht hat das LSG in der Sache entschieden, anstatt den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren durchzuführen.

Dem LSG ist allerdings darin beizupflichten, daß die Honorarfestsetzung einschließlich der ihr zugrunde liegenden Verteilungskürzung nicht zu dem Tätigkeitsbereich gehört, der den in § 368 n Abs. 4 RVO vorgesehenen Prüfungsinstanzen - Prüfungsausschuß und Beschwerdeausschuß - vorbehalten ist. Diese Prüfungsorgane sind für die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungsweise - gegebenenfalls auch der ärztlichen Verordnungsweise - bestimmt.

Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 13. August 1964 (BSG 21, 235, 236) näher ausgeführt hat, darf der in § 368 n Abs. 4 RVO den Prüfungsorganen erteilte Auftrag, die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen zu überwachen, nicht mit der durchaus anders gearteten Aufgabe der KÄV nach § 368 f Abs. 1 Sätze 2 bis 5 RVO verwechselt und verquickt werden, die Gesamtvergütung unter die Kassenärzte nach Maßgabe eines Verteilungsmaßstabs zu verteilen, der u. a. einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit einzelner Kassenärzte entgegenwirken soll. Will diese Sollvorschrift (§ 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO) auf die Verpflichtung des Kassenarztes hinwirken, dem Versicherten eine zweckmäßige und ausreichende, d. h. gründliche und sorgfältige Versorgung zuteil werden zu lassen (vgl. dazu BSG 22, 218, 220), so soll das Wirtschaftlichkeitsgebot sicherstellen, daß "das Maß des Notwendigen" (§ 182 Abs. 2, 2. Halbs. RVO) nicht überschritten wird. Beide Regelungen sollen somit verschiedenen Gefährdungen einer sachgemäßen, zweckentsprechenden kassenärztlichen Versorgung entgegenwirken: einmal, daß der Versicherte nicht die ihm zugedachte ausreichende und zweckmäßige Krankenpflege erhält (vgl. § 182 Abs. 2, 1. Halbs. RVO); zum andern, daß zwar eine ausreichende Krankenpflege gewährt, diese aber mit größerem Aufwand als erforderlich erreicht wird.

Außerdem unterscheiden sich die beiden Aufgaben - Verhütung der übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit und Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise - wesentlich in der Art und Weise, wie sie nach der gesetzlichen Regelung durchzuführen sind. Ist die erste allein Gegenstand einer normativen Regelung im HVM, die erst den weitgespannten unbestimmten Rechtsbegriff der "übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes" näher konkretisiert und für den einzelnen Kassenarzt übersehbar macht (vgl. dazu BSG 21, 235, 236), so haben die Prüfungsorgane nach § 368 n Abs. 4 RVO ihre Aufgabe, "die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen" zu überwachen, ohne eine diesen unbestimmten Rechtsbegriff vertiefende und näher erläuternde normative Grundlage durchzuführen, d. h. die Prüfung im wesentlichen auf ihr ärztliches Erfahrungswissen gestützt vorzunehmen. Die Streitfragen, die sich aus der Anwendung des HVM ergeben können, sind somit ihrer Natur nach anders als die sich aus der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungs- oder Verordnungsweise ergebenden Fragen. Sie sind zwar nicht nur rein rechnerische Aufgaben, sondern können, wie der vorliegende Fall zeigt, bedeutsame grundsätzliche Rechtsfragen enthalten. Dem LSG ist aber darin zuzustimmen, daß die Streitfragen um die Rechtmäßigkeit des HVM - die im Vordergrund stehen - und gegebenenfalls auch um seine Anwendung nicht das spezifische Erfahrungswissen der Prüfärzte berühren.

Deshalb sind die in § 368 n Abs. 4 RVO vorgesehenen Prüfungsinstanzen grundsätzlich auf ihren gesetzlichen Prüfungsauftrag beschränkt. Die vom Senat für den Fall gebilligte Ausnahme, daß Verteilungskürzungen und Prüfabstriche wegen Unwirtschaftlichkeit in einer zusammenfassenden Regelung so miteinander verquickt sind, daß sie sinnvoll nur in einem einheitlichen Prüfverfahren durchgeführt werden können (vgl. Urteile vom 25. September 1962 - 6 RKa 17/61 und 6 RKa 18/61 -), läßt sich jedenfalls nicht auf die bei der beklagten KÄV seit dem 1. Januar 1963 gültige Regelung übertragen, die die Prüfung der Unwirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise scharf von der Honorarfestsetzung und der zu ihr gehörigen Verteilungskürzung unterscheidet. Demnach hat die beklagte KÄV zu Recht den angefochtenen Honorarabrechnungsbescheid mit der darin enthaltenen Verteilungskürzung nicht durch den Prüfungsausschuß, sondern durch ihre Abrechnungsstelle erlassen.

Zutreffend hat das LSG hieraus gefolgert, daß der in § 368 n Abs. 4 Satz 3 RVO für den betroffenen Arzt vorgesehene Rechtsbehelf der Anrufung des Beschwerdeausschusses im vorliegenden Fall nicht gegeben ist. Indessen bedeutet das noch nicht, daß überhaupt kein Vorverfahren durchgeführt werden muß. Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 20. Juli 1966 (BSG 25, 120) näher dargelegt hat, sind in Angelegenheiten des Kassenarztrechts jedenfalls seit Inkrafttreten des Gesetzes über Kassenarztrecht Verwaltungsakte in einem Vorverfahren nachzuprüfen, soweit das Gesetz nichts Abweichendes vorschreibt. Angelegenheiten des Kassenarztrechts gehören zu den in § 80 Nr. 1 SGG genannten Angelegenheiten der Krankenversicherung. Da das Gesetz für die Anfechtung von Honorarabrechnungsbescheiden keine Ausnahme vom Vorverfahrenszwang - wie in §§ 81 Nr. 2 SGG, 368 i Abs. 5 RVO - vorsieht, ist daher auch im vorliegenden Fall die Durchführung eines Vorverfahrens vor der von der Vertreterversammlung bestimmten Stelle (vgl. § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG), die auch der Vorstand der KÄV sein könnte (vgl. BSG 8, 256, 258), unerläßlich. Die Revision ist somit begründet.

Da es im vorliegenden Falle ernstlich zweifelhaft war, ob vor Erhebung der Klage ein Vorverfahren durchzuführen ist, ist in der Klage hilfsweise die Erhebung des Widerspruchs enthalten (BSG 25, 66, 68; BSG 20, 199). Demnach ist - wie auch in den in BSG 25, 66 und 120 behandelten Fällen geschehen - der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, damit dieses den Beteiligten Gelegenheit geben kann, das Vorverfahren zu Ende zu führen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 174

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