Leitsatz (amtlich)

1. "Entscheidungsgründe" (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG) fehlen, wenn in der Urteilsbegründung selbst nicht mindestens die Erwägungen zusammengefaßt worden sind, auf denen die Entscheidung über jeden einzelnen für den Urteilsausspruch rechtserheblichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht.

2. Zu dem durch Bezugnahme auf vorinstanzliche Entscheidungen, Akten oder andere Unterlagen nicht ersetzbaren Mindestinhalt der Entscheidungsgründe gehört die ausreichende Angabe der angewandten Rechtsnormen, der für erfüllt bzw nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale und der dafür ausschlaggebend gewesenen tatsächlichen und rechtlichen Gründe (Anschluß an und Fortführung von BSG vom 9.5.1974 - 11 RA 252/73 = SozR 1500 § 136 Nr 1, BSG vom 12.12.1974 - 1 RA 33/74 = SozR 1500 § 136 Nr 2, BSG vom 3.5.1984 - 11 BA 188/87 = SozR 1500 § 136 Nr 8 und BSG vom 17.11.1987 - 5b RJ 10/87 = SozR 2200 § 1246 Nr 152).

 

Normenkette

SGG § 136 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 11.12.1986; Aktenzeichen L 10 An 58/85)

SG Berlin (Entscheidung vom 05.09.1985; Aktenzeichen S 20 An 3006/83)

 

Tatbestand

Die 1920 geborene Klägerin ist österreichische Staatsbürgerin und bezieht seit 1977 eine österreichische Alterspension. Streitig ist die Höhe eines deutschen Altersruhegeldes.

Die Klägerin wohnte unmittelbar vor dem 13. März 1938 bei einer Tante in Ungarn. Vom 15. Oktober 1938 bis zum 15. Oktober 1939 war sie im sog Pflichtjahr auf einem Gut in Mecklenburg. Vom 11. November 1939 bis zum 29. März 1940 leistete sie Reichsarbeitsdienst (RAD) in Österreich. Vom 12. Juli 1940 bis zum 15. November 1942 arbeitete sie in einem Flugzeugwerk in der Wiener Neustadt. Ab 23. November 1942 war sie als Nachrichtenhelferin bei der Luftwaffe dienstverpflichtet und u.a. im Ausland eingesetzt. Vom 9. Mai 1945 bis zum 28. Oktober 1945 befand sie sich in Kriegsgefangenschaft. Schließlich war sie vom 29. November 1971 bis zum 31. Dezember 1975 in der Bundesrepublik Deutschland angestelltenversicherungspflichtig beschäftigt.

Mit Bescheid 1) vom 2. Juni 1980 bewilligte ihr die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vorzeitiges Altersruhegeld ab 1. Mai 1980 im Betrag von 112,40 DM monatlich. Durch Bescheid 2) vom 4. Februar 1982 stellte die BfA die Rente ab 1. Mai 1980 wegen eines nachgemeldeten zusätzlichen Entgelts für die Zeit von August bis November 1972 in Höhe von 2.962,- DM auf zuletzt 127,90 DM monatlich neu fest. Mit dem streitigen Bescheid 3) vom 13. April 1983 lehnte sie den Antrag ab, die Zeiten von Oktober 1938 bis Oktober 1945 rentensteigernd anzurechnen, weil sie nach den deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommen (DÖSVA) in die österreichische Versicherungslast gefallen seien. Ferner wurde die Anrechnung eines um 629,- DM höheren Arbeitsentgelts für 1972 abgelehnt.

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin im Urteil vom 5. September 1985 abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die BfA ein Teilanerkenntnis abgegeben (Schriftsatz vom 4. Dezember 1985) und durch den streitigen Bescheid 4) vom 4.Februar 1986 das Altersruhegeld ab 1. Mai 1980 neu festgestellt. Berücksichtigt wurde das Pflichtjahr nur vom 24. August 1939 bis zum 15. Oktober 1939 als glaubhaft gemachte Beitragszeit mit den Werten der Leistungsgruppe (LG) 2 nach Anlagen 1A 2 und 5 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO), der RAD vom 11. November 1939 bis zum 29. März 1940, die Tätigkeit im Flugzeugwerk vom 12. Juli 1940 bis zum 15.November 1942 als glaubhaft gemachte Beitragszeit mit den Werten der LG 5 nach Anlagen 1B und 7 der VuVO, der Dienst als Nachrichtenhelferin vom 23. November 1942 bis zum 30. April 1945 als Beitragszeit zu 30 Monaten mit den o.g. Werten der LG 5 und die Kriegsgefangenschaft vom 9. Mai 1945 bis zum 28.Oktober 1945. Von der Bruttorente zog die BfA den Betrag der österreichischen Pension der Klägerin in dem Verhältnis ab, in dem die jetzt auch bei der deutschen Rente berücksichtigten Zeiten von 1939 bis 1945 zur Summe aller in Österreich angerechneten Versicherungszeiten stehen. Dadurch verringerte sich die deutsche Rente um rund 20,- DM. Mit dem streitigen Bescheid 5) vom 4. Juli 1986 hat die BfA den Bescheid 4) "ergänzt", indem sie den Bescheid 2) nach Maßgabe der Berechnungen des Bescheides 4) mit Wirkung vom 1. März 1986 aufhob und für die Zeit bis zum 28. Februar 1986 bestimmte, es verbleibe bei den bisherigen Leistungen. Zugleich hat sie für März 1986 21,40DM als überzahlt zurückgefordert.

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat im Urteil vom 11. Dezember 1986 die Bescheide 4) und 5) geändert und die Beklagte nach einem Hilfsantrag der Klägerin verurteilt, den "Rentenzahlbetrag von 143,80 DM als besitzgeschützt" weiter zu zahlen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. In der Begründung heißt es, die Beklagte habe die Rente nach § 44 Abs 2 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) zutreffend neu festgestellt. Der Verzicht der Klägerin auf die Berücksichtigung der Zeiten von 1939 bis 1945 sei unwirksam. Beginn, Ende und Bewertung aller Zeiten seien nicht zu beanstanden. Der Senat mache sich die Ausführungen der Beklagten in deren "Schriftsatz vom 8. Juli 1986 (Seite 5 ff = Blatt 202 ff Gerichtsakten)" ... "zu eigen und verweise auf sie". Aus Gründen des Vertrauensschutzes müsse die BfA aber den bisherigen Zahlbetrag als besitzgeschützt weiterzahlen. Daher sei der Bescheid 5) aufzuheben.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 153, 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und der Ziffer 19 des Schlußprotokolls (-SP-) zum 2. DÖSVA sowie der Art 23 und 24 des 1. DÖSVA. Sie trägt vor, für die Zeiten von Juli 1940 bis April 1945 sei die VuVO zu Unrecht zugrunde gelegt und unrichtig angewandt worden. Die tatsächlichen Arbeitsverdienste hätten durch eine Rückfrage bei der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt für Angestellte festgestellt werden können. Die Zeiten seien als nachgewiesene Beitragszeiten in vollem Umfang und mit den wirklich erzielten Arbeitsentgelten anzurechnen. Ferner sei der Kürzungsbetrag aus der österreichischen Pensionsversicherung unrichtig berechnet worden. Außerdem müsse das Pflichtjahr bereits ab 15. Oktober 1938 voll berücksichtigt werden. Schließlich sei für 1971/72 ein um 629,- DM höheres Arbeitsentgelt zugrunde zu legen.

Die Klägerin beantragt,

"unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des

Landessozialgerichts Berlin vom 11.12.86 die Bescheide der Beklagten vom 04.02.86 und vom 04.07.86 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts neu zu bescheiden, hilfsweise, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11.12.86 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen."

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie meint, die Rente sei richtig berechnet worden. Soweit die Klägerin die Anrechnung der österreichischen Pensionszahlungen und die Höhe des berücksichtigten Arbeitsentgelts für die Zeit ab November 1971 angreife, sei die Revision unzulässig, weil in der Revisionsbegründung nur Tatfragen abgehandelt würden.

Im übrigen hat die Beklagte die Zeit vom 1. Juli 1942 bis zum 15. November 1942 mit einem Arbeitsverdienst von 572,87 RM und die Zeit vom 1. Januar 1943 bis zum 31. Dezember 1943 mit einem Verdienst von 1.864,65 RM als nachgewiesene Beitragszeiten anerkannt (Schriftsatz vom 12. Januar 1988) und dementsprechend durch Bescheid 6) vom 23. Februar 1988 das Altersruhegeld ab 1. Mai 1980 neu festgestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist mit dem Hilfsantrag im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet. Das Urteil des LSG enthält im Blick auf den Hauptantrag keine hinreichenden Entscheidungsgründe iS von § 136 Abs 1 Nr 6 SGG. Außerdem reichen die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts für eine den Rechtsstreit abschließende Sachentscheidung nicht aus.

Nach § 136 Abs 1 Nr 5 und 6 SGG enthält das Urteil u.a. "die gedrängte Darstellung des Tatbestandes" und "die Entscheidungsgründe". Abs 2 Satz 1 und 2 aaO bestimmt, daß "die Darstellung des Tatbestandes" durch eine Bezugnahme auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und auf die zur Niederschrift erfolgten Feststellungen ersetzt werden kann, wenn sich aus ihnen der Sach- und Streitstand richtig und vollständig ergibt. In jedem Fall sind jedoch die erhobenen Ansprüche genügend zu kennzeichnen und die dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel ihrem Wesen nach hervorzuheben. "Entscheidungsgründe" enthält das Urteil hingegen nur dann, wenn in der Begründung selbst mindestens diejenigen Erwägungen zusammengefaßt worden sind, auf denen die Entscheidung über jeden einzelnen für den Urteilsausspruch rechtserheblichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Die Begründung soll zwar bündig kurz, muß aber derart ausführlich sein, daß die höhere Instanz das angefochtene Urteil zuverlässig nachprüfen und der unterlegene Beteiligte aus ihm ersehen kann, worauf das Gericht seine Entscheidung stützt (Bundessozialgericht -BSG- Urteil vom 9. Oktober 1986 - 4bRV 9/86; Urteil vom 18. April 1988 - 10 RKg 13/87; BSG SozR 1750 § 543 Nr 2; Urteil vom 24. November 1955 - 8 RV 97/54, KOV 1957 RsprNr 683; vgl auch § 35 Abs 1 SGB 10). Eine den Anforderungen des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG nicht genügende Begründung liegt daher nicht erst dann vor, wenn überhaupt keine Gründe vorhanden sind. Entscheidungsgründe fehlen schon, wenn sogar nur zu einem entscheidungserheblichen Streitpunkt die Erwägungen, die das Gericht zum Urteilsausspruch geführt haben, dem Urteil selbst nicht zu entnehmen sind. Zu dem durch eine Bezugnahme auf vorinstanzliche Entscheidungen, Akten oder andere Unterlagen nicht ersetzbaren Mindestinhalt der Entscheidungsgründe gehört die ausreichende Angabe der angewandten Rechtsnormen und der für erfüllt bzw nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale sowie der dafür ausschlaggebend gewesenen tatsächlichen und rechtlichen Gründe (vgl BSG SozR 1500 § 136 Nr 8; SozR 2200 § 1246 Nr 152). Fehlen in diesem Sinne "die Entscheidungsgründe", liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der von der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachten ist (BSG Urteil vom 9. Oktober 1986 - 4b RV 9/86). Offen bleiben kann, ob die dem § 136 Abs 1 Nr 6 SGG nicht genügende Urteilsbegründung ein absoluter Revisionsgrund iS des § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 SGG ist, so daß unwiderleglich zu vermuten wäre, das Urteil beruhe auf der Gesetzesverletzung (vgl BSG SozR 1500 § 136 Nr8). Da nämlich die schriftlichen Entscheidungsgründe die Erwägungen wiederzugeben haben, die zum Urteilsspruch des Gerichts geführt haben, läßt sich bei im genannten Sinn ungenügender Begründung jedenfalls nicht ausschließen, daß das Urteil aufgrund unvollständiger Prüfung der Sach- und Rechtslage ergangen ist.

So liegt der Fall auch hier: Ausgehend von der - worauf noch einzugehen ist: unrichtigen - Rechtsauffassung des LSG, Gegenstand des Rechtsstreits sei nur noch die Klage gegen die Bescheide 4) und 5), und unter Beachtung der Fassung des - äußerst unklar gefaßten, das Begehren der Klägerin im Berufungsverfahren nur unvollständig wiedergebenden (§§ 123, 106 Abs 1 SGG) - Antrags hätte das LSG zumindest mitteilen müssen, welche Rechtsnormen es im Blick auf die Anrechnung der verschiedenen streitigen Zeiten zwischen Oktober 1938 und Oktober 1945 angewendet hat und aufgrund welcher tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen es zu dem Ergebnis gelangt ist, zu jedem der streitigen Punkte habe die Beklagte richtig entschieden. Die pauschale Behauptung, die Beklagte habe "die Ziff 19 SP-DÖSVA-Zeiten auch zutreffend angerechnet, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Beginns und Endes als auch hinsichtlich ihrer Bewertung" (S 7 des LSG-Urteils) enthält keine Entscheidungsgründe. Die anschließende - wie ausgeführt: unzulässige - Bezugnahme auf Schriftsätze der Beteiligten läßt keine zuverlässige Nachprüfung der für das LSG maßgeblich gewesenen Gründe durch den Senat zu. Deswegen ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Ferner hängt die Entscheidung über die Höhe des der Klägerin seit dem 1. Mai 1980 zustehenden Altersruhegeldes u.a. wesentlich davon ab, in welchem Umfang und mit welchem Wert die streitigen Zeiten zu berücksichtigen, in welcher Höhe die österreichischen Pensionszahlungen anzurechnen und welche Arbeitsentgelte 1971/72 wirklich erzielt worden sind. Die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen können dem Urteil des Berufungsgerichts nicht entnommen und vom Revisionsgericht nicht getroffen werden. Dazu ist der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das LSG wird auch den während des Revisionsverfahrens ergangenen Bescheid 6), der als mit der Klage beim SG angefochten gilt (§ 171 Abs 2 SGG), so in die Prüfung einzubeziehen haben, als wenn er während des Berufungsverfahrens erlassen worden wäre (BSGE 9, 78).

Bei seinem weiteren Vorgehen wird das LSG - nach dem bisherigen Stand des Verfahrens - zumindest folgendes zu bedenken haben:

Gegenstand des Rechtsstreits ist in erster Linie der streitige Bescheid 3) vom 13. April 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 1983, bestätigt durch das mit der Berufung angefochtene Urteil des SG vom 5. September 1985. Durch ihn ist der Antrag der Klägerin abgelehnt worden, ihr ab 1. Mai 1980 unter Abänderung der Bescheide 1) und 2) höheres Altersruhegeld wegen zusätzlich anzurechnender Versicherungszeiten zwischen Oktober 1938 und Oktober 1945 und wegen eines um 629,- DM höheren Arbeitsentgelts für 1971/72 zu gewähren.

Der Bescheid 3) ist durch die später ergangenen Verwaltungsakte nicht hinfällig geworden. Zwar hat die Beklagte mit Bescheid 4) das Altersruhegeld ab 1. Mai 1980 umfassend neu berechnet und einen gegenüber dem Bescheid 2) um etwa 20,- DM monatlich geringeren Rentenanspruch sowie eine entsprechende Überzahlung festgestellt. Sie hat aber mit Bescheid 5) den noch nicht bindend gewordenen Bescheid 4) aufgehoben, soweit durch ihn der Bescheid 2) für Zeiten vor dem 1. März 1986 aufgehoben worden war. Der Bescheid 2) ist daher - jedenfalls für den Zeitraum bis zum 28. Februar 1986 - noch wirksam, die im angefochtenen Bescheid 3) erfolgte Ablehnung, ihn zugunsten der Klägerin abzuändern, also nicht gegenstandslos.

Der Bescheid 3) ist rechtswidrig, wenn die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 SGB 10, nicht des hier nicht anwendbaren § 44 Abs 2 SGB 10, gegeben sind. Hingegen ist - wie die Klägerin hilfsweise geltend macht - der Bescheid 4) in der Fassung, die er durch den Bescheid 5) erhalten hat, rechtswidrig, wenn die Beklagte zur Rücknahme des die Klägerin begünstigenden Bescheides 2) nicht ermächtigt war. Dies ist - wie das LSG im Ansatz zutreffend erkannt hat - nach § 45 SGB 10 zu beurteilen. Denn durch die Bescheide 4) und 5) hat die Beklagte den an der Bindungswirkung des Bescheides 2) teilnehmenden Verfügungssatz über die Höhe des Altersruhegeldes zu Lasten der Klägerin teilweise zurückgenommen.

Das Hauptbegehren der Klägerin hätte nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 Aussicht auf Erfolg, wenn sich ergibt, daß bei Erlaß der Bescheide 1) und 2) das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Soweit sich nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG erwiesen hat, daß bereits bei Erlaß der früheren Bescheide zu beachten gewesen wäre, daß die Versicherungszeiten der Klägerin zwischen Oktober 1938 und Oktober 1945 bei der Berechnung auch des deutschen Altersruhegeldes zu berücksichtigen sind, ist das Recht unrichtig angewandt worden. Gleiches gilt, wenn die Klägerin - wie sie behauptet - 1971/72 ein um 629,- DM höheres Arbeitsentgelt erzielt hat, als der Rentenberechnung zugrundegelegt wurde. Hierbei ist zu beachten, daß die Umstellung der Berechnungsgrundlage von den Tabellenwerten der LG 3 der Anlage 2 zu § 32a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zwar erklärt, daß zwischen den im Bescheid 1) angegebenen Werten und den im Bescheid 2) berücksichtigten Arbeitsentgelten nicht eine Differenz in Höhe des nachgemeldeten Entgelts von 2.962,- DM, sondern eine um 629,- DM geringere besteht. Das schließt aber nicht aus, daß der Vortrag der Klägerin zutrifft, sie habe tatsächlich ein um 629,- DM höheres Arbeitsentgelt erhalten.

Weiterhin müßten Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sein. Das wäre der Fall, wenn die Klägerin Anspruch auf höheres Altersruhegeld hatte. Dies könnte sich nach ihrem Vortrag erstens ggf aus einem für 1971/72 zu berücksichtigenden höheren Arbeitsentgelt (s.o.) und zweitens wegen zusätzlich anzurechnender bzw höher zu bewertender Versicherungszeiten zwischen 1938 und 1945 trotz Anrechnung österreichischer Pensionszahlungen ergeben. Im Blick auf das sog Pflichtjahr ist zu beachten, daß es "zwar auf einer allgemeinen öffentlichen Anordnung beruhte, aber seiner Natur nach ein privates Dienst- und Arbeitsverhältnis wie jedes andere" (so der Reichsarbeitsminister mit Erlaß vom 21. Februar 1939, AN 1939, 111) war, das in verschiedenen Formen abgeleistet wurde und - je nach den Umständen des Einzelfalles - Versicherungspflicht in der Invalidenversicherung begründen konnte (siehe dazu: Amtl Mitt LVA Rheinpr 1971, 310-315 f; Reichsversicherungsamt -RVA- Beschluß vom 24. August 1939, AN 1939, 472; LSG Berlin, Urteil vom 3. Mai 1988 - L 2 An 139/87; Oberlandesgericht Wien SSV 25 (1985) S 307 ff). Das Berufungsgericht wird daher zu klären haben, ob die näheren Umstände des Aufenthaltes der Klägerin auf dem Gut in Mecklenburg unter Berücksichtigung des behaupteten Entgelts von 25,- RM monatlich die rechtliche Folgerung auf ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis auch vom 15. Oktober 1938 bis zum 23. August 1939 gebieten.

Ob diese Zeit und die späteren Beschäftigungen als Angestellte in einem Flugzeugwerk und als Nachrichtenhelferin bei der Luftwaffe in vollem Umfang oder zum Teil (vgl Bescheid 6) als Zeiten berücksichtigt werden können, für die "nachgewiesene Beiträge und Arbeitsentgelte" iS von § 135 Abs 2 AVG im Wege des Kartenersatzes übertragen werden könnten, wird das Berufungsgericht ebenfalls zu prüfen und unter Umständen weitere Ermittlungen durchzuführen haben. Dabei ist zu beachten, daß zum "Nachweis" der Beiträge und Arbeitsentgelte jedes zulässige Beweismittel einschließlich amtlicher Auskünfte dienen kann, daß aber die "Glaubhaftmachung" (§ 10 VuVO) für den Kartenersatz nach § 135 Abs 1 und 2 AVG nicht ausreicht (vgl BSGE 20, 275; BSG SozR RVO § 1413 Nr 1). Auch wird das Berufungsgericht bezüglich der Anrechnung österreichischer Pensionszahlungen dem Vorbringen der Klägerin nachgehen müssen, die Beklagte sei von falschen Werten ausgegangen.

Falls das LSG nach diesen und unter Umständen weiteren rechtlichen Erwägungen und tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis gelangen sollte, der Überprüfungsantrag nach § 44 Abs 1 SGB 10 müsse Erfolg haben, ist zugleich die Rechtswidrigkeit der Bescheide 4) und 5) dargetan. Andernfalls wird es prüfen müssen, ob die Beklagte den auch der Höhe nach bindend zuerkannten Anspruch auf Altersruhegeld nach § 45 SGB 10 zu Lasten der Klägerin ab 1. März 1986 neu feststellen durfte. Fraglich ist u.a., ob die (Teil-)Rücknahme des Bescheides 2) vom 4. Februar 1982 durch Bescheid 4) vom 4. Februar 1986 noch innerhalb der Ausschlußfristen des § 45 Abs 3 Satz 2 oder 3 SGB 10 erfolgt ist. Ferner wird auch zu prüfen sein, ob die Bescheide 4) und 5), letztgenannter bezüglich der Rückforderung von 21,40 DM, verfahrensfehlerfrei (vgl ua §§ 24 Abs 1 und 2, 42 Satz 2, § 35 Abs 1 Satz 3 SGB 10) ergangen sind.

Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, daß der Bescheid 6), soweit er eine Zugunstenregelung nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 enthält, den Ablehnungsbescheid 3) im Blick auf das Hauptbegehren der Klägerin nur zT ersetzt hat.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

NJW 1989, 1758

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