Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.05.1989)

SG Düsseldorf (Urteil vom 08.06.1988)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Mai 1989 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 8. Juni 1988 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungs- und im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zuzulassen ist.

Der Kläger, der die israelische Staatsangehörigkeit besitzt und in Israel wohnt, beantragte am 13. Juni 1983 bei der beklagten Landesversicherungsanstalt die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 30. Juni 1986 ab. Innerhalb der mit Schreiben vom 30. September 1985 gesetzten Frist sei er weder konkretisiert noch eine Bestätigung der Staatsangehörigkeit übersandt worden.

Der Kläger erhob über seine Bevollmächtigte S. … Y. … Widerspruch und legte im November 1986 den vollständig ausgefüllten Antragsvordruck vor. Dem Antrag war eine unter Verwendung eines Vordrucks der Beklagten am 23. Oktober 1986 gefertigte, auf seine Bevollmächtigte ausgestellte Vollmacht beigefügt, in der diese zur Regelung der Sozialversicherungsangelegenheit des Klägers einschließlich Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber den Sozialversicherungsträgern bevollmächtigt wird. Die Bevollmächtigte ist danach zu allen das Verfahren betreffenden Handlungen befugt, insbesondere zur Stellung und Zurücknahme von Anträgen sowie zur Einlegung und Zurücknahme von Rechtsbehelfen. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1987 zurück.

Mit einem am 30. März 1987 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben legte der Kläger durch seine Bevollmächtigte gegen den Widerspruchsbescheid „Widerspruch” ein. Die Beklagte wertete dieses Schreiben als Klage und leitete es dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf zu.

Das SG hat die Bevollmächtigte des Klägers mehrmals aufgefordert, eine Prozeßvollmacht vorzulegen, zuletzt unter Setzung einer Frist von vier Wochen mit Schreiben vom 25. Januar 1988, das per Einschreiben gegen Rückschein aufgegeben worden ist. Die Bevollmächtigte des Klägers hatte in ihrem Schriftsatz vom 18. Mai 1987 angekündigt, die Prozeßvollmacht werde gleichzeitig mit dem Beweismaterial nachgereicht werden. Sie hat diese aber auch innerhalb der gesetzten Frist nicht zu den Akten eingereicht. Das SG hat daraufhin die Klage durch Urteil vom 8. Juni 1988 als unzulässig abgewiesen. Mit der Einlegung der Berufung am 27. Juni 1988 ist beim SG auch eine am 12. Juni 1988 ausgestellte Vollmacht auf die Bevollmächtigte des Klägers eingegangen, die ebenfalls unter Verwendung eines Vordrucks der Beklagten erstellt und deren Wortlaut hinsichtlich des Umfangs der Vollmacht der gleiche war wie der in der Vollmacht vom 23. Oktober 1986. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, den Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen gem Art 12 DV/DISVA iVm Art 2 § 51a Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zuzulassen (Urteil vom 24. Mai 1989). Das SG habe zu Unrecht die Klage als unzulässig angesehen. Die bereits im Widerspruchsverfahren eingereichte Vollmacht des Klägers ermächtige nach ihrem Inhalt auch zur Klageerhebung. Diese Vollmacht sei in den von der Beklagten dem Gericht überreichten Verwaltungsakten enthalten gewesen und in den Prozeß eingeführt worden. In der Sache habe die Beklagte den Kläger nicht von der Nachentrichtung ausschließen dürfen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom Senat zugelassene -Revision der Beklagten, mit der sie eine Verletzung des Art 12 DV/DISVA und des Art 2 § 51a ArVNG rügt.

Sie beantragt,

das Urteil des LSG vom 24. Mai 1989 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 8. Juni 1988 zurückzuweisen.

Der Kläger hat einen Antrag nicht gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das LSG hätte die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückweisen müssen; denn dieses hat zutreffend die Klage wegen fehlender Prozeßvollmacht als unzulässig angesehen.

Nach § 73 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Prozeßvollmacht schriftlich zu erteilen und bis zur Verkündung der Entscheidung zu den Akten einzureichen. Eine von einem Vertreter ohne Vollmacht eingereichte Klage ist als unzulässig abzuweisen. Das Vorhandensein der Vollmacht und die daran geknüpfte Zulässigkeit der Klage sind im sozialgerichtlichen Verfahren – ebenso wie im Verwaltungsprozeß – grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen (vgl Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes ≪GmSOGB≫ vom 17. April 1984 in SozR 1500 § 73 Nr 4; Bundessozialgericht ≪BSG≫ Urteil vom 23. Januar 1986 in SozR aaO Nr 5 mwN).

Zu den Gerichtsakten des SG hat der Kläger während des erstinstanzlichen Verfahrens, also vor der Verkündung des Urteils vom 8. Juni 1988, eine Prozeßvollmacht nicht eingereicht. Wohl war in den Verwaltungsakten der Beklagten, die vom SG beigezogen worden sind, eine vom Kläger unterzeichnete Vollmachtsurkunde enthalten. Zu fragen ist nun, ob diese Vollmacht zur Vertretung des Klägers nicht nur im Verwaltungsverfahren sondern auch im Verfahren vor dem SG ausgereicht hat und ob die Vollmacht „zu den Akten” eingereicht worden ist. Der Senat hat schon Bedenken, die letzte Frage zu bejahen. Die „Akten” iS des § 73 Abs 2 Satz 1 SGG sind die Gerichtsakten; denn die genannte Vorschrift regelt die Prozeßvertretung vor Gericht und spricht von der Verkündung einer Entscheidung, womit die nächstfolgende Gerichtsentscheidung gemeint ist (vgl Urteil des BSG vom 23. Januar 1986, aaO). Eine Bezugnahme seitens des Klägers auf die in den Verwaltungsakten der Beklagten vorhandene schriftliche Vollmacht ist nicht erfolgt. Einer abschließenden Entscheidung bedurfte es insoweit jedoch nicht.

Eine Vollmacht, die im Verwaltungsverfahren erteilt worden ist, reicht nämlich zur Prozeßvertretung vor dem SG nicht aus (so Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl 1987, § 73 RdNr 13), es sei denn, aus dem Wortlaut der schriftlichen Vollmacht oder aus sonstigen Umständen ergibt sich etwas anderes. Das LSG hat festgestellt, die von der Vertreterin des Klägers im Widerspruchsverfahren eingereichte schriftliche Vollmacht des Klägers habe nach ihrem Inhalt zu allen das Verfahren zur Regelung der Sozialversicherungsangelegenheit des Klägers und Geltendmachung seiner Ansprüche gegenüber den Sozialversicherungsträgern betreffenden Handlungen berechtigt, insbesondere auch zur Stellung und Zurücknahme von Anträgen sowie zur Einlegung und Zurücknahme von Rechtsbehelfen. Diese Feststellungen sind für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindend. Zur Prozeßvollmacht hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden, an deren Auslegung durch das Tatsachengericht sei das Revisionsgericht gebunden, wenn die Auslegung nicht Denkgesetze oder Auslegungsgrundsätze verletze (vgl Buchholz 310 § 106 Nr 8). Das entspricht dem, was allgemein für die Bindung des Revisionsgerichts an eine vom Tatsachengericht vorgenommene Auslegung einer privaten Willenserklärung gilt (vgl BSGE 43, 37, 39 = SozR 2200 § 1265 Nr 24; BSG in SozR 1500 § 163 Nr 2). Der erkennende Senat hat dazu im Urteil vom 30. Januar 1980 (SozR 5070 § 10a Nr 3) entschieden, bei der Auslegung von Willenserklärungen sei regelmäßig ein den tatsächlichen Inhalt der Erklärung feststellender und ein sie rechtlich würdigender Vorgang zu unterscheiden. Die – vom Revisionsgericht nachprüfbare – Würdigung der rechtlichen Bedeutung einer Willenserklärung setze die – grundsätzlich bindende (§ 163 SGG) – tatrichterliche Feststellung voraus, was der Erklärende sprachlich (mündlich oder schriftlich) erklärt habe (Erklärungswortlaut) und was er mit seiner Erklärung wirklich gewollt habe (Erklärungsinhalt). Dabei seien alle – auch die außerhalb der sprachlichen Erklärung liegenden – Umstände zu berücksichtigen, sofern sie gegenüber dem Empfänger der Erklärung in irgendeiner Weise Ausdruck gefunden hätten.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Senat an den vom LSG festgestellten, schriftlich fixierten Inhalt der im Widerspruchsverfahren eingereichten Vollmacht des Klägers gebunden,

nicht dagegen an die rechtliche Würdigung des Berufungsgerichts. Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß der Begriff des Rechtsbehelfs nicht nur den Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt, sondern ua auch die Klageerhebung umfaßt. Die seiner Bevollmächtigten vom Kläger eingeräumte Befugnis, Rechtsbehelfe einzulegen, kann folglich dafür sprechen, die Vollmacht auf die Klageerhebung zu erstrecken, muß aber nicht zwingend so gedeutet werden. Als weiteres Argument führt das LSG die Vorschrift des § 85 Abs 4 SGG an. Daran knüpft es die Schlußfolgerung, für das gerichtliche Verfahren sei im allgemeinen keine gesonderte Vollmacht zu verlangen, wenn im Verwaltungsverfahren bereits eine vorgelegt worden sei. Jedoch besagt die in § 85 Abs 4 SGG vorgesehene Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen einen Widerspruch dem SG als Klage zuzuleiten, nichts über den Umfang einer während des Verwaltungsverfahrens eingereichten Vollmacht.

Da sich hier somit die schriftliche Vollmacht nicht mit der notwendigen Klarheit auf die Klageerhebung bezieht, sind – wie im Urteil des Senats vom 30. Januar 1980 (aaO) ausgeführt -sonstige Umstände zu berücksichtigen. Diese sprechen eindeutig gegen eine Vollmacht, die ihrem Umfang nach zur Klageerhebung berechtigte. Die Vollmacht ist schriftlich auf einem von der Beklagten zur Verfügung gestellten Vordruck erklärt und während des Verwaltungsverfahrens entsprechend § 13 Abs 1 des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X) eingereicht worden. Bedeutsam ist schließlich, daß die Vertreterin des Klägers in ihrem ersten an das SG gerichteten Schriftsatz selbst angekündigt hat, eine Prozeßvollmacht werde nachgereicht. Auch ist später den Aufforderungen des SG, eine schriftliche Vollmacht zu den Gerichtsakten einzureichen, von der Klägerseite nicht mit einem Hinweis auf eine bereits nachgewiesene Vollmacht oder mit einer Bezugnahme auf die der Beklagten übersandte schriftliche Vollmacht begegnet, sondern nur geschwiegen worden.

Die Bedeutung der außerhalb der sprachlichen Erklärung liegenden Umstände wird gerade im Fall des Klägers deutlich. Die Texte in seinen schriftlichen Vollmachten vom 23. Oktober 1986, die die Beklagte erhalten hat, und der späteren vom 12. Juni 1988, die nach dem Urteil vom 8. Juni 1988 beim SG eingegangen ist, stimmen im Kern wörtlich überein. Die zweite Vollmacht wird dadurch erkennbar zur Prozeßvollmacht iS des § 73 SGG iVm den §§ 81, 84 bis 86 der Zivilprozeßordnung (ZPO), daß sie von der Prozeßbevollmächtigten des Klägers auf Anforderung des SG zu den Gerichtsakten gereicht worden ist und das Aktenzeichen des erstinstanzlichen Verfahrens trägt. Diese Prozeßvollmacht legitimiert zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozeßhandlungen einschließlich der Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils mit der Berufung, und sie ist auch im Revisionsverfahren die Grundlage dafür, daß Zustellungen an die Bevollmächtigte des Klägers zu richten sind.

Lag somit bis zur Verkündung der Entscheidung dem SG eine wirksame Prozeßvollmacht nicht vor, so konnte dieser Verstoß gegen § 73 Abs 2 Satz 1 SGG nicht durch die nachträgliche Einreichung der Prozeßvollmacht vom 12. Juni 1988 zu den Gerichtsakten geheilt werden. Wird nämlich eine solche Urkunde erst vorgelegt, wenn wegen fehlender Prozeßvollmacht die Klage – wie hier – als unzulässig abgewiesen oder das Rechtsmittel verworfen ist, kann der Mangel im nachfolgenden Rechtsmittelverfahren nicht mehr geheilt werden, sofern die Vorinstanz unter Fristsetzung zur Vorlage der Prozeßvollmacht aufgefordert hatte (GmSOG aaO; BSG Urteil vom 23. Januar 1986 aaO). Dabei bedarf die Fristsetzung keines formalen Gerichtsbeschlusses (BVerwGE 71, 20). Nachdem im vorliegenden Fall das SG die Bevollmächtigte des Klägers mehrmals, zuletzt unter Fristsetzung, zur Vorlage einer Prozeßvollmacht durch zugestelltes Schreiben aufgefordert hatte, kann die am 27. Juni 1988 beim SG eingegangene Vollmacht vom 12. Juni 1988 den Verstoß gegen § 73 Abs 2 SGG nicht heilen. Demnach war die Klage – wie das SG entschieden hatte – unzulässig.

Das Urteil des LSG war deshalb aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1992, 196

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