Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherung. Versicherungspflicht. Aktiengesellschaft. Vorstand. Mitglied. Vorstandsmitglied. abhängige Beschäftigung. selbständiger Unternehmer. Typisierung. sozialgerichtliches Verfahren. Streitgegenstand. Folgebescheid. Säumniszuschlag

 

Leitsatz (amtlich)

Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft sind in Tätigkeiten für das Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht als Beschäftigte versichert.

 

Orientierungssatz

Im Beitragsrecht werden während des Verfahrens vor dem SG und dem LSG im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergangene Folgebescheide, die Regelungen jeweils für einen weiteren Zeitraum treffen, in entsprechender Anwendung von § 96 SGG iVm § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des beim LSG anhängigen Streitverfahrens, wenn gegen die Folgebescheide die gleichen Einwände wie gegen den Erstbescheid erhoben werden, der Kläger sich auch gegen die Folgebescheide wendet und die Beklagte nicht widerspricht. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen Beitragsbescheiden und Bescheiden über die Erhebung von Säumniszuschlägen (§ 24 SGB 4) sind auch bei andauernder Säumnis Bescheide hierüber jedenfalls dann in das Verfahren miteinzubeziehen, wenn der erste Bescheid über die Erhebung von Säumniszuschlägen aufgrund einer Anfechtung Gegenstand des Verfahrens geworden ist.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 545 S. 1 Nr. 2, § 745 Abs. 1; AFG § 168 Abs. 6; SGB IV § 7 Abs. 1; AktG § 76 Abs. 1, § 77 Abs. 1, §§ 78, 82 Abs. 1, § 84 Abs. 1 S. 5, Abs. 3 S. 5, § 87 Abs. 1, § 111 Abs. 1, 4; SGG § 96; SGB IV § 24; SGB VI § 1 S. 4; SGB III § 27 Abs. 1 Nr. 5; AVG § 3 Abs. 1a Fassung: 1976-12-23

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 26.08.1998; Aktenzeichen L 3 U 780/98)

SG Darmstadt (Urteil vom 17.03.1998; Aktenzeichen S 3 U 2160/97)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin für ihre drei Vorstandsmitglieder Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung zu entrichten hat.

Die Klägerin ist eine Aktiengesellschaft (AG) und seit Juli 1991 Mitglied der Beklagten. Ihre drei Vorstandsmitglieder sind jeweils mit weniger als 50 vH am Aktienkapital beteiligt. Als die Beklagte aufgrund einer Lohnbuchprüfung im Oktober 1995 feststellte, daß die Bezüge der Vorstandsmitglieder in den jährlichen Lohnnachweisen der Klägerin nicht angegeben und dementsprechend bei der Beitragsberechnung nicht berücksichtigt waren, forderte sie mit vier berichtigten Beitragsbescheiden vom 15. August 1996 für die Jahre 1991 bis 1994 eine Nachzahlung von insgesamt 25.550 DM. Mit Bescheid vom 16. Januar 1997 verlangte sie außerdem Säumniszuschläge in Höhe von 1.016 DM. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 1997 als unbegründet zurück. In der gesetzlichen Unfallversicherung seien alle im Unternehmen tätigen Personen einschließlich der angestellten Mitglieder des Vorstandes einer AG grundsätzlich pflichtversichert. Die andere Behandlung der Vorstandsmitglieder in der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sei in der gesetzlichen Unfallversicherung mangels entsprechender gesetzlicher Vorschriften, aber auch wegen einer anderen Interessenlage ohne Bedeutung, weil hier nicht die soziale Schutzbedürftigkeit, sondern die Ablösung der Unternehmerhaftpflicht im Vordergrund stehe und allein der Unternehmer Mitglied und zur Beitragszahlung verpflichtet sei.

Nach Erhebung der Klage hiergegen hat die Beklagte mit Bescheid vom 15. Januar 1998 von der Klägerin weitere Säumniszuschläge in Höhe von 3.048 DM für das Jahr 1997 verlangt und ihre Forderung damit auf insgesamt 29.614 DM erhöht. Das Sozialgericht (SG) hat sämtliche der genannten Bescheide aufgehoben (Urteil vom 17. März 1998). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 26. August 1998). Diese habe ihre ursprünglichen Beitragsbescheide gemäß § 749 Nr 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit den angefochtenen Bescheiden nicht berichtigen und die Bescheide über die Erhebung von Säumniszuschlägen nicht erlassen dürfen, weil die Beitragsberichtigung rechtswidrig gewesen sei. Die Vorstandsmitglieder der Klägerin seien weder nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO noch nach § 539 Abs 2 RVO versicherungspflichtig, so daß sie für diese auch keine Beiträge zu entrichten habe. Vorstandsmitglieder einer AG verrichteten keine Beschäftigung iS des § 7 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV), der eine für alle Zweige der Sozialversicherung geltende Legaldefinition enthalte. Sie seien vielmehr aufgrund eines selbständigen Dienstvertrages tätig, der eine Geschäftsbesorgung gemäß § 675 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Gegenstand habe, und erzielten Arbeitseinkommen iS des § 15 SGB IV. Die für selbständig Tätige typische Freiheit von persönlicher Abhängigkeit in der für Arbeitnehmer typischen Gestalt der Weisungsunterworfenheit unter das Direktionsrecht eines Arbeitgebers lasse sich bei Vorstandsmitgliedern einer AG weder inhaltlich noch erst recht bezüglich des äußeren Ablaufs, der Einteilung und Ausführung der Tätigkeit feststellen. Dies folge aus den Vorschriften des Aktiengesetzes (AktG), insbesondere aus § 76 Abs 1, § 82 Abs 1, § 83 Abs 2, § 84 Abs 3, § 93 Abs 4 Satz 1, § 111 Abs 4 Satz 1 und 2 und Abs 4 Satz 3, § 119 Abs 2 AktG. Daß dieser Personenkreis kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmungen in der Rentenversicherung nicht versicherungspflichtig (§ 3 Abs 1a des Angestelltenversicherungsgesetzes ≪AVG≫ bzw § 1 Satz 4 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫) und in der Arbeitslosenversicherung nicht beitragspflichtig bzw versicherungsfrei sei (§ 168 Abs 6 des Arbeitsförderungsgesetzes ≪AFG≫ bzw § 27 Abs 1 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch ≪SGB III≫), spreche nicht gegen, sondern für die Anerkennung ihrer selbständigen Tätigkeit, auch in der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sowie die einschlägige Literatur teilten überwiegend diese Auffassung. Namentlich das Urteil des BSG vom 22. April 1987 (SozR 4100 § 141a Nr 8) begründe überzeugend, daß Mitglieder des Vorstands einer AG nicht abhängig beschäftigt seien. Demgegenüber könne dem Urteil des BSG vom 31. Mai 1989 (SozR 2200 § 1248 Nr 48), das ua das Fehlen eines Unternehmerrisikos und die Zahlung fester Bezüge als Hinweise für eine abhängige Beschäftigung angeführt habe, nicht gefolgt werden, weil bei Leitern von juristischen Personen wie AG und GmbH ein echtes Unternehmerrisiko nie bestehen könne und auch die Zahlung fester Bezüge hier kein aussagekräftiges Kriterium darstelle, weil solche Zahlungen ohne Rücksicht auf eine etwaige Kapitalbeteiligung und deren Höhe regelmäßig Bestandteil der jeweiligen Anstellungsverträge sei.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO, des § 725 Abs 1 RVO sowie des § 7 Abs 1 SGB IV. Weder § 168 Abs 6 Satz 1 AFG bzw § 27 Abs 1 Nr 5 SGB III noch § 1 Satz 4 SGB VI lasse sich der Rechtsgedanke entnehmen, Vorstandsmitglieder einer AG seien keine Beschäftigten und in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht versicherungspflichtig. Wortlaut, systematische Einordnung und Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften sprächen für das Gegenteil. Erst recht könnten aus diesen Vorschriften keine Schlüsse für eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung gezogen werden. Wegen der wirtschaftlichen Absicherung der Vorstandsmitglieder einer AG habe der Gesetzgeber in der Renten- und Arbeitslosenversicherung auf deren Einbeziehung verzichtet. In der gesetzlichen Unfallversicherung sei die soziale Schutzbedürftigkeit jedoch kein geeignetes Unterscheidungskriterium zwischen selbständiger und unselbständiger Tätigkeit, wie schon die Anzahl von gesetzlichen Pflichtversicherungstatbeständen auch für Unternehmer in § 539 Abs 1 RVO (§ 2 Abs 1 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch ≪SGB VII≫) zeige. Selbst wenn in den beiden Versicherungszweigen Vorstandsmitglieder einer AG als Beschäftigte anzusehen wären, hätte dies keine Auswirkungen auf die gesetzliche Unfallversicherung, da im Unfallversicherungsrecht keine durch Analogie auszufüllende versehentliche Regelungslücke bestehe. Der genannte Personenkreis sei auch nicht abstrakt aufgrund der Regelungen des AktG in einer unternehmerähnlichen Position, denn es müsse strikt zwischen Organstellung und Anstellungsverhältnis unterschieden werden. Daß der Vorstand lediglich der Überwachung durch den Aufsichtsrat unterliege, spreche nicht dafür, daß der Gesetzgeber ihm eine selbständige Stellung eingeräumt habe. Die Rechtsprechung habe vielfach festgestellt, daß es bei Geschäftsführern juristischer Personen ebenso wie bei hochqualifizierten Angestellten auf die dienende Teilnahme am Arbeitsprozeß ankomme und nicht auf eine besondere fachliche Weisungsgebundenheit. Im übrigen seien dem Vorstand oft zu sehr die Hände gebunden, da in der Praxis alle wesentlichen Geschäfte von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhingen und Vorhaben von empfindlicher Bedeutung für die Aktionäre unmittelbar der Hauptversammlung zu unterbreiten und von dieser zu entscheiden seien. Auch würden die Bezüge der Vorstandsmitglieder einer AG nicht nach aktienrechtlichen Grundsätzen festgelegt; § 87 Abs 1 AktG stelle nämlich nur eine Grenze bei der Festsetzung der Bezüge auf, um unverhältnismäßigen "Mammutgehältern" vorzubeugen. Die persönliche Abhängigkeit zeige sich auch in der grundsätzlich jederzeitigen Abberufungsmöglichkeit des Vorstandsmitglieds. Ferner könne die Höhe des Grundkapitals einer AG kein Kriterium dafür sein, ob ihre Vorstandsmitglieder Beschäftigte seien oder nicht. Zur Klärung dieser Frage sei daher bei ihnen eine Unterscheidung wie bei den Geschäftsführern einer GmbH danach erforderlich, ob sie mangels eines maßgeblichen Einflusses auf die Gesellschaft von dieser abhängig seien. Dies habe zur Folge, daß "Fremd-Vorstandsmitglieder" und "Minderheitsaktionäre-Vorstandsmitglieder" regelmäßig abhängig Beschäftigte seien.

Hinsichtlich der Bescheide über die Säumniszuschläge vom 16. Januar 1997 und vom 28. September 1998 führt die Beklagte in ihrer Revisionsbegründung aus, diese seien aus Billigkeitsgründen durch den Bescheid vom 28. September 1998 ersetzt worden. Darin wird der Säumniszuschlag auf 1.288 DM festgesetzt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. August 1998 sowie das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 17. März 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Wie die Vorinstanzen zu Recht entschieden haben, mußte die Beklagte bei der Beitragserhebung die drei Vorstandsmitglieder der Klägerin unberücksichtigt lassen.

Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß der nach Klageerhebung erlassene Bescheid über die Erhebung von Säumniszuschlägen vom 15. Januar 1998 Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Im Beitragsrecht werden während des Verfahrens vor dem SG und dem LSG im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergangene Folgebescheide, die Regelungen jeweils für einen weiteren Zeitraum treffen, in entsprechender Anwendung von § 96 SGG iVm § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des beim LSG anhängigen Streitverfahrens, wenn - wie hier - gegen die Folgebescheide die gleichen Einwände wie gegen den Erstbescheid erhoben werden, der Kläger sich auch gegen die Folgebescheide wendet und die Beklagte nicht widerspricht. Dem steht das Urteil des 6. Senats des BSG vom 20. März 1996 (BSGE 78, 98 = SozR 3-2500 § 87 Nr 12) nicht entgegen, weil bei Honorarkürzungsbescheiden für verschiedene Quartale im Vertragsarztrecht andere Verhältnisse vorliegen (BSGE 79, 133, 134 mwN = SozR 3-2500 § 240 Nr 27). Der erkennende Senat hat entschieden, daß dies auch hinsichtlich der in der gesetzlichen Unfallversicherung für die einzelnen Geschäftsjahre ergangenen Beitragsbescheide gilt (BSGE 18, 93, 94 = SozR Nr 16 zu § 96 SGG mwN; Urteil des Senats vom 28. September 1999 - B 2 U 40/98 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Wegen des engen Zusammenhangs zwischen Beitragsbescheiden und Bescheiden über die Erhebung von Säumniszuschlägen (§ 24 SGB IV) sind auch bei andauernder Säumnis Bescheide hierüber jedenfalls dann in das Verfahren miteinzubeziehen, wenn - wie hier - der erste Bescheid über die Erhebung von Säumniszuschlägen aufgrund einer Anfechtung Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Dagegen konnte der nach Verkündung des Berufungsurteils ergangene Bescheid vom 28. September 1998 nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens werden. Der Hinweis auf diesen Bescheid in der Revisionsbegründung hat jedoch im Revisionsverfahren insofern Bedeutung, als die Beklagte damit ihr Revisionsbegehren hinsichtlich der Säumniszuschläge von insgesamt 4.064 DM auf 1.288 DM beschränkt.

Die beitragsrechtlichen Entscheidungen der Beklagten für die Geschäftsjahre 1991 bis 1994 richten sich noch nach den Vorschriften der RVO. Am 1. Januar 1997 ist zwar das SGB VII in Kraft getreten (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes). Gemäß § 219 Abs 1 Satz 2 SGB VII sind aber die Vorschriften der RVO über die Aufbringung der Mittel für die vor 1997 liegenden Haushaltsjahre weiter anzuwenden.

Grundlage für die Beitragserhebung in der gesetzlichen Unfallversicherung ist der Gesamtnachweis der Versicherten, die im abgelaufenen Geschäftsjahr von dem Unternehmen beschäftigt worden sind, und des anrechnungsfähigen Entgelts, das sie verdient haben (§ 745 Abs 1 RVO). Die drei Vorstandsmitglieder der Klägerin gehörten in den hier fraglichen Jahren nicht zum Kreis der kraft Gesetzes Versicherten. Insbesondere waren sie nicht aufgrund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) bei der Klägerin beschäftigt.

Beschäftigung ist nach der Legaldefinition des § 7 Abs 1 SGB IV, der für sämtliche Bereiche der Sozialversicherung gilt, die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Danach ist Arbeitnehmer, wer von einem Arbeitgeber persönlich abhängig ist (vgl BSG SozR 2100 § 7 Nr 7 mwN). Die persönliche Abhängigkeit stellt das wesentliche, das charakteristische Merkmal des Beschäftigungsverhältnisses dar (Krasney in Schrammel, Versicherungs- und Beitragspflicht in der Sozialversicherung, 1985, S 4). Persönliche Abhängigkeit bedeutet Eingliederung in den Betrieb und Unterordnung unter das Weisungsrecht des Arbeitgebers, insbesondere in bezug auf Zeit, Dauer und Ort der Arbeitsausführung. Das Weisungsrecht kann allerdings besonders bei Diensten höherer Art erheblich eingeschränkt und zur "funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozeß verfeinert" sein (vgl BSG SozR 2100 § 7 Nr 7 mwN). Es darf aber nicht vollständig entfallen. Kennzeichnend für eine selbständige Tätigkeit sind demgegenüber das eigene Unternehmerrisiko, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die Möglichkeit, frei über Arbeitsort und Arbeitszeit zu verfügen (vgl BSG Urteil vom 27. Juli 1989 - 11/7 RAr 71/87 - HV-Info 1989, 2678 mwN). Eine selbständige Tätigkeit kann auch im Rahmen eines freien Dienstvertrages iS des bürgerlichen Rechts ausgeübt werden (BSG SozR 2200 § 165 Nrn 45 und 96). In Zweifelsfällen kommt es darauf an, welche Merkmale überwiegen. Dies richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, wobei die vertragliche Ausgestaltung im Vordergrund steht, die allerdings zurücktritt, wenn die tatsächlichen Verhältnisse entscheidend davon abweichen (vgl BSG Urteil vom 27. Juli 1989 aaO).

Nach diesen Maßstäben sind Vorstandsmitglieder einer AG bei Tätigkeiten für das Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, in der Regel keine Beschäftigten iS des § 7 Abs 1 SGB IV. Das ergibt sich im wesentlichen aus dem AktG vom 6. September 1965 (BGBl I 1089), das am 1. Januar 1966 in Kraft getreten ist, inzwischen zahlreiche Änderungen erfahren hat und hier in der Fassung von Art 4 des Gesetzes vom 22. Oktober 1997 (BGBl I 2567) anzuwenden ist. Nach dem Rechtszustand vor Inkrafttreten des AktG (näheres hierzu in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 470q II) wurde allerdings vom Reichsversicherungsamt (RVA) auf der Grundlage des damals geltenden Aktienrechts die Auffassung vertreten, daß das Vorstandsmitglied einer AG in der Angestelltenversicherung und der Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig sei, sofern es nicht mindestens die Hälfte des Grundkapitals der Gesellschaft besitze (RVA AN 1932, 430, vgl auch RVA in EuM 21, 125 sowie BG 1927, 379). Versicherungspflichtig waren allerdings nur die Vorstandsmitglieder, die mit ihren Bezügen die damals in beiden Versicherungszweigen geltende Jahresarbeitsverdienstgrenze (JAV-Grenze) nicht überschritten.

Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) bereits in seinem Urteil vom 11. Juli 1953 (BGHZ 10, 187, 191) auf der Grundlage des damals noch geltenden AktG vom 30. Januar 1937 (RGBl I 107) entschieden hatte, daß Anstellungsverträge von Vorstandsmitgliedern einer AG grundsätzlich unabhängige Dienstverträge sind, für die nicht die Einschränkungen des Arbeitsrechts gelten, und dies in der zivil- bzw arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur seit langem herrschende Meinung ist (vgl Hüffer, AktG, 3. Aufl, § 84 RdNr 11 mwN), ergab sich im Zusammenhang mit der vom Gesetzgeber beabsichtigten Aufhebung der JAV-Grenze in der Rentenversicherung und der damit verbundenen Einbeziehung der höher verdienenden Angestellten in die Versicherungspflicht die Frage, wie mit Mitgliedern der Geschäftsführung und des Vorstandes von Kapitalgesellschaften verfahren werden sollte. Das Ergebnis der Überlegungen war, daß mit Wirkung vom 1. Januar 1968 durch Art 1 § 2 Nr 2 des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (3. RVÄndG) vom 28. Juli 1969 (BGBl I 956) in den § 3 AVG ein Abs 1a eingefügt wurde, der bestimmte, daß Mitglieder des Vorstandes einer AG nicht zu den Angestellten iS des § 3 Abs 1 AVG gehören. Dabei überwiegt nach den Gesetzesmaterialien der Eindruck, daß diese Regelung vom Gesetzgeber subjektiv zunächst nicht als Klarstellung, sondern als konstitutive Vorschrift aufgefaßt wurde, die lediglich wegen eines nicht vorhandenen sozialen Schutzbedürfnisses die Aufnahme der Vorstandsmitglieder einer AG als Versicherungspflichtige in die gesetzliche Rentenversicherung ausschließen sollte (vgl hierzu die eingehende Darstellung der Entstehungsgeschichte des § 3 Abs 1a AVG in BSGE 36, 164, 166 f = SozR Nr 23 zu § 3 AVG sowie in BSGE 36, 258, 260 = SozR Nr 24 zu § 3 AVG). Ebenso ist die Übergangsvorschrift des § 5b des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes, der durch Art 2 § 2 Nr 3 des 3. RVÄndG eingefügt wurde, ein Indiz dafür, daß seinerzeit in der Praxis der Rentenversicherungsträger Vorstandsmitglieder einer AG als abhängig Beschäftigte behandelt werden konnten; denn Satz 1 der Vorschrift stellte Beiträge, die für Personen iS des § 3 Abs 1a AVG für Zeiten zwischen dem 1. Januar 1968 und dem 31. Juli 1969 in der Annahme der Versicherungspflicht entrichtet und bis zum 31. Dezember 1969 nicht zurückgefordert wurden, den Pflichtbeiträgen gleich. Auch in der früheren Rechtsprechung des BSG zu § 3 AVG wurde - allerdings nicht in tragendem Zusammenhang - der Standpunkt vertreten, daß Vorstandsmitglieder einer AG grundsätzlich abhängig Beschäftigte und nur wegen § 3 Abs 1a AVG nicht versicherungspflichtig seien (BSGE 36, 258, 259 = SozR Nr 24 zu § 3 AVG; desgleichen für deren Stellvertreter BSGE 36, 164 = SozR Nr 23 zu § 3 AVG). Dieser Standpunkt ist in der darauf folgenden Rechtsprechung des BSG durch eine differenziertere Betrachtungsweise abgelöst worden. Danach sind wertende Gesichtspunkte, wie vor allem ein fehlendes Schutz- und Sicherungsbedürfnis von Vorstandsmitgliedern einer AG, zwar für den Gesetzgeber bestimmend gewesen, in den gesetzlichen Tatbestand des § 3 Abs 1a AVG jedoch nicht eingegangen. Diese Vorschrift stelle eine typisierende Regelung dar, bei der atypische Besonderheiten des Einzelfalls unberücksichtigt blieben und die insbesondere die Vorstandsmitglieder einer kleinen und wirtschaftlich leistungsschwachen AG, bei denen durchaus ein Bedürfnis nach sozialer Sicherung bestehen könne, vom Versicherungsschutz ausschließe (BSG SozR 2400 § 3 Nr 4; BSG SozR 3-2940 § 3 Nr 1). Lediglich in einem besonders gelagerten rentenversicherungsrechtlichen Falle ist das BSG mit einer allgemein auf alle Vorstandsmitglieder bezogenen Begründung zu dem Ergebnis gekommen, daß das in jenem Verfahren klagende Vorstandsmitglied einer AG abhängig beschäftigt sei (BSG Urteil vom 31. Mai 1989 - SozR 2200 § 1248 Nr 48). Diesem Urteil, in welchem im Zusammenhang mit § 25 Abs 1 AVG (vorzeitiges Altersruhegeld) eine abhängige Beschäftigung des Alleinvorstandes einer AG bejaht wurde, lag ein von der Regel abweichender Sachverhalt zugrunde. Es handelte sich dabei um die weniger als 50 Tage jährlich in Anspruch nehmende und mit 60.000 DM pro Jahr honorierte "formalrechtliche" Betreuung und Vertretung einer AG, die Kommanditistin einer GmbH und Co KG war, kein eigenes Personal und keinen eigenen Geschäftsbetrieb hatte und deren äußerst geringe Verwaltungsarbeiten von Mitarbeitern der Muttergesellschaft erledigt wurden.

Seit dem 1. Januar 1992 gilt in der Rentenversicherung anstelle des § 3 Abs 1a AVG die diesem im wesentlichen entsprechende Vorschrift des § 1 Satz 4 SGB VI. Danach sind Mitglieder des Vorstandes einer AG nicht versicherungspflichtig.

Im Recht der Arbeitsförderung hat das BSG mit Urteil vom 4. September 1979 entschieden, daß Vorstandsmitglieder einer AG nicht nach § 168 AFG beitragspflichtig sind (BSGE 49, 22 = SozR 4100 § 168 Nr 10). Es hat diese Entscheidung im wesentlichen damit begründet, daß die in § 3 Abs 1 AVG für die Rentenversicherung getroffene Regelung in das Beitragsrecht nach dem AFG zu übernehmen sei, weil sich nach dem Willen des Gesetzgebers die Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit als Folge entgeltlicher abhängiger Beschäftigung nach den Grundsätzen richten sollte, die Lehre und Rechtsprechung zum Begriff des entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses in der Sozialversicherung entwickelt hätten; wenn aber nach dem Willen des Gesetzgebers schon die von Lehre und Rechtsprechung zu anderen Bereichen des Sozialversicherungsrechts entwickelten Grundsätze im AFG gälten, so sei dies um so mehr für dort vorhandene ausdrückliche gesetzliche Regelungen, wie in § 3 Abs 1a AVG, anzunehmen (BSGE aaO 25). Diese Rechtsprechung ist in der Folgezeit fortgeführt worden (BSG SozR 4100 § 168 Nr 17; BSG SozR 4100 § 141a Nr 8; BSG Urteil vom 26. März 1992 - 11 RAr 15/91 - USK 9210). Mit Wirkung vom 1. Januar 1993 wurde in § 168 AFG ein Abs 6 eingefügt, wonach Mitglieder des Vorstandes einer AG in Beschäftigungen für das Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, nicht beitragspflichtig sind. Die Regelung erstreckte sich auf die Vorstandstätigkeit sowie auf alle sonstigen Beschäftigungen in der AG, selbst wenn sie gegenüber der Vorstandstätigkeit überwiegen (vgl BR-Drucks 503/92). Inhaltlich damit übereinstimmend bestimmt nunmehr § 27 Abs 1 Nr 5 Satz 1 des seit dem 1. Januar 1998 geltenden SGB III, daß Personen in einer Beschäftigung als Mitglieder des Vorstandes einer AG für das Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, versicherungsfrei sind.

Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung enthält keine Sonderregelungen für Vorstandsmitglieder einer AG, weil deren Einnahmen in der Regel die in diesen Versicherungszweigen bestehende Versicherungspflichtgrenze (§ 165 Abs 1 Nr 2 RVO, § 6 Abs 1 Nr 1 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch, § 20 Abs 1 Satz 1 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch) überschreiten und schon aus diesem Grunde nicht versicherungspflichtig sind.

Für die gesetzliche Unfallversicherung wird in der Literatur überwiegend die Auffassung vertreten, daß Vorstandsmitglieder einer AG mangels persönlicher Abhängigkeit in der Regel keine Beschäftigten iS des § 7 Abs 1 SGB IV sind (so: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 470 q II; Brackmann/Wiester, Handbuch der Sozialversicherung, 12. Aufl, SGB VII, § 2 RdNr 105; Lauterbach/Schwerdtfeger, UV-SGB VII, § 2 RdNr 39; Schlegel in Schulin, HS-UV, § 14 RdNr 49; KassKomm-Seewald, § 7 SGB IV RdNr 99; Schmitt, SGB VII, § 2 RdNr 15; Bultmann, ZfS 1998, 302; aA: KassKomm-Ricke, § 2 SGB VII RdNr 6; Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl, § 2 SGB VII RdNr 6.24; Riebel in Hauck, K § 2 SGB VII RdNr 19a). Der Senat hält in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil des LSG diese überwiegende Auffassung für zutreffend, weil das AktG die Tätigkeit der Vorstandsmitglieder im wesentlichen als nicht abhängig geregelt hat. So hat der Vorstand gemäß § 76 Abs 1 AktG die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Ihm obliegt die Geschäftsführung (§ 77 Abs 1 AktG) und die Vertretungsbefugnis nach außen (§ 78 AktG), die nicht beschränkt werden kann (§ 82 Abs 1 AktG). Den Vorstandsmitgliedern kann für ihre Tätigkeit eine Beteiligung am Gewinn gewährt werden. Ihre Gesamtbezüge (Gehalt, Gewinnbeteiligungen, Aufwandsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen und Nebenleistungen jeder Art) müssen in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft stehen (§ 87 Abs 1 AktG). Sie unterliegen keinen Weisungen durch den Aufsichtsrat. Dieser hat vielmehr lediglich eine Überwachungsfunktion (§ 111 Abs 1 AktG). Nach § 111 Abs 4 AktG können dem Aufsichtsrat Maßnahmen der Geschäftsführung nicht übertragen werden (Satz 1); er oder die Satzung können lediglich bestimmen, daß bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen (Satz 2); bei Verweigerung der Zustimmung kann der Vorstand verlangen, daß die Hauptversammlung über die Zustimmung beschließt (Satz 3). Auch die Hauptversammlung kann über die dem Vorstand obliegenden Fragen der Geschäftsführung nur entscheiden, wenn dieser es verlangt (§ 119 Abs 2 AktG). Schließlich kann ein Vorstandsmitglied nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes abberufen werden (§ 84 Abs 3 Satz 1 AktG).

Das Vorstandsmitglied einer AG ist auch nicht wie ein abhängig Beschäftigter in den Betriebsablauf des Unternehmens eingeordnet, denn selbst wenn es sich bei seiner Tätigkeit nach den organisatorischen und funktionalen Regeln des Unternehmens richtet, verhält es sich nicht anders als ein Unternehmer in seinem Betrieb. Wie dieser hat das Vorstandsmitglied die genannten Regeln entweder selbst aufgestellt oder zumindest an deren Aufstellung oder Beibehaltung entscheidend mitgewirkt (vgl Bultmann, aaO S 304). Soweit die Handlungsmöglichkeiten des Vorstandes im übrigen begrenzt sind, beruht dies nicht auf Einzelanordnungen, sondern auf generell-abstrakten Leitlinien (Gesetz, Satzung, Beschlüsse der Hauptversammlung), deren Beachtung zur Erreichung des mit der Tätigkeit verbundenen Ziels notwendig ist. In solchen Fällen hat die Rechtsprechung des BSG keine abhängige Beschäftigung angenommen (BSG SozR 2200 § 165 Nrn 36, 45 und 61; BSG Urteil vom 18. Mai 1983 - 12 RK 41/81 - USK 8393): Auch der Umstand, daß das Unternehmerrisiko beim Vorstandsmitglied nur im Rahmen des § 87 Abs 1 AktG und bei Gewinnbeteiligung (§ 86 AktG) vorhanden ist, schließt seine selbständige Tätigkeit nicht aus, weil auch bei einem nicht unter die Versicherungspflicht des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO fallenden Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH, der einen die Sperrminorität sichernden Anteil am Stammkapital hat (vgl BSGE 70, 81, 83 = SozR 3-4100 § 104 Nr 8; SozR 3-4100 § 168 Nr 8), die GmbH grundsätzlich nur mit ihrem Gesellschaftsvermögen haftet (§ 13 Abs 2 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung).

Fehlt es somit in der Regel bei Vorstandsmitgliedern einer AG an der abhängigen Beschäftigung, so kann daraus allein nicht geschlossen werden, daß nicht Fälle möglich sind, in denen ausnahmsweise Vorstandsmitglieder die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 SGB IV erfüllen. Daß solches rechtlich nicht ausgeschlossen ist, ergibt sich daraus, daß das Aktienrecht zwischen der Organstellung des Vorstandsmitglieds und seiner Stellung als Vertragspartei unterscheidet und im Anstellungsvertrag die Vereinbarung besonderer, im AktG nicht geregelter Bestimmungen möglich ist (vgl zB § 84 Abs 1 Satz 5, Abs 3 Satz 5; § 85 Abs 3 Satz 2; § 87 Abs 2 Satz 2; Abs 3 AktG). Auch dem genannten Urteil des BSG vom 31. Mai 1985 (SozR 2200 § 1248 Nr 48) lag ein von der Regel abweichender Sachverhalt zugrunde. Daß in diesem Ausnahmefall eine abhängige Beschäftigung bejaht wurde, läßt keine Rückschlüsse auf den Regelfall zu, zumal in diesem Urteil der typisierende Charakter des § 3 Abs 1a AVG ausdrücklich anerkannt und der von dieser Vorschrift erfaßte Personenkreis als ein solcher bezeichnet wird, "der ähnlich einem Selbständigen unternehmerische Aufgaben zu erfüllen hat und wie (in der Regel) ein Selbständiger nicht kraft Gesetzes versicherungspflichtig ist". Soweit das BSG seinerzeit in dem Urteil zu § 3 Abs 1a AVG (BSGE 36, 258, 259 = SozR Nr 24 zu § 3 AVG) eine abhängige Beschäftigung der Vorstandsmitglieder einer AG ohne nähere Begründung angenommen hat, geschah dies nicht in tragendem Zusammenhang.

Daß bei diesem Personenkreis im Regelfall keine abhängige Beschäftigung besteht, wird von der Rechtsprechung des 7., 11. und inzwischen auch des 12. Senats des BSG bestätigt. So hat der 7. Senat in seinem Urteil vom 4. September 1979 (BSGE 49, 22 = SozR 4100 § 168 Nr 10) die Auffassung vertreten, daß das Vorstandsmitglied einer AG nicht zu den Angestellten iS des § 3 Abs 1 AVG gehöre. Der 12. Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (SozR 4100 § 168 Nr 17), weil eine solche Person nur zur Leistung selbständiger Dienste verpflichtet sei und sich die Beitragsfreiheit nicht nur auf die Organstellung, sondern auch auf das Dienstverhältnis beziehe, das zwischen der AG und ihm durch Anstellungsvertrag begründet werde. Dem ist der 11. Senat in seinem Urteil vom 26. März 1992 (11 RAr 15/91 - USK 9210) gefolgt. Er hat die in § 3 Abs 1a AVG bzw § 1 Satz 3 SGB VI enthaltene Regelung nicht für verfassungswidrig gehalten, weil die darin enthaltene Typisierung dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes nicht widerspreche. Die Typisierung sei gerechtfertigt, da die AG typischerweise eine "große" Kapitalgesellschaft (§ 7 AktG: Mindestgrundkapital 100.000 DM, jetzt 50.000 Euro) und die Organstellung des Vorstandsmitglieds im Vergleich zum GmbH-Geschäftsführer weitaus unabhängiger gestaltet sei.

In der gesetzlichen Unfallversicherung führt die Möglichkeit, daß in Einzelfällen ausnahmsweise Vorstandsmitglieder einer AG abhängig beschäftigt sind, nicht dazu, daß in jedem Einzelfall über das Vorliegen einer Beschäftigung eine Gesamtbetrachtung angestellt werden muß. Vielmehr besteht - wie in der Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung - in allen Fällen keine Versicherungspflicht nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO.

Da zu einer derartigen Typisierung allerdings nur der Gesetzgeber berechtigt ist, darf das Gericht eine solche nur annehmen, wenn sich aus dem Gesetz hierfür hinreichende Anhaltspunkte ergeben. Dies ist im Unfallversicherungsrecht der Fall. Zwar enthalten die Vorschriften über die Versicherung kraft Gesetzes und kraft Satzung (§§ 539 bis 544 RVO) keine Regelung, aus der auf die generelle Versicherungsfreiheit der Vorstandsmitglieder einer AG geschlossen werden könnte. Ein solcher Schluß kann aber aus der Regelung über die freiwillige Versicherung gezogen werden. Denn dem § 545 Satz 1 Nr 2 RVO ist zu entnehmen, daß Vorstandsmitglieder einer AG in keinem Fall als Beschäftigte nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO pflichtversichert sein können. Nach dieser durch Art 8 Nr 2 des Renten-Überleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1606) in den damaligen Abs 1 Satz 1 des § 545 RVO eingefügten Vorschrift, die am 1. Januar 1992 in Kraft getreten ist (Art 42 Abs 1 RÜG), können Personen, die in Kapital- oder Personenhandelsgesellschaften regelmäßig wie ein Unternehmer selbständig tätig sind, der Unfallversicherung freiwillig beitreten, soweit sie nicht schon kraft Gesetzes oder Satzung versichert sind. Nach den Gesetzesmaterialien zu dieser Vorschrift (BT-Drucks 12/405 S 150) sollte durch die Ergänzung in Satz 1 geschäftsführenden Gesellschaftern von Kapital- und Personenhandelsgesellschaften, die maßgeblichen Einfluß auf die Entscheidungen der Gesellschaft haben und ihre Arbeit frei disponieren können, ausdrücklich das Recht eingeräumt werden, sich freiwillig bei demjenigen Unfallversicherungsträger zu versichern, bei dem die Gesellschaft Mitglied ist. Diese Personen seien nach der Rechtsprechung des BSG weder als Unternehmer noch als Beschäftigte anzusehen und hätten damit bislang häufig keine Möglichkeit gehabt, in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung aufgenommen zu werden. Aus diesen Gesetzesmaterialien kann nicht geschlossen werden, daß die Vorschrift auf Vorstandsmitglieder einer AG nicht anwendbar oder allenfalls anwendbar sei, wenn diese zumindest über eine Sperrminorität an Aktien verfügen. Dies ergibt sich nicht einmal zwingend aus dem Wortlaut der Materialien, obwohl die dort verwendete Terminologie "geschäftsführender Gesellschafter" dem AktG fremd ist (dort werden die Begriffe Vorstandsmitglieder und Aktionäre verwendet). Denn der Gesetzgeber hat damit nur den Hauptanwendungsfall der neuen Regelung genannt, nämlich den Geschäftsführer einer GmbH, der aufgrund der ihm gehörenden Geschäftsanteile wie ein Unternehmer tätig ist, der aber aufgrund der Rechtsprechung des BSG (vgl Zusammenfassung in SozR 3-2200 § 723 Nr 2) sich nach der Rechtslage vor dem 1. Januar 1992 nicht freiwillig versichern konnte. Unabhängig hiervon muß jedoch bei der Auslegung auch des § 545 Satz 1 Nr 2 RVO beachtet werden, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) der in einer Rechtsvorschrift zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend ist, so wie er sich aus dem Wortlaut der gesetzlichen Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Vorschrift. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg nicht ausgeräumt werden können (BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 129 f). Bei Anlegung dieser Maßstäbe steht zunächst fest, daß Vorstandsmitglieder einer AG Personen sind, die in einer Kapitalgesellschaft regelmäßig tätig sind. Weiterhin steht fest, daß in einer AG in erster Linie die Vorstandsmitglieder wie Unternehmer selbständig tätig sind. Jedenfalls kämen in dieser Hinsicht außer ihnen allenfalls die Mitglieder des allerdings nicht allzu häufig tagenden (vgl § 110 AktG) Aufsichtsrates in Betracht. Der Senat hält es für ausgeschlossen, daß in § 545 Satz 1 Nr 2 RVO nur die Vorstandsmitglieder einer AG gemeint sein können, die über die Mehrheit des Aktienkapitals oder zumindest über eine Sperrminorität verfügen. Derartige Verhältnisse sind bei einer AG untypisch. Sie mögen bei solchen mit niedrigem Grundkapital vorkommen. Je höher jedoch das Grundkapital ist, um so seltener tritt der Fall ein, daß ein Vorstandsmitglied mit seinem eigenen Aktienkapital die Gesellschafterversammlung und somit die AG beherrscht. Es kann aber nicht angenommen werden, daß das Gesetz die Vorstandsmitglieder einer "kleinen" AG eher für "wie Unternehmer selbständig tätig" hält als die Vorstandsmitglieder einer "großen" AG. § 545 Satz 1 Nr 2 RVO ist daher nur so auszulegen, daß Vorstandsmitglieder einer AG sich stets dann freiwillig versichern können, wenn sie nicht nach Gesetzesvorschriften außerhalb der Regelung des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO (zB nach § 539 Abs 1 Nr 5 Fall 2 RVO) oder nach der Satzung des Unfallversicherungsträgers versichert sind. Ergibt somit die Auslegung des § 545 Satz 1 Nr 2 RVO, daß Vorstandsmitglieder einer AG die Grundvoraussetzungen für eine freiwillige Versicherung erfüllen, ist damit zugleich ausgeschlossen, daß sie als abhängig Beschäftigte versicherungspflichtig sein können; denn eine Anwendung des § 545 Satz 1 Nr 2 RVO setzt unabhängig von der Einschränkung "soweit sie nicht schon kraft Gesetzes oder kraft Satzung versichert sind" voraus, daß eine Versicherung nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO nicht besteht.

Wie in den genannten Gesetzesmaterialien ausgeführt ist, bestand zumindest im Zeitpunkt der Erstellung des Entwurfs eines RÜG im Jahre 1991 für den in § 545 Satz 1 Nr 2 RVO bezeichneten Personenkreis "häufig keine Möglichkeit, in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung aufgenommen zu werden". Hieraus schließt der Senat, daß jedenfalls in dem genannten Jahr Vorstandsmitglieder häufig nicht versicherungspflichtig und nicht zur freiwilligen Versicherung berechtigt waren. Die hier getroffene Auslegung, daß Vorstandsmitglieder einer AG in keinem Falle nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versicherungspflichtig sind, trifft daher jedenfalls bereits für den Rechtszustand im Jahre 1991 zu.

Unterliegen somit alle Vorstandsmitglieder einer AG bei Tätigkeiten für das Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, nicht der Versicherungspflicht nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO, so trifft dies auch für die Vorstandsmitglieder der Klägerin zu, soweit sie für diese tätig sind.

Auch die übrigen Versicherungspflichttatbestände des § 539 RVO sind nicht erfüllt. Das gilt insbesondere für § 539 Abs 2 RVO; denn ein wie ein Unternehmer selbständig Tätiger kann - jedenfalls in dem Unternehmen, für das er regelmäßig tätig ist - nicht wie ein abhängig Beschäftigter tätig sein (vgl Lauterbach/Schwerdtfeger, aaO, § 2 RdNr 659 mwN).

Da das LSG somit zu Recht die berichtigten Beitragsbescheide für die Jahre 1991 bis 1994 sowie die Bescheide über die Erhebung von Säumniszuschlägen aufgehoben hat, war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 542844

BSGE, 214

DB 2000, 329

DStR 2000, 2144

AG 2000, 361

AuA 2000, 552

SozSi 2001, 108

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