Leitsatz (amtlich)

1. Steht fest, daß ein früherer bindend gewordener Bescheid unrichtig ist, so besteht für die Verwaltungsbehörde keine Wahl, entweder zugunsten des Berechtigten nach KOV-VfG § 40 Abs 1 einen neuen Bescheid zu erteilen oder davon Abstand zu nehmen; sie ist dann vielmehr verpflichtet, einen der materiellen Rechtslage entsprechenden neuen Bescheid zu erteilen.

2. Erteilt die Verwaltungsbehörde einen Zugunstenbescheid nach KOV-VfG § 40 Abs 1, so steht es in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, von welchem Zeitpunkt an sie die günstigere Regelung treffen will.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Verwaltungsbehörde übt ihr Ermessen nicht fehlerhaft aus, wenn sie es auf die wirtschaftliche Lage abstellt.

Die Verwaltungsbehörde hat auch zu prüfen, ob die Einrede der Verjährung eine rückwirkende Neuregelung über einen Zeitraum von 4 Jahren hinaus hindert und ob die Geltendmachung der Verjährung als fehlerhaft oder aus sonstigen Gründen als rechtswidrig angesehen werden muß.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Mai 1966 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Die Versorgungsbehörde erkannte beim Kläger mit Umanerkennungsbescheid vom 14. Juli 1951 "Verlust des linken Oberarmes" als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. ab 1. Oktober 1950 an, dabei übernahm sie Schädigungsfolge und Höhe der MdE aus Bescheiden nach früheren versorgungsrechtlichen Bestimmungen ohne ärztliche Untersuchung. Dieser Bescheid ist bindend geworden. Mit einem am 25. August 1964 bei der Versorgungsbehörde eingegangenen Antrag begehrte der Kläger, "Verlust des linken Oberarmes im Schultergelenk" als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihm Rente nach einer MdE um 80 v. H. zu zahlen. Er führte ua aus, daß er erst jetzt anläßlich eines Termins vor dem Sozialgericht (SG) "von einem Leidensgefährten auf die Möglichkeit eines solchen Antrages aufmerksam gemacht worden sei". Nach einer versorgungsärztlichen Begutachtung erteilte die Versorgungsbehörde den Bescheid vom 3. Dezember 1964, mit dem sie gemäß § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) unter Beibehaltung der bisher anerkannten Gesundheitsstörungen mit Wirkung vom 1. August 1964 die MdE auf 80 v. H. erhöhte und hinzufügte, diese MdE sei unter Berücksichtigung des § 30 Abs. 2 BVG festgesetzt worden. Im übrigen werde an der Bindung der bisherigen Bescheide festgehalten. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos. In dem Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 1965 führte die Versorgungsbehörde unter Hinweis auf die Verwaltungsvorschriften (VV) Nr. 8 zu § 40 VerwVG ua aus, daß "in der Regel als Zeitpunkt der Änderung des früheren Bescheides der Beginn des Monats zu bezeichnen ist, in dem der Antrag auf Erteilung eines günstigeren Bescheides gestellt worden ist". Dem Begehren des Klägers sei somit in vollem Umfang entsprochen worden. Eine Rückwirkung über einen Zeitraum vor der Antragstellung könne nicht in Betracht kommen. Eine derartige Regelung sei nämlich nur "in besonders begründeten Ausnahmefällen" möglich. "Besondere Umstände, zB eine wirtschaftlich bedrängte Lage", die eine solche Regelung rechtfertigen könnten, seien im Falle des Klägers nicht ersichtlich.

Mit seiner Klage hat der Kläger die rückwirkende Gewährung der Rente nach einer MdE um 80 v. H. für die Zeit ab 1. Oktober 1950 begehrt. Das SG Detmold hat mit Urteil vom 23. April 1965 unter Abänderung des Bescheides vom 3. Dezember 1964 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 1965 den Beklagten verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1960 bis zum 31. Juli 1964 eine Rente nach einer MdE um 80 v. H. zu gewähren und darüber einen Bescheid zu erteilen. Es hat im übrigen die Klage abgewiesen, weil die Ansprüche des Klägers auf die höhere Rente für die Zeit vor dem 1. Januar 1960 verjährt seien. Die Berufung wurde zugelassen.

Gegen dieses Urteil haben beide Beteiligten Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 4. Mai 1966 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG vom 23. April 1965 abgeändert und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 3. Dezember 1964 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 1965 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis zum 31. Dezember 1959 eine Rente nach einer MdE um 80 v. H. zu gewähren. Wie es in der Urteilsbegründung ausführt, hätte dem Klageanspruch in vollem Umfange stattgegeben werden müssen. Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig, soweit mit ihm die höhere Leistung vor dem Antragsmonat verweigert werde. Sie stehe dem Kläger seit dem Inkrafttreten des BVG, dem 1. Oktober 1950, zu. Die VV Nr. 8 zu § 40 Abs. 1 VerwVG sei, soweit sie etwas anderes bestimme, mit dem Gesetz nicht vereinbar. Die Abänderung eines bindend gewordenen Bescheides könne entweder deswegen erfolgen, weil er ursprünglich unrichtig war (§§ 40 bis 44 VerwVG), oder deswegen, weil er nachträglich unrichtig geworden ist (§ 62 Abs. 1 BVG). Im Rahmen des § 62 BVG werde das Versorgungsrechtsverhältnis für die Zukunft, bei der Berichtigung nach den §§ 40 ff VerwVG für die Vergangenheit neu geregelt. Dies ergebe sich insbesondere aus § 47 Abs. 3 VerwVG; denn die Rückerstattungsverpflichtung setze eine rückwirkende Berichtigung des Leistungsbescheides voraus. Auch der Zugunstenbescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG müsse auf den Zeitpunkt, von dem an der berichtigte Bescheid in Kraft getreten sei, zurückwirken. Der Kläger habe bei dem Erlaß des Umanerkennungsbescheides nicht gewußt, daß die Besonderheit der Armamputation für die Höhe der Rente maßgebend sei. Die VV vom 1. März 1951 zum BVG seien bei Erlaß des Umanerkennungsbescheides schon bekannt gewesen. Sie seien damit jedermann zugänglich gewesen; damit sei aber nicht erwiesen, daß sie dem Kläger längere Zeit vor seinem Antrag im Jahre 1964 bekannt geworden sind. Die Rückwirkung des Zugunstenbescheides sei nicht nur möglich, sondern im vorliegenden Fall zwingend geboten. Dies folge aus dem gemeinsamen Rechtsgrund und Zweck jeder Berichtigung eines ursprünglich falschen Verwaltungsaktes. Die Bindung solle wegen des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -) ausnahmsweise beseitigt werden, und die sachlich-rechtliche Regelung des Rechtsverhältnisses solle mit dem Gesetz in Einklang gebracht werden. Die verfassungsrechtlich geforderte Wirkung könne die Verwaltung nicht nach Belieben auf die Zukunft beschränken. Die Versorgungsbehörde könne nicht berechtigt sein, dem zwingenden verfassungsrechtlichen Gebot nur zum Teil, also zeitlich beschränkt, zu entsprechen, da sonst nebeneinander zwei sich widersprechende oder jedenfalls unterschiedliche bindende Regelungen desselben Rechtsverhältnisses bestünden. Eine derartige widerspruchsvolle Regelung desselben Rechtsverhältnisses solle aber gerade durch die Ermächtigung zur Berichtigung eines bindend gewordenen Verwaltungsaktes vermieden werden. Das Verfassungsgebot sei "in zwei Arten der Gerechtigkeit zu verwirklichen". Zum einen sei die Rechtssicherheit ein Bestandteil der Gerechtigkeit, die in der Bindungswirkung der Verwaltungsakte zum Ausdruck komme, zum anderen fordere die Gerechtigkeit, dem Versorgungsberechtigten das zu gewähren, was ihm nach dem Gesetz materiell zustehe. Dies könne und solle nach den Vorschriften der §§ 40 bis 44 VerwVG geschehen. Wenn danach die Bindungswirkung beseitigt werde, so müsse das Gebot der materiellen Gerechtigkeit auch im vollen Umfange von der Verwaltungsbehörde befolgt werden. Dies gelte für alle Arten der Berichtigung. Es sei kein vernünftiger Grund erkennbar, daß allein die Zugunstenbescheide nach § 40 Abs. 1 VerwVG hiervon ausgenommen sein sollen, also ihnen nicht zwingend rückwirkende Kraft gegeben werden müßte. Es bestehe bei dem Zugunstenbescheid keine andere Rechtslage als in den Fällen der §§ 41 und 42 VerwVG. Keinesfalls könne der Beklagte sich auf ein ihm gewährtes Ermessen berufen; dies folge aus dem bereits erwähnten Verfassungsgebot. Das Gebot, daß die Versorgungsbescheide dem materiellen Versorgungsrecht entsprechen müssen, werde durch § 40 Abs. 1 VerwVG nicht eingeschränkt. Insbesondere bestehe keine Ermächtigung, nach eigenem Ermessen zu entscheiden, was gesetzmäßig sei oder in welchem Umfang das Rechtsverhältnis zur Versorgungsverwaltung in Übereinstimmung mit dem materiellen Recht geregelt werden müsse. Wenn in § 40 Abs. 1 VerwVG bestimmt sei, daß die Versorgungsbehörde "jederzeit" einen Zugunstenbescheid erteilen "kann", so werde damit nach dem Wortsinn allein das "tatsächliche Vermögen" beschrieben, einen solchen Verwaltungsakt zu erlassen. Es handle sich also insoweit nur um ein "Dürfen" der Verwaltung. Dieses Recht ermächtige nicht lediglich zu einer Ermessensentscheidung. Auch bei der Berichtigung nach § 41 VerwVG stehe der Versorgungsbehörde kein Ermessensspielraum zur Verfügung, sie müsse, wenn seine Voraussetzungen vorlägen, den Zuungunstenbescheid rückwirkend erteilen. Gleiches gelte für § 40 Abs. 2 und § 42 VerwVG. Daß die Fälle der Berichtigung zugunsten und zuungunsten eines Berechtigten einheitlich zu beurteilen seien, ergebe sich auch aus der früheren Vorschrift des § 30 Abs. 4 des Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (KBLG), in dem beide Tatbestände einheitlich geregelt gewesen seien. Ob es im Falle des § 40 Abs. 1 VerwVG ein "Erkenntnisermessen" (sog. kognitives Ermessen) geben könne, ähnlich wie in den Fällen der §§ 627, 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO), 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 91 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), also eine Berichtigung dann geboten sei, wenn sich die Verwaltungsbehörde von der Unrichtigkeit des früheren Verwaltungsaktes "überzeugt" habe, könne dahinstehen, da der Beklagte im vorliegenden Fall in Erkenntnis der Unrichtigkeit des früheren Verwaltungsaktes die Rente auf 80 v. H. erhöht habe. Selbst wenn der Versorgungsbehörde aber ein Ermessen hinsichtlich der rückwirkenden Gewährung der Rente nach § 40 Abs. 1 VerwVG zustehe, habe sie ermessensfehlerhaft im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gehandelt. Sie habe sich im Widerspruchsbescheid auf die wirtschaftliche Lage des Klägers berufen. Dies könne kein hinreichender Grund für die Ermessensentscheidung sein, da die Beschädigtengrundrente nach der allgemeinen Auffassung eine Entschädigung für die gesundheitlichen Störungen darstelle, unabhängig von der wirtschaftlichen Lage des Betroffenen. Dieser Ermessensfehler der Verwaltung rechtfertige nicht nur die Abänderung des angefochtenen Bescheides, sondern auch eine Verurteilung zur Zahlung der höheren Rente für die Zeit ab 1. Oktober 1950, weil jede andere Entscheidung ermessenswidrig wäre. Da dem Kläger mit Inkrafttreten des BVG nach den §§ 86 Abs. 1 Satz 2, 84 Abs. 1 BVG in der damals gültigen Fassung bereits von Amts wegen die Rente nach einer MdE um 80 v. H. hätte gewährt werden müssen, ohne daß insoweit ein entsprechender Antrag des Klägers erforderlich gewesen wäre, rechtfertige sich der Urteilsausspruch.

Die Verurteilung für die Zeit vor dem 1. April 1955, dem Inkrafttreten des VerwVG, ergebe sich daraus, daß auch bei Berichtigungen nach den §§ 41 und 42 VerwVG die Rückwirkung vor dem 1. April 1955 angenommen werde. Aber selbst wenn für die Zeit vor dem 1. April 1955 wegen der Rückwirkung von Berichtigungsbescheiden die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts Anwendung finden müßten, sei der Anspruch des Klägers begründet. Auch nach diesen Grundsätzen sei die Verwaltungsbehörde gehalten, unrichtige Bescheide aufzuheben und an deren Stelle, d. h. rückwirkend, einen neuen Bescheid zu erlassen.

Der Beklagte könne sich auch nicht für die Zeit vor dem 1. Januar 1960 auf die Verjährung berufen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe ausgesprochen (BSG 19, 88), daß die Verjährungsvorschriften des § 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auf das Versorgungsrecht entsprechend anzuwenden seien und Rentenansprüche in vier Jahren verjährten. Die Einrede der Verjährung durch den Beklagten sei aber im vorliegenden Fall als Rechtsmißbrauch anzusehen und daher unbeachtlich. Im übrigen liege es im Ermessen der Verwaltungsbehörde, die Einrede der Verjährung vorzubringen. Auch dieses Ermessen sei im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu überprüfen. Aus den dargelegten Gründen, nach denen die Einrede des Beklagten als rechtsmißbräuchlich zu bewerten sei, müsse zugleich die Einrede als ermessensfehlerhaft angesehen werden. Nach allem sei daher die Berufung des Klägers begründet, die des Beklagten unbegründet. Im übrigen wird wegen der Darstellung der Urteilsbegründung auf den Inhalt des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses, dem Beklagten am 3. Juni 1966 zugestellte Urteil hat dieser mit Schriftsatz vom 23. Juni, beim BSG am 27. Juni 1966 eingegangen, Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 3. September 1966 mit Schriftsatz vom 30. August, eingegangen am 31. August 1966, begründet.

Er beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Mai 1966 und des Urteils des Sozialgerichts Detmold vom 23. April 1965 die Berufung des Klägers zurückzuweisen und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.

Er rügt eine Verletzung des Art 20 GG sowie der §§ 54, 77 und 128 SGG, des § 40 Abs. 1 VerwVG, der §§ 197, 242 BGB, des § 619 RVO sowie der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts durch das LSG, soweit sie die Erteilung von Zugunstenbescheiden betreffen. Er trägt hierzu insbesondere vor, daß sich das der Verwaltungsbehörde in § 40 Abs. 1 VerwVG gewährte Ermessen nicht in der Verpflichtung erschöpfe, einen neuen Verwaltungsakt zu erlassen, sondern die Versorgungsbehörde befugt sei, im Rahmen ihres Ermessens zu prüfen, ob und inwieweit sie im Interesse materieller Gerechtigkeit von der Bindung eines Bescheides abgehen wolle. Das BSG habe unter Hinweis auf zahlreiche Entscheidungen nachgewiesen, daß diese Auslegung des § 40 Abs. 1 VerwVG der überwiegenden Auslegung dieser Vorschrift durch alle Kriegsopfersenate des BSG entspreche. Zwar müsse zugegeben werden, daß das Wort "kann" in § 40 Abs. 1 VerwVG nicht notwendig auf einen Ermessensspielraum für die Entscheidung der Verwaltung hinweise. Der Vergleich mit § 40 Abs. 2 VerwVG, in dem das Wort "ist" gebraucht werde, beweise, daß die Verwaltungsbehörde nach § 40 Abs. 1 VerwVG nicht verpflichtet sei, unbedingt einen neuen Bescheid zu erteilen. Daraus ergebe sich aber das Ermessen hinsichtlich der neuen Entscheidung. Ob in anderen Gesetzen das Wort "kann" eine Verpflichtung bedeute, sei unbeachtlich. Diese Auslegung des § 40 Abs. 1 VerwVG entspreche auch dem Zweck dieser Vorschrift. Der Grundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG erfordere nicht, in jedem Falle von der Bindungswirkung des § 77 SGG Abstand zu nehmen, bezwecke also nicht die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit um jeden Preis. Es sei daher durchaus mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar, der Verwaltungsbehörde nach § 40 Abs. 1 VerwVG einen Ermessensspielraum zu gewähren. Im übrigen habe das BSG (BSG 19, 12) eindeutig dargelegt, daß der Verwaltungsbehörde nach § 40 Abs. 1 VerwVG ein Ermessen dahin gewährt werde, inwieweit einer Zugunstenregelung Rückwirkung beigelegt werden solle. Die Vergleiche, die das LSG mit § 40 Abs. 2 und § 42 VerwVG vornehme, gingen schon deshalb fehl, weil die Versorgungsverwaltung nach diesen Vorschriften verpflichtet sei, einen neuen Bescheid zu erteilen, und es sich außerdem bei diesen Vorschriften um "Wiederaufnahmefälle" handele. Bei den Fällen des § 41 VerwVG sei die Rückwirkung nicht immer von praktischer Bedeutung, weil der Rückerstattungsanspruch sich nach den besonderen Voraussetzungen des § 47 VerwVG regele. Im übrigen sei die Begründung der Versorgungsbehörde, mit der sie die rückwirkende Gewährung der höheren Rente abgelehnt habe, nicht ermessenswidrig. Entgegen der Auffassung des LSG habe sich die Versorgungsbehörde im Widerspruchsbescheid nicht ausschließlich auf die wirtschaftliche Lage des Klägers berufen, sondern unter Hinweis auf die VV Nr. 8 zu § 40 VerwVG ausgeführt, daß die Verwaltungsbehörde die Gegebenheiten des Einzelfalles zu würdigen gehabt habe; denn sie habe ausgeführt, es lägen keine besonderen Umstände, "insbesondere" keine wirtschaftlichen Gründe vor. Die Ausführungen des LSG übersähen, daß das Fehlen "besonderer Gründe" für die Verwaltungsbehörde maßgebend gewesen sei. Die wirtschaftliche Lage des Klägers sei nur beispielsweise erwähnt. Daher sei die Feststellung des LSG, die Begründung des Widerspruchsbescheides stütze sich im wesentlichen auf die wirtschaftliche Lage des Klägers, unter Verletzung des § 128 SGG getroffen worden. Bei der Rechtsauffassung des LSG würde demzufolge die Rückwirkung eines Zugunstenbescheides nur beim Vorliegen besonderer Umstände abgelehnt werden dürfen. Dies sei aber nach dem Gesetz nicht zulässig. Bei der Frage, ob einem Zugunstenbescheid Rückwirkung beigelegt werden solle, gehe es nämlich darum, ob ein durch die Fehlerhaftigkeit des zu berichtigenden Bescheides bedingter finanzieller Nachteil ausgeglichen werden müsse. Diese Frage stelle sich aber ohne Rücksicht auf den von der Rente zu erreichenden Zweck.

Vorsorglich wendet sich der Beklagte auch dagegen, daß das LSG die angefochtenen Bescheide nicht nur aufgehoben, sondern auch gleichzeitig die Verpflichtung zur Rentengewährung ausgesprochen hat. Das LSG habe nicht dargetan, warum jede andere Ermessensentscheidung fehlerhaft sei. Es habe auch die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts hinsichtlich der Verpflichtung zur rückwirkenden Gewährung der Rente verletzt, da auch nach diesen Grundsätzen für die Verwaltungsbehörde keine Verpflichtung zur rückwirkenden Gewährung bestehe. Im übrigen stelle die Erhebung der Einrede der Verjährung durch den Beklagten keinen Rechtsmißbrauch dar. Dieser Grundsatz könne nur unter ganz bestimmten konkreten Voraussetzungen gelten. Das LSG habe aber derartige besondere Umstände, die eine Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben rechtfertigten und die Einrede der Verjährung ausschlössen, weder dargetan noch festgestellt. Da die Verjährungsvorschriften des BGB im BVG entsprechend anzuwenden seien, hänge der Eintritt der Verjährung nicht davon ab, ob der jeweilige Anspruch nach Ablauf der Verjährungsfrist nicht mehr einwandfrei nachweisbar sei, wie das LSG angenommen habe. Im übrigen müsse auch der öffentlichen Hand zugestanden werden, die Einrede der Verjährung zu erheben. Daß der Kläger erst kurz vor seiner Antragstellung im Jahre 1964 Kenntnis von der Möglichkeit der Erhöhung seiner Rente erhalten hat, hindere im übrigen nicht die Einrede der Verjährung durch den Beklagten.

Im übrigen wird zur Darstellung des Vorbringens des Beklagten auf die Revisionsbegründung Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Zur Begründung seines Antrags weist er im Schriftsatz vom 5. September 1966, auf den Bezug genommen wird, auf sein bisheriges Vorbringen und das eingehend begründete Urteil des LSG hin.

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG), sie ist daher zulässig. Sie ist auch begründet.

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG Rente nach einer MdE um 80 v. H. vor dem 1. August 1964 zu zahlen. Nach § 40 Abs. 1 VerwVG "kann" die zuständige Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Diese im Abschnitt XI des Gesetzes unter der Überschrift "Berichtigung von Bescheiden" stehende Vorschrift gibt der Verwaltungsbehörde das Recht, Bescheide, die von Anfang an unrichtig (rechtswidrig) und dennoch bindend geworden sind, entsprechend der materiell-rechtlichen Rechtslage abzuändern. Das "kann" in § 40 Abs. 1 VerwVG bedeutet im Rahmen dieser Vorschrift seinem reinen Wortsinn nach, daß der Verwaltungsbehörde ein Ermessen in zweierlei Hinsicht eingeräumt wird, nämlich ein Ermessen darüber "ob" und auch ein Ermessen darüber "von wann an" sie die Berichtigung vornehmen will. Das BSG hat hinsichtlich der Auslegung des Wortes "kann" in § 40 Abs. 1 VerwVG, soweit das Ermessen über das "ob" in Frage kommt, entschieden, daß die Verwaltungsbehörde gegenüber einem Berechtigten nicht mehr an einem bindend gewordenen Bescheid festhalten darf, wenn dieser zweifelsfrei gegen eine gesetzliche Vorschrift verstoßen hat und wenn seine Nachprüfung im Zeitpunkt der Ermessensentscheidung ergibt, daß er offensichtlich unhaltbar ist (BSG 19, 286, 287; ferner BSG in SozR VerwVG § 40 Nr. 3 und in Breithaupt 1965, S. 1025, 1026; Urteil des 8. Senats des BSG vom 26. Januar 1967 - 8 RV 407/64 -). Dieser Auffassung ist auch der erkennende Senat. Bei dem der Verwaltungsbehörde nach § 40 Abs. 1 VerwVG eingeräumten Ermessen, einen früheren rechtswidrigen bindend gewordenen Verwaltungsakt zu berichtigen, handelt es sich nicht um ein sog. "freies Ermessen"; die Verwaltungsbehörde ist also nicht befugt, nach ihrem freien Belieben den Verwaltungsakt zu berichtigen oder ihn bestehen zu lassen. Wäre das nämlich der Fall, so würde jede Entscheidung der Verwaltungsbehörde - gleichgültig ob sie den rechtswidrigen bindenden Verwaltungsakt abändert oder bestehen läßt - innerhalb des Ermessens ergehen und wäre daher rechtmäßig. Wenn der § 40 Abs. 1 VerwVG der Verwaltungsbehörde lediglich die Befugnis gäbe, völlig frei nach ihrem Ermessen zu entscheiden, also einen neuen Bescheid zugunsten des Beschädigten zu erteilen oder es bei dem alten zu belassen, so hätte es dieser Vorschrift nicht bedurft; denn die Verwaltungsbehörde ist auch ohne eine ausdrückliche gesetzliche Bestimmung nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechtes befugt, jederzeit eine neue Prüfung des Versorgungsrechtsverhältnisses vorzunehmen und einen neuen Bescheid zu erteilen, sofern der Betroffene durch den neuen Verwaltungsakt nicht weiter belastet wird (BSG 18, 22). Dem § 40 Abs. 1 VerwVG, nach welchem die Verwaltungsbehörde frühere Bescheide zugunsten des Berechtigten berichtigen kann, kommt daher eine andere Bedeutung zu, die mangels eines Hinweises im Wortlaut dieser Vorschrift aus ihrem Sinn und Zweck zu folgern ist. Zur Frage der Bedeutung von "Kann-Vorschriften" hat schon das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) des öfteren hervorgehoben, daß von Fall zu Fall zu prüfen ist, inwieweit ein Ermessen eingeräumt werden sollte (vgl. BVerwG 18, 247, 250; siehe dazu auch Bachof, JZ 1966, 436, 438). Der einer Behörde zugestandene Ermessensspielraum ist von sehr unterschiedlichem Umfang (siehe dazu BVerwG 15, 207, 211; 15, 251, 254; 19, 332, 396; Bachof aaO S. 436 ff). Mit einem "kann" in einer Vorschrift wird häufig zum Ausdruck gebracht, daß die Behörde eine bestimmte Entscheidung nur treffen "darf, wenn" gewisse Voraussetzungen erfüllt sind, daß sie dann aber auch die Entscheidung treffen "muß", sofern das Gesetz seinem Wortlaut nach keine andere Wahl mehr zuläßt. Aus der gesetzlichen Ermächtigung ("kann") zur Berichtigung eines rechtswidrigen bindend gewordenen Bescheides in § 40 Abs. 1 VerwVG ergibt sich nach ihrem Sinn und Zweck, daß die Verwaltungsbehörde jedenfalls dann nicht die Berichtigung versagen darf, wenn die Überprüfung ergibt, daß der bindend gewordene Bescheid der materiellen Rechtslage widerspricht. Sinn und Zweck der Berichtigungsvorschriften nach § 40 Abs. 1 VerwVG nämlich ist es, das Versorgungsrechtsverhältnis materiell richtig zu gestalten. Daraus ergibt sich zwingend für die Auslegung des Wortes "kann" in dieser Vorschrift, daß die der Verwaltungsbehörde erteilte Ermächtigung dort ihre Grenze findet, wo die Ablehnung eines Zugunstenbescheides dem materiellen Recht und damit der Gerechtigkeit widerspricht. Wenn der Verwaltungsbehörde das Recht eingeräumt ist, trotz der Bindungswirkung eines nicht oder ergebnislos angefochtenen Bescheides ein Versorgungsrechtsverhältnis nach materiellem Recht richtig zu gestalten, dann besteht für die Verwaltung die Pflicht zu einer sozial angemessenen Rechtsausübung. Der Inhalt jeden Rechts ist durch seine rechtsethische und soziale Funktion bestimmt und begrenzt. Eine funktionswidrige Ausübung ist aber nicht mehr durch den Inhalt des Rechts gedeckt, sie wäre nur noch scheinbar Gebrauch dieses Rechts und in Wirklichkeit in einem solchen Falle Rechtsmißbrauch (s. dazu BSG Urt. d. 8. Sen. v. 26.1.67 - 8 RV 407/64). Wenn daher die Verwaltungsbehörde nach § 40 Abs. 1 VerwVG zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen kann, so ist damit vom Gesetzgeber für die Verwaltung verbindlich angeordnet, daß ihre Bindung an Recht und Gesetz, die sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, im Falle der Kollision eines bindend gewordenen rechtswidrigen Bescheides mit einem dem Versorgungsberechtigten günstigeren Versorgungsrecht die Realisierung dieses Rechts, nicht aber ein Festhalten an der Bindung erfordert. Steht demnach fest, daß ein früherer bindend gewordener Bescheid unrichtig ist, so besteht für die Verwaltungsbehörde keine Wahl, entweder zugunsten des Berechtigten nach § 40 Abs. 1 VerwVG einen neuen Bescheid zu erteilen oder davon Abstand zu nehmen; sie ist dann vielmehr verpflichtet, einen der materiellen Rechtslage entsprechenden neuen Bescheid zu erteilen. Für ein Ermessen der Verwaltungsbehörde besteht insoweit kein Raum mehr. Im vorliegenden Fall ist die Versorgungsbehörde dieser Verpflichtung auch nachgekommen, denn sie hat dem Kläger auf seinen Antrag den Bescheid vom 3. Dezember 1964 erteilt, mit dem sie die Rente für die anerkannten Schädigungsfolgen nach einer MdE um 80 v. H. zugesprochen hat, nachdem sie auf Grund des Gutachtens vom 20. September 1964 erkannt hatte, daß die bisherige Bewertung der MdE um 70 v. H. und die danach gewährte Rente unrichtig war. Insoweit bestehen auch gegen die angefochtene Entscheidung keine Bedenken, als auch das LSG davon ausgegangen ist, daß die Verwaltungsbehörde zur Berichtigung verpflichtet war. Das LSG hat aber zu der weiteren Frage, die das "kann" in § 40 Abs. 1 VerwVG aufwirft, nämlich zu der Frage, "von wann an" der alte Bescheid zu berichtigen und das Versorgungsverhältnis in dem neuen Bescheid richtig zu regeln ist, die Auffassung vertreten, daß dies nicht erst vom Antragsmonat, sondern bereits für die Zeit vom Inkrafttreten des BVG, dem 1. Oktober 1950 an geschehen müsse. Es hat zur Begründung seiner Auffassung vornehmlich auf den Grundsatz der "Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" (Art. 20 Abs. 3 GG) hingewiesen, welcher der Verwaltungsbehörde gebiete, das Versorgungsverhältnis in vollem Umfange richtig zu gestalten, also auch für die zurückliegende Zeit. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Aus der oben dargelegten Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, nach § 40 Abs. 1 VerwVG einen bindend gewordenen Verwaltungsakt dann zu berichtigen, wenn er unrichtig ist und gegen gesetzliche Vorschriften verstößt, folgt noch nicht die weitere Verpflichtung, die Neuregelung auch zeitlich rückwirkend an die Stelle der früheren Regelung zu setzen. Bereits in der Entscheidung vom 22. März 1963 hat der 11. Senat des BSG (in SozR VerwVG § 40 Nr. 6) ausgesprochen, daß die Verwaltungsbehörde, wenn sie zugunsten des Berechtigten einen neuen Bescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG erteilt, nicht verpflichtet ist, den früheren ablehnenden Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Wenn sie den früheren Bescheid auch für die Vergangenheit zurücknimmt, so steht es in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, den Zeitpunkt zu bestimmen, von dem an die Neuregelung gilt. Dieser Entscheidung ist der 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 13. Januar 1966 (BVBl 1966, 100) gefolgt. Der erkennende Senat ist im Ergebnis der gleichen Ansicht. Der Wortlaut des § 40 Abs. 1 VerwVG, in dem es heißt, daß die Verwaltungsbehörde "jederzeit" zugunsten des Berechtigten einen neuen Bescheid erlassen "kann", schränkt weder das Recht der Verwaltungsbehörde ein, frei darüber zu bestimmen, von welchem Zeitpunkt an die Neuregelung eintreten soll, noch wird dadurch die Verwaltungsbehörde verpflichtet, von einem bestimmten Zeitpunkt an die günstige Regelung zu treffen. Die Verwaltungsbehörde "kann" daher über die zeitliche Wirkung des von ihr erlassenen Zugunstenbescheides nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden. Auch der Grundsatz der "Gesetzmäßigkeit" der Verwaltung schränkt das Ermessen der Verwaltung, den Zeitpunkt des Eintritts der Neuregelung selbst zu bestimmen, nicht dahin ein, den neuen Bescheid zeitlich an die Stelle des früheren Bescheides treten zu lassen, d. h. ihm rückwirkende Kraft beizumessen. Der Grundsatz der "Gesetzmäßigkeit" der Verwaltung, wie er in Art. 20 Abs. 3 GG normiert ist, besagt nicht, wie das LSG offenbar meint, daß die Verwaltung bei ihrem Handeln allein die materiell-rechtlichen Gesetze zu beachten und damit den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zu verwirklichen hat, sondern er besagt, daß die Verwaltung alle Gesetze zu beachten hat, auch diejenigen, welche die Bindungswirkung von Verwaltungsakten und die Rechtskraft von Urteilen betreffen (§§ 77 SGG, 24 VerwVG) und die der Verwirklichung des Grundsatzes der Rechtssicherheit dienen, der auch unsere Rechtsordnung beherrscht. Die Verwaltungsbehörde ist durch den Grundsatz der "Gesetzmäßigkeit" also in doppelter Hinsicht gebunden, einerseits ist sie verpflichtet, im Einzelfall materiell-rechtlich richtig zu handeln, andererseits ist sie auch gehalten, die formellen Gesetze, die die Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden bezwecken, zu beachten. Beruft sich eine Verwaltungsbehörde daher bei ihrem Handeln auf die Bindungswirkung eines Bescheides, entspricht ihr Handeln also dem Grundsatz der vom Gesetz geforderten Rechtssicherheit, so handelt sie damit im Rahmen des Grundsatzes der "Gesetzmäßigkeit der Verwaltung". Die Forderung nach Rechtssicherheit, die durch die Rechtsbeständigkeit bindender Verwaltungsakte oder rechtskräftiger Entscheidungen gewährleistet wird, und die Forderung nach materieller Gerechtigkeit, beide Ausflüsse des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, können, wie der vorliegende Fall zeigt, in einen Gegensatz treten. Mangels einer sich aus dem Gesetz ergebenden Regelung hat dann die Verwaltungsbehörde das "kann" zu interpretieren und nach ihrem Ermessen die Entscheidung zu treffen, welchem Prinzip und wieweit sie ihm folgen will. Keinesfalls ist aber bei einem solchen Konflikt, wie anscheinend der Kläger meint, immer der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit der Vorrang zu geben. Zu dem Konflikt zwischen der Forderung nach Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall und auch der nach Rechtssicherheit hat sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung in Band 7, 194, 196 geäußert und für die Gesetzgebung ausgeführt, daß der Gesetzgeber dann, wenn er die Rechtssicherheit bei der Gesetzgebung höher bewerte als die Forderung nach materieller Gerechtigkeit, das GG nicht verletze. Sowohl der Grundsatz der Rechtssicherheit wie das Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall hätten Verfassungsrang. Die Rechtssicherheit wie die Gerechtigkeit seien wesentliche Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips, einer der Leitideen des GG. Es habe dem Gesetzgeber freigestanden, welchem der beiden Grundsätze er den Vorzug geben wollte; die Entscheidung für die Rechtssicherheit stehe deshalb mit dem GG im Einklang, selbst wenn infolgedessen die Durchsetzung eines Grundrechts nicht möglich sei. Der in dieser Entscheidung zum Ausdruck gekommene allgemeine Gedanke, daß der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit der Vorrang eingeräumt werden kann, hat auch in § 79 BVerfGG seinen Niederschlag gefunden; danach bleiben - vorbehaltlich einer besonderen gesetzlichen Regelung - die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Ist der Gesetzgeber bei einer Kollision zwischen der Gerechtigkeit im Einzelfall und der Rechtssicherheit im allgemeinen berechtigt, sich zugunsten der Rechtssicherheit zu entscheiden, ohne damit gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze und die verfassungsrechtlichen Normen des GG zu verstoßen, so handelt auch die Verwaltung nicht gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, wenn sie sich bei dem Erlaß eines Verwaltungsaktes zugunsten eines Berechtigten in der gleichen Weise entscheidet (vgl. BVerwG 11, 124, 125 ff). Sie würde nur dann gesetzwidrig verfahren, wenn ihr das Gesetz selbst eine andere Entscheidung auferlegt. Das trifft aber für die Verwaltungsbehörde bei der Erteilung des Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 VerwVG nicht zu. Wie oben ausgeführt, ergibt sich aus dem Wortlaut des § 40 Abs. 1 VerwVG selbst nichts dafür, von welchem Zeitpunkt an die Verwaltungsbehörde zugunsten eines Berechtigten im Wege der Berichtigung einen neuen Bescheid zu erteilen hat, und ebensowenig läßt sich darüber etwas aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift herleiten. Soweit vom LSG zum Vergleich auf Vorschriften der RVO, des AVG, des RKG und des KBLG hingewiesen ist, hat es aus diesem Vergleich zwar die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zu einer Berichtigung hergeleitet, aber selbst nicht einmal die erwähnten Vorschriften dahin ausgelegt, daß sich daraus gleichermaßen die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde ergäbe, einen Zugunstenbescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG auch zeitlich rückwirkend zu erlassen. Ebenso kann der angestellte Vergleich des § 40 Abs. 1 VerwVG mit den §§ 40 Abs. 2, 41 und 42 VerwVG nicht die Ansicht des LSG stützen. Bei den Berichtigungsvorschriften der §§ 40 Abs. 2 und 42 VerwVG handelt es sich gar nicht um Vorschriften, die eine Ermessensentscheidung ermöglichen. Im Gegensatz zu § 40 Abs. 1 ist die Verwaltungsbehörde nach § 40 Abs. 2 VerwVG verpflichtet, sich die vom BSG bekundete Rechtsauffassung zu eigen zu machen und ihre früheren Entscheidungen durch einen neuen Bescheid abzuändern oder zu ersetzen, der in vollem Umfange, also auch zeitlich, an die Stelle der früheren Entscheidung tritt. Bei der Berichtigung nach § 42 VerwVG steht der Behörde - im Gegensatz zu § 40 Abs. 1 VerwVG - bei Vorliegen der Voraussetzungen ebenfalls kein Ermessen zu, denn die Verwaltungsbehörde "hat" ... erneut zu entscheiden. Schon die Natur dieser beiden Vorschriften verbietet es demnach, aus einem Vergleich mit ihnen Rückschlüsse darüber zu ziehen, wie das in § 40 Abs. 1 VerwVG ausdrücklich und im Gegensatz zu den Vergleichsvorschriften eingeräumte Ermessen auszuüben ist. Selbst die örtliche Verbindung der Absätze 1 und 2 im § 40 erlaubt keine Rückschlüsse in der erwähnten Richtung, denn bei dem Abs. 2 handelt es sich nicht um einen Unterfall des Abs. 1 (BSG 15, 137, 140).

Soweit das LSG auf § 41 VerwVG hinweist und meint, ebenso wie die Verwaltungsbehörde trotz des Wortes "kann" in dieser Vorschrift verpflichtet sei, rückwirkend einen Zuungunstenbescheid zu erlassen, so müsse sich auch aus dem Wort "kann" in § 40 Abs. 1 VerwVG die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur rückwirkenden Erteilung eines Zugunstenbescheides ergeben, vermochte der Senat auch dieser Begründung nicht zu folgen. Wie oben schon dargelegt ist, ergeben sich die Grenzen des Ermessens bei Kannvorschriften, soweit sie vom Gesetz nicht selbst gekennzeichnet sind, aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Ein Vergleich des "kann" in beiden Vorschriften wäre also nur denkbar, wenn der Sinn und Zweck der gleiche wäre. Das aber kann trotz des gleichen Zieles, einer Berichtigung, nicht angenommen werden, weil der Zweck einmal eine Berichtigung zugunsten und andermal eine Berichtigung zuungunsten des Berechtigten ist, zudem auch beide Berichtigungen von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig sind. Abgesehen davon trägt der Senat auch Bedenken, dem LSG darin zu folgen, daß nach § 41 VerwVG die Verwaltungsbehörde immer rückwirkend berichtigen "muß", worauf es allein in diesem Zusammenhang ankommt. Vom BSG ist bisher immer nur entschieden, ob ein Bescheid rechtswirksam ist, wenn die Verwaltungsbehörde rückwirkend berichtigt hat (vgl. BSG in SozR BVG zu § 41 VerwVG Nr. 9, 18, 22). Aus dem Vorhandensein der Rückerstattungsvorschriften §§ 47 ff VerwVG kann ebenfalls nur geschlossen werden, daß rückwirkende Berichtigungsbescheide möglich sind, die dann Rückerstattungsansprüche auslösen, nicht aber zwingen die Rückerstattungsvorschriften zu dem Schluß, daß die Verwaltungsbehörde gem. § 41 VerwVG immer rückwirkend berichtigen muß. Gegen dieses "muß" zur rückwirkenden Berichtigung spräche auch der allgemeine Gedanke, daß dann, wenn die Verwaltung einen weitgehenden Eingriff zuungunsten eines Staatsbürgers vornehmen kann, sie grundsätzlich auch einen weniger weitgehenden vornehmen darf, d. h., daß die Verwaltungsbehörde, die nach § 41 VerwVG rückwirkend berichtigen kann, dann auch ohne Rückwirkung berichtigen darf. Jedoch kann die Auslegung des "kann" im § 41 VerwVG hier dahingestellt bleiben, da schon aus den vorangehenden Erwägungen sich allgemein keine Rückschlüsse auf die Auslegung des "kann" in der Vorschrift § 40 Abs. 1 VerwVG ziehen lassen, die anderen Zwecken dient.

Ist somit bei Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 VerwVG die Verwaltungsbehörde nicht verpflichtet, die vorzunehmende Berichtigung auch rückwirkend von Erteilung des früheren Bescheides an vorzunehmen, sondern liegt es in ihrem Ermessen, den Zeitpunkt des Beginns der materiell-rechtlich richtigen Leistung zu bestimmen, so kann die Überprüfung des von der Verwaltungsbehörde ausgeübten Ermessens nur im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgenommen werden.

Das LSG hat nun im vorliegenden Fall zur Ausübung des Ermessens gemeint, die Versorgungsbehörde habe deshalb ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt, weil sie es auf die "wirtschaftliche Lage" abgestellt habe, die "kein hinreichender Grund für eine solche Ermessensentscheidung sein" könne. Dieser Auffassung ist nicht beizupflichten. Als Ermessen der Verwaltung wird allgemein das rechtlich begründete Vermögen angesehen, bei Ausübung hoheitlicher Befugnisse zwischen mehreren Verhaltensweisen nach eigenem Abwägen wählen zu können (Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 20, Anm. Nr. 120). Dieses Vermögen zu wählen findet seine Grenze dort, wo das gewählte Handeln zur Willkür wird oder gegen verfassungsrechtliche Grundsätze verstößt, wie etwa gegen den der Gleichbehandlung (Art. 3 GG). Für die Ausübung des Ermessens der Verwaltungsbehörde gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG, nämlich den Zeitpunkt des Eintritts der Wirkung der Neuregelung im Zugunstenbescheid zu bestimmen, bedeutet dies, daß die Verwaltungsbehörde innerhalb der erwähnten Grenzen bei dieser Entscheidung frei ist, also auch nicht rückwirkend berichtigen muß. Im vorliegenden Fall hat die Verwaltungsbehörde bei der Berichtigung ihr Ermessen nach den in den Verwaltungsvorschriften Nr. 8 zu § 40 VerwVG angeführten Richtlinien ausüben wollen. Diese sehen vor, daß "in der Regel" an der Bindung des früheren Bescheids festzuhalten ist und erst vom Antragsmonat die Wirkung der günstigeren Neuregelung einsetzen soll, wenn nicht nach Lage des Falles unter sorgfältiger Abwägung aller Umstände ein rückwirkender Eintritt der Neuregelung - bis zu vier Jahren - geboten ist. Als einen besonderen Umstand i. S. dieser Verwaltungsvorschriften, der eine rückwirkende Neuregelung gebieten würde, hat die Versorgungsbehörde eine etwa beim Kläger bestehende bedrängte wirtschaftliche Lage angesehen (Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 1965). Gegen eine Ausübung des Ermessens nach den Gesichtspunkten, die von der Verwaltungsbehörde als maßgebend erachtet worden sind, bestehen keine Bedenken; es ist dabei weder eine willkürliche Handhabung des Ermessens noch ein Verstoß gegen irgendwelche Verfassungsgrundsätze zu erkennen. Warum die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Beschädigten bei Ausübung des Ermessens fehlerhaft sein soll, hat das LSG nicht ausdrücklich gesagt, es meint anscheinend aber, diese Erwägung sei sachfremd und damit willkürlich, weil mindestens ein Teil der geforderten Rentenleistung, nämlich die Grundrente, unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Beschädigten gewährt werden müsse. Dabei hat aber das LSG verkannt, daß eine Rentenleistung in Geld, gleichgültig unter welchen Voraussetzungen und für welche Zwecke sie geleistet wird, immer die wirtschaftliche Lage des Empfängers beeinflußt, zumal bei der Zahlung aufgelaufener Beträge, so daß eine Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Beschädigten keine sachfremde Erwägung bei der Wahl desjenigen Zeitpunktes ist, von dem an die Neuregelung einsetzen soll, und von dem höhere oder geringere Nachzahlungen abhängen. Im übrigen gehören alle Versorgungsleistungen nach dem BVG zu den Sozialleistungen, bei deren Festsetzung Erwägungen über die wirtschaftliche Lage des Betroffenen, soweit der Verwaltungsbehörde vom Gesetz bei dieser Festsetzung eine Freiheit eingeräumt ist - hier die Wahl, den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Neuregelung zu bestimmen -, immer am Platze, wenn nicht gar geboten sind. Demnach liegen die Erwägungen, welche die Verwaltungsbehörde im vorliegenden Fall bei Ausübung der von ihr getroffenen Ermessensentscheidung angestellt hat, dem Grunde nach durchaus im Rahmen der ihr eingeräumten Ermessensfreiheit. Das LSG hat wegen seiner grundsätzlich anderweitigen Rechtsansicht, daß wirtschaftliche Erwägungen an sich schon fehlerhaft bei Ausübung des Ermessens seien, nicht mehr festgestellt, ob tatsächlich besondere Umstände, vornehmlich also eine bedrängte wirtschaftliche Lage des Klägers, vorliegen, welche die Verwaltungsbehörde nach den von ihr besonders aufgestellten Maßstäben für ihr Ermessen veranlassen müßten, ihr Ermessen in anderer Weise auszuüben. Mangels solcher Feststellungen konnte der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden und mußte den Rechtsstreit an das LSG zurückverweisen, das nach entsprechenden Feststellungen über das Vorliegen besonderer Umstände, vornehmlich also über das Vorliegen einer bedrängten wirtschaftlichen Lage des Klägers, zu entscheiden haben wird, ob das von der Verwaltungsbehörde ausgeübte Ermessen fehlerhaft war, soweit sie die Berichtigung des früheren Bescheids mit Wirkung vom 1. August 1964 vorgenommen und erst von diesem Zeitpunkt an die Rente nach einer MdE um 80 v. H. gewährt hat. Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, daß die Verwaltungsbehörde bei Erlaß ihres Bescheids vom 3. Dezember 1964 ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, und zwar fehlerhaft i. S. der oben erörterten Rechtsansicht des Revisionsgerichts, so wird es auch zu prüfen haben, ob etwa die Einrede der Verjährung eine rückwirkende Neuregelung über einen Zeitraum von vier Jahren hinaus hindert und ob die Geltendmachung der Verjährung auch unter Berücksichtigung der Rechtsansicht des Revisionsgerichts als fehlerhaft oder aus sonstigen Gründen als rechtswidrig angesehen werden muß.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2380224

BSGE, 146

MDR 1967, 789

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