Leitsatz (amtlich)

1. Ein ungelernter Arbeiter, der zum Starkstromelektriker umgeschult wird und während der Umschulung Unterhaltsgeld nach AFG § 44 erhält, befindet sich in "Berufsausbildung" iS von RVO § 1267 Abs 1 S 2.

2. Auch nach Änderung der Grundregel des RVO § 1290 Abs 1 S 1 durch das FinÄndG 1967 Art 1 § 1 Nr 25 Buchst a (Fassung: 1967-12-21 = BGBl 1 1967, 1259), wonach Rente nicht mehr vom Beginn, sondern vom Ablauf des Monats zu gewähren ist, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind, bleibt die unveränderte Vorschrift des RVO § 1290 Abs 3 S 1 eine verschärfende Ausnahmeregelung (so schon zum früheren Recht: BSG 1967-09-28 12 RJ 568/63 = SozR Nr 12 zu § 1290 RVO). Die Erhöhung und Wiedergewährung von Renten kann deshalb frühestens mit Ablauf des Monats begehrt werden, in dem die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

 

Orientierungssatz

Beim Zusammentreffen von Waisenrente (RVO § 1267) und Unterhaltsgeld nach AFG § 44 ruht die Rente auch nicht bis zur Höhe des Unterhaltsgeldes für den Zeitraum, für den beide Leistungen zu gewähren sind.

 

Normenkette

AFG § 44 Fassung: 1969-06-25; RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1290 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1967-12-21, Abs. 3 S. 1, § 1283 Fassung: 1967-12-21

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. April 1974 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Waisenrente erst ab 1. Dezember 1972 zu gewähren ist.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger während des Bezugs von Unterhaltsgeld nach § 44 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) Waisenrente zustand.

Der am ... 1949 geborene Kläger arbeitete zuletzt mehrere Jahre als ungelernter Arbeiter. Vom 2. November 1972 an wurde er zum Starkstromelektriker umgeschult. Nach dem Umschulungsvertrag war es Zweck der Umschulung, den Kläger in einer der normalen Lehrlingsausbildung gegenüber verkürzten Ausbildungszeit von längstens 21 Monaten zu einer vollwertigen Fachkraft heranzubilden. Der Kläger erhielt während der Umschulung vom Arbeitsamt Unterhaltsgeld nach § 44 AFG. Das Unterhaltsgeld betrug anfangs wöchentlich 180,- DM und wurde im Laufe der Zeit bis auf wöchentlich 203,40 DM erhöht. Den Antrag des Klägers vom 21. September 1972, ihm die bis zur Vollendung seines 18. Lebensjahres aus der Versicherung seines Vaters gezahlte Waisenrente während der Umschulung wiederzugewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1. Dezember 1972 ab, weil berufliche Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen nach dem AFG keine Schul- oder Berufsausbildung i. S. des § 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien. Das Sozialgericht (SG) Köln hat mit Urteil vom 24. September 1973 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat auf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 26. April 1974 das Urteil des SG geändert. Es hat den ablehnenden Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. November 1972 bis 30. April 1974 Waisenrente zu gewähren. In den Entscheidungsgründen, auf die Bezug genommen wird, hat das LSG ausgeführt: Dem Kläger stehe vom Beginn der Umschulung bis zur Vollendung seines 25. Lebensjahres Waisenrente zu, weil er sich während dieses Zeitraumes in Berufsausbildung befunden habe. Bei seiner vom Arbeitsamt durchgeführten Umschulung habe es sich um ein der normalen Lehrlingsausbildung vergleichbares Ausbildungsverhältnis gehandelt, daß seine Arbeitskraft und Arbeitszeit jedenfalls überwiegend beansprucht habe. Auch habe sich diese Ausbildung nicht im Rahmen einer Erwerbstätigkeit vollzogen und das dem Kläger gezahlte Unterhaltsgeld sei nicht der Gegenwert für eine geleistete Arbeit gewesen. Die Zahlung des Unterhaltsgeldes stehe der Rentengewährung nicht entgegen, weil letztere nicht den Nachweis der Bedürftigkeit voraussetze.

Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1267 Satz 2 RVO. Sie führt dazu aus: Mit der Gewährung der verlängerten Waisenrente sollten die Fälle erfaßt werden, in denen ein Kind auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf Unterhaltsleistungen angewiesen sei. Eine Ausbildung i. S. des § 1267 Satz 2 RVO liege deshalb nur vor, wenn die Waise infolge dieser Ausbildung im Regelfall gehindert sei, ihren ausreichenden Unterhalt selbst zu verdienen. Bei einer Umschulungsmaßnahme, für die Unterhaltsgeld bezogen werde, sei das nicht der Fall, weil das Unterhaltsgeld im Gegensatz zum Unterhaltszuschuß nicht nur eine Erleichterung der wirtschaftlichen Lage, sondern die volle Sicherung des Lebensunterhalts bezwecke. Eine Ausbildung mit Unterhaltsgeld nach § 44 AFG sei deshalb keine Ausbildung i. S. des § 1267 Satz 2 RVO. Bei der Auslegung des Begriffs "Berufsausbildung" müsse der Sinn und Zweck der Waisenrente als Unterhaltsersatz im Auge behalten werden. Schließlich habe die Waisenrente hier nicht schon ab 1. November 1972, sondern allenfalls vom Ablauf des Monats an zugesprochen werden dürfen, in dem die Umschulung begonnen habe, also erst ab 1. Dezember 1972.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen unbegründet. Das LSG hat die Beklagte mit Recht verurteilt, dem Kläger die Waisenrente wiederzugewähren.

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Wiedergewährung der Waisenrente hängt davon ab, ob die Voraussetzungen des § 1267 Satz 2 RVO erfüllt sind. Nach dieser Vorschrift wird Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres u. a. einer Waise gewährt, die sich in Berufsausbildung befindet. Da beim Kläger die übrigen Voraussetzungen vorliegen, kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreites allein darauf an, ob seine vom Arbeitsamt geförderte Umschulung zum Starkstromelektriker i. S. dieser Vorschrift als "Berufsausbildung" zu werten ist. Denn nicht jede Ausbildung, der sich eine Waise nach Vollendung des 18. Lebensjahres unterzieht, ist in diesem Sinne als Berufsausbildung anzusehen (BSGE 21, 185; BSG SozR Nrn. 25 und 31 zu § 1267 RVO). Bei der Tätigkeit des Starkstromelektrikers handelt es sich allerdings um einen Beruf. Darunter ist eine für die Dauer vorgesehene Arbeit zu verstehen, die geeignet ist, in der Gesellschaft auftretende materielle oder auch geistige Bedürfnisse zu befriedigen, die außerdem der Existenzsicherung dient und bei der schließlich die Befähigung zu ihrer Ausführung durch eine Ausbildung erworben wird (BSG SozR Nr. 20 und 28 zu § 1267 RVO). Das alles ist bei der Tätigkeit eines Starkstromelektrikers erfüllt. Eine Berufsausbildung i. S. des § 1267 Satz 2 RVO liegt jedoch nur vor, wenn der Erwerb der Kenntnisse und Fertigkeiten, die für die Ausübung eines zukünftig gegen Entgelt auszuübenden Berufs erforderlich sind, sich nicht im Rahmen einer den vollen Lebensunterhalt sicherstellenden Erwerbstätigkeit vollzieht. Darüber hinaus muß sie auch die Zeit und die Arbeitskraft des Auszubildenden ganz oder doch überwiegend in Anspruch nehmen. Es muß ihm unmöglich sein, sich außerhalb der für den Erwerb dieser Kenntnisse und Fertigkeiten benötigten Zeit durch eine Erwerbstätigkeit den ausreichenden Lebensunterhalt zu verdienen (BSG SozR Nrn. 4, 7, 12, 14, 19, 25, 27, 28 und 44 zu § 1267 RVO sowie die Urteile vom 4. Februar 1965 - 11/1 RA 290/62 - SozEntsch BSG VI § 44 AVG n. F. Nr. 2; vom 10. Mai 1968 - 5 RKn 119/65 -; vom 11. Juli 1974 - 4 RJ 321/73 - SozR 2200 § 1267 Nr. 2; vom 30. Oktober 1974 - 5 RJ 77/73 - zur Veröffentlichung bestimmt - und vom 19. Dezember 1974 - 8/7 RKg 6/73 -, ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmt). Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG waren diese Voraussetzungen bei der vom Kläger durchlaufenen Umschulung zum Starkstromelektriker erfüllt. Der Kläger befand sich deshalb während dieser Umschulung in einer Berufsausbildung i. S. des § 1267 Satz 2 RVO.

Daß es sich bei der Umschulung nicht um eine übliche Berufsausbildung gehandelt hat, sondern um ein davon abweichend gestaltetes Ausbildungsverhältnis mit verkürzter Ausbildungszeit, ist insoweit unbeachtlich. § 1267 Satz 2 RVO begünstigt nicht nur Ausbildungsverhältnisse der üblichen Art, sondern jedes Ausbildungsverhältnis, das den vorstehend aufgezeigten Erfordernissen entspricht (BSG SozR Nr. 7 und 17 zu § 1267 RVO). Ebenso unbeachtlich ist es, daß der Kläger während dieser Umschulung auch produktive Arbeit geleistet hat, die dem Umschulungsbetrieb zugute gekommen ist; denn in aller Regel gehört es zu einem Ausbildungsverhältnis, daß auch durch die Verrichtung normal anfallender produktiver Arbeiten eine Vervollkommnung des Auszubildenden angestrebt wird (BSG SozR Nr. 7 und 12 zu § 1267 RVO sowie Urteil vom 30. Oktober 1974 - 5 RJ 77/73 -). Nicht von Bedeutung ist hier auch, daß der Kläger früher einige Zeit als Mechanikerlehrling ausgebildet worden ist. Der Begriff der "Berufsausbildung" ist in § 1267 Satz 2 RVO nicht dahin eingeschränkt, daß eine solche Ausbildung nur für einen einzigen Beruf erfolgen könnte, die Ausbildung zu einem weiteren Beruf also nicht mehr als Berufsausbildung i. S. dieser Vorschrift zu werten wäre (BSG SozR Nr. 14 und 17 zu § 1267 RVO).

Schließlich ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht entscheidend, daß der Kläger während seiner Umschulung vom Arbeitsamt ein Unterhaltsgeld nach § 44 AFG bezogen hat. Der Anspruch einer in Berufsausbildung befindlichen Waise auf die Gewährung der Waisenrente nach § 1267 Satz 2 RVO setzt - anders als der bürgerlich-rechtliche Unterhaltsanspruch - Unterhaltsbedürftigkeit nicht voraus. Erforderlich ist lediglich, daß sich die Waise in Berufsausbildung befindet. Ein von der Waise bezogenes Einkommen kann deshalb allenfalls als Indiz in den Fällen bedeutungsvoll werden, in denen es zweifelhaft ist, ob überhaupt ein Ausbildungsverhältnis vorliegt oder ob es sich nicht vielmehr um ein Beschäftigungsverhältnis handelt (BSGE 9, 196; BSG SozR Nr. 7, 17, 19 zu § 1267 RVO). Derartige Zweifel wären hinsichtlich der vom Kläger durchlaufenen Umschulung allenfalls dann möglich, wenn das ihm vom Arbeitsamt gezahlte Unterhaltsgeld der Höhe nach dem vollen Arbeitsentgelt eines vergleichbaren Berufstätigen entsprochen hätte oder doch jedenfalls nicht wesentlich geringer gewesen wäre. Eine Vergütung in dieser Höhe könnte im Einzelfall nicht mit der Annahme vereinbar sein, daß sich die Ausbildung außerhalb einer den vollen Lebensunterhalt sicherstellenden Erwerbstätigkeit vollzogen hat (BSG SozR Nr. 15 zu § 1267 RVO; Urteil vom 10. Mai 1968 - 5 RKn 119/65 -).

Nach der dem § 44 AFG als Anlage beigegebenen Tabelle entspricht jedoch ein während der ersten 26 Wochen des Bezugs in Betracht kommendes Unterhaltsgeld von wöchentlich 180,- DM, wie es der Kläger zu Beginn seiner Umschulung erhalten hat, einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 307,50 bis 312,49 DM. Dieser Unterschied zwischen Arbeitsentgelt und Unterhaltsgeld zeigt, daß entgegen der Auffassung der Beklagten das Unterhaltsgeld nicht der vollen Sicherung des Lebensunterhalts dient, sondern vielmehr den Charakter eines Unterhaltszuschusses bzw. einer entsprechenden Beihilfe besitzt, also lediglich den Zweck hat, die wirtschaftliche Lage des Auszubildenden zu erleichtern, ihm eine wirtschaftliche Hilfe zum Bestreiten seines Lebensunterhalts zu gewähren (vgl. BSGE 9, 196; 25, 276; BSG SozR Nr. 15, 25 zu § 1267 RVO). Aus der Tatsache, daß der Kläger während seiner Umschulung Unterhaltsgeld erhalten hat, lassen sich mithin Zweifel hinsichtlich des Charakters dieser Umschulung als einer Berufsausbildung i. S. des § 1267 Satz 2 RVO nicht herleiten.

Bestand aber ein echtes Ausbildungsverhältnis, das die Zeit und Arbeitskraft der Waise überwiegend in Anspruch nahm, dann kommt es für die Gewährung der Waisenrente nicht darauf an, ob und in welcher Höhe die Waise Leistungen zu ihrem Unterhalt bezieht (BSGE 9, 196; BSG SozR Nr. 7, 17, 19 zu § 1267 RVO). Der erkennende Senat hat deshalb auch einem Studienreferendar, die verlängerte Waisenrente zuerkannt, obwohl dieser als Beamter im Vorbereitungsdienst einen Unterhaltszuschuß von monatlich 848,- DM erhielt, der möglicherweise für seinen Lebensunterhalt ausreichte (Urteil vom 27. Juni 1973 - 12 RJ 94/73 -, BSGE 36, 83 = SozR Nr. 52 zu § 1267 RVO, dem sich der 1. Senat in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 26. Februar 1975 - 1 RA 63/74 - angeschlossen hat). Ebenso hat der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mit dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 30. Oktober 1974 - 5 RJ 77/73 - bei einem in Ausbildung befindlichen Krankenpfleger, der ein monatliches Ausbildungsgeld von zunächst 885,- DM, später 910,- DM bezog, den Anspruch auf Waisenrente nach § 1267 Satz 2 RVO anerkannt.

Der Hinweis der Beklagten auf die Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente steht dem nicht entgegen. Der Grundsatz, daß allen Hinterbliebenenrenten diese Ersatzfunktion innewohnt, hindert den Gesetzgeber nicht, Regelungen zu treffen, bei denen es im Einzelfall nicht auf den Nachweis der Unterhaltsbedürftigkeit ankommt, wie das in § 1267 Satz 2 RVO hinsichtlich des Rentenanspruchs einer in Berufsausbildung befindlichen Waise der Fall ist (BSGE 9, 196; 199; Urteil vom 30. Oktober 1974 - 5 RJ 77/73 -).

Dem Kläger steht somit - wie das LSG zutreffend entschieden hat - während seiner vom Arbeitsamt geförderten Umschulung zum Starkstromelektriker bis zur Vollendung seines 25. Lebensjahres, also bis zum 30. April 1974, die Waisenrente zu, weil er sich damals in Berufsausbildung befunden hat.

Beim Zusammentreffen von Waisenrente und Unterhaltsgeld nach § 44 AFG ruht die Rente auch nicht bis zur Höhe des Unterhaltsgeldes für den Zeitraum, für den beide Leistungen zu gewähren sind. Das Zusammentreffen und Ruhen von Renten mit Renten und anderen Leistungen hat der Gesetzgeber für das Gebiet der Rentenversicherung der Arbeiter in den §§ 1278 bis 1283 RVO geregelt. Dem Zusammentreffen mit Leistungen nach dem AFG ist die Vorschrift des § 1283 RVO allein gewidmet. Dort wird aber lediglich das Ruhen beim Zusammentreffen einer Rente aus eigener Versicherung, also nicht aus fremder Versicherung - wie bei der Waisenrente - mit dem Arbeitslosengeld - also nicht mit dem Unterhaltsgeld - angeordnet. Ob dieser Zustand bei der Kumulation mehrerer Leistungen an Auszubildende rechtspolitisch wünschenswert ist, mag dahinstehen. Jedenfalls kann er angesichts des in § 1283 RVO zum Ausdruck gekommenen Willens nur durch den Gesetzgeber geändert werden. Obschon in der Arbeitslosenversicherung bereits während der Gültigkeitsdauer des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) außer dem Arbeitslosengeld noch andere Leistungen vorgesehen waren und seit dem Inkrafttreten des AFG weiterhin vorgesehen sind, beschränkt sich die Anrechnungs- und Ruhensvorschrift des § 1283 RVO allein auf das Arbeitslosengeld. Gerade diese Beschränkung in Verbindung mit der auf Renten aus eigener Versicherung verbietet die Annahme einer ungewollten und planwidrigen Lücke, die das Gericht im Wege der ergänzenden Rechtsfindung (vgl. BSGE 14, 238, 241) schließen könnte. Hinzu kommt, daß die mehrfachen Änderungen des Rentenversicherungsrechts nach dem Inkrafttreten des AFG, nicht zuletzt diejenigen des Rentenreformgesetzes (RRG) und des Zweiten Rentenversicherungsänderungsgesetzes (2. RVÄndG) die Vorschrift des § 1283 RVO unberührt gelassen haben. Selbst wenn im AFG die dem Rentenversicherungsrecht innewohnende Systematik der Anrechnungs- und Ruhensvorschriften der §§ 1278 bis 1283 RVO aufgegeben sein sollte - wofür möglicherweise § 118 AFG sprechen könnte -, fehlt auch im AFG eine Sonderregelung für den Fall des Zusammentreffens von Unterhaltsgeld und Waisenrente. Eine ausfüllungsfähige Gesetzeslücke ist auch insoweit nicht festzustellen. Mit Recht hat es deshalb das LSG unterlassen, das Unterhaltsgeld auf die Waisenrente anzurechnen.

Die Revision macht allerdings zutreffend geltend, daß die Waisenrente - entgegen der Auffassung des LSG - nicht schon vom 1. November, sondern erst vom 1. Dezember 1972 an dem Kläger zu gewähren ist. Nach § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO in seiner seit dem 1. Januar 1968 geltenden Fassung sind Renten - von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen - erst vom Ablauf des Monats an zu gewähren, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Die Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall erst mit dem Beginn der Umschulung, also am 2. November 1972, erfüllt. Anspruch auf Waisenrente hat der Kläger deshalb auch erst vom Ablauf des Monats November 1972, d. h. ab 1. Dezember 1972. Dem steht auch nicht die Vorschrift des § 1290 Abs. 3 Satz 1 RVO entgegen, wonach Erhöhung und Wiedergewährung der Rente "nur vom Beginn des Antragsmonats an" verlangt werden kann. Die Regelung des § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO enthält nämlich die für den Rentenbeginn maßgebende Grundregel. Nach dieser Grundregel waren bis zum 31. Dezember 1967 die Renten grundsätzlich vom Beginn des Monats an zu leisten, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt waren. Erhöhung und Wiedergewährung der Renten konnten dagegen auch schon damals nach § 1290 Abs. 3 Satz 1 RVO nur vom Beginn des Antragsmonats an beansprucht werden. Diese Vorschrift enthielt mithin - wie schon ihr Wortlaut zeigt - gegenüber der Grundregel eine verschärfende Ausnahmeregelung, indem bei Erhöhung und bei Wiedergewährung von Renten dem Antrag materiell-rechtliche Bedeutung mit der Folge beigelegt wurde, daß sich der Rentenbeginn zu Ungunsten des Berechtigten hinausschob, sofern der Rentenantrag erst nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt wurde. Diese verschärfende Ausnahmeregelung des § 1290 Abs. 3 Satz 1 RVO gilt aber in ihrem Wortlaut unverändert weiter. Ihr Sinn und Zweck ist auch nicht dadurch entfallen, daß die für den Rentenbeginn geltende Grundregel des § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO in der Fassung des Art. 1 § 1 Nr. 25 a des Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 (BGBl I 1259) ab 1. Januar 1968 den Rentenbeginn auf den Ablauf des Monats, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind, verlegt hat. Diese Änderung ist nämlich mit dem Ziel einer finanziellen Entlastung der Rentenversicherungsträger erfolgt (Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl., 1973, RVO § 1290 Anm. 1 a). Sie kann daher nicht dazu führen, daß der verschärfende Ausnahmecharakter (vgl. auch insoweit das zum Rechtszustand von 1957 bis 1967 ergangene Urteil des erkennenden Senats vom 28. September 1967 - 12 RJ 568/63 - SozR Nr. 12 zu § 1290 RVO) des unverändert gebliebenen § 1290 Abs. 3 Satz 1 RVO sich in sein Gegenteil verkehrt.

Nach allem ist somit die Revision der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß dem Kläger die Waisenrente erst vom 1. Dezember 1972 an wieder zu gewähren ist. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1650324

BSGE, 213

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