Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 22.11.1973; Aktenzeichen L 4 J 311/71)

SG Lübeck (Urteil vom 26.07.1971)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht vom 22. November 1973 und des Sozialgerichts Lübeck vom 26. Juli 1971 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger früher als Selbständiger erwerbstätig war und deshalb nach Art. 2 § 52 Abs. 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) berechtigt ist, Beiträge nachzuentrichten.

Der 1904 geborene Kläger ist Vertriebener i. S. des Bundesvertriebenengesetzes. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete er – ebenso wie seine Schwester auf dem Hof seiner Eltern, der ihm einmal übertragen werden sollte. Seit etwa 1933 übernahm er auf diesem Hof immer mehr Aufgaben, während sich sein damals 65-jähriger Vater mehr und mehr aus dem Betrieb zurückzog. Einen fest vereinbarten Lohn erhielt er nicht und entrichtete auch keine Beiträge zur Rentenversicherung. Er lebte mit von den Erträgnissen des Hofes, bis er am 20. August 1939 zum Kriegsdienst einberufen wurde. Nunmehr bewirtschaftete sein inzwischen 71-jähriger Vater gemeinsam mit seiner Schwester … und einem polnischen Arbeiter den Betrieb, bis sie im Januar 1945 aus Ostpreußen vertrieben wurden. Der Kläger war nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ab August 1945 im Gebiet der heutigen Bundesrepublik zunächst versicherungspflichtig tätig und arbeitete hier später als selbständiger Landwirt. Sein Antrag, ihm die Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen zu gestatten, wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 25. November 1969 abgelehnt, weil er früher nicht als Selbständiger erwerbstätig gewesen sei. Mit Bescheid vom 16. April 1970 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Gleichzeitig gewährte sie dem Kläger ab 1. November 1969 Altersruhegeld. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Lübeck durch Urteil vom 26. Juli 1971 die Beklagte verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 16. April 1970 dem Kläger zu gestatten, für die Zeit vom 1. Januar 1924 bis 31. Juli 1939 Beiträge nachzuentrichten, und ihm ein entsprechend diesen nachentrichteten Beiträgen höheres Altersruhegeld zu gewähren. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten mit Urteil, vom 22. November 1973 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf die Bezug genommen wird, hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Befugnis zur Beitragsnachentrichtung seien erfüllt, denn der Kläger habe als Vertriebener binnen drei Jahren nach seiner Vertreibung eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf genommen und sei vor seiner Vertreibung in Ostpreußen als Selbständiger erwerbstätig gewesen. Der Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit müsse, da er in Art. 2 § 52 Abs. 1 ArVNG nicht erläutert sei, nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift bestimmt werden. Dieser liege darin, den von ihr erfaßten Personen einen renteversicherungsrechtlichen Ausgleich für den Verlust zu gewähren den sie durch den Wegfall ihrer wirtschaftlichen Sicherung erlitten haben. Zu diesen Personen zählten zweifellos die vertriebenen Unternehmer. Der Begriff des Unternehmers werde in der Unfallversicherung erläutert. Der Kläger sei i. S. dieses Begriffes zwar kein Unternehmer gewesen, weil er wirtschaftlich nicht in der Lage gewesen sei, das Wagnis und die Kosten des landwirtschaftlichen Betriebes seiner Eltern zu tragen, und nicht er, sondern seine Eltern bis zuletzt: die Einnahmen aus die dem Betrieb erhalten hätten. Er habe auch nicht das Verfügungsrecht über den Betrieb gehabt, das ebenfalls bis zuletzt seinen Eltern zugestanden habe. Er habe aber ein wesentliches Begriffsmerkmal des Unternehmers erfüllt, nämlich die weitgehende Einwirkungsmöglichkeit auf die Betriebsführung. Denn er habe den elterlichen Betrieb mindestens seit 1938 nach seinem Ermessen bewirtschaftet, indem er die für dessen Bestand und Fortentwicklung notwendigen Entscheidungen aus eigener Verantwortung getroffen habe. Dem stehe nicht entgegen, daß er gelegentlich vorher mit seinem Vater Rücksprache genommen und dessen Wünsche berücksichtigt habe. Entscheidend sei, daß die Initiativen in der Betriebsführung von ihm ausgegangen und auch von ihn in die Tat umgesetzt worden seien. Obwohl er den Betrieb nicht zu Eigentum erworben gehabt habe, sei dieser mindestens seit 1938 zu seiner Existenzgrundlage geworden. Ohne diesen Betrieb sei der Kläger nicht wirtschaftlich gesichert gewesen. Es sei ihm deshalb mindestens seit 1938 nicht anders gegangen als Unternehmern im eigentlichen Sinn, die durch ihre Betriebe wirtschaftlich gesichert gewesen seien. Er habe bereits „im Vorfeld der absoluten Selbständigkeit” gestanden. Deshalb zahle er zu den von Art, 2 § 52 Ab. 1 Satz 2 ArVNG erfaßten Personen mit der Folge, daß er befugt sei, Beiträge nachzuentrichten, und Anspruch darauf habe daß ihm die Beklagte ein entsprechend den nachentrichteten Beiträgen höheres Altersruhegeld gewähre.

Mit der – zugelassenen – Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Art. 2 § 52 Abs. 1 ArVNG. Sie macht geltend, der zwar als Erbe des elterlichen Hofes vorgesehene, als solcher jedoch noch nicht eingesetzt gewesene Kläger sei nicht selbständig erwerbstätig gewesen. Er habe vielmehr praktisch wie ein landwirtschaftlicher Verwalter gearbeitet, der bei seinem Arbeitgeber volles Vertrauen genießt und deshalb weitgehend freie Hand in der Wirtschaftsführung hat.

Die Beklagte beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er macht sich die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils zu eigen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger ist nicht berechtigt, Rentenversicherungsbeiträge nachzuentrichten.

Zu Unrecht hat das LSG angenommen, der Kläger sei deshalb zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 52 Abs. 1 Satz 2 ArVNG berechtigt, weil er bereits „im Vorfeld der absoluten Selbständigkeit” gestanden habe. Nach der genannten Vorschrift können nur Vertriebene im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes und Evakuierte im Sinne des Bundesevakuiertengesetzes, die vor der Vertreibung, der Flucht oder der Evakuierung als Selbständige erwerbstätig waren und binnen drei Jahren nach der Vertreibung, der Flucht oder der Evakuierung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben, für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück Rentenversicherungsbeiträge nachentrichten. Schon der Wortlaut dieser Vorschrift läßt erkennen, daß zu dem von ihr erfaßten Personenkreis nur selbständig Erwerbstätige gehören. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Da frühere selbständig erwerbstätige Personen in der sozialen Rentenversicherung regelmäßig nicht pflichtversichert waren, fehlte diesen Personen bei dem – aus welchen Gründen auch immer eintretenden Verlust ihrer Existenzgrundlage eine Absicherung für Alter, Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. Hier sollte durch die Schaffung des Nachentrichtungsrechts dann geholfen werden wenn der Verlust der Existenzgrundlage infolge Vertreibung, Flucht oder Evakuierung eingetreten war. Durch das Recht, in gewissem Umfang Rentenversicherungsbeiträge nachzuentrichten, soll den früheren Selbständigen, die durch Vertreibung, Flucht oder Evakuierung ihre unabhängige Erwerbstätigkeit und die darin begründete wirtschaftliche Sicherung verloren haben, nachträglich der Schutz der sozialen Rentenversicherung verschafft und die Möglichkeit gegeben werden, eine wenigstens in etwa auskömmliche Alterssicherung zu erzielen (BSGE 15, 203, 204 = SozR Nr. 2 zu Art. 2 § 52 ArVNG; BSGE 21, 193, 197 = SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 52 ArVNG).

Unter einem Selbständigen wird aber auch im Sozialversicherungsrecht nur derjenige verstanden, der im eigenen Namen und auf eigene Rechnung erwerbstätig ist. Das setzt voraus daß er die erforderlichen Willensentscheidungen wirtschaftlich eigenverantwortlich und in persönlicher Unabhängigkeit also nicht weisungsgebunden, trifft. Auch muß ihm das Verfügungsrecht über die notwendigen Betriebseinrichtungen und Betriebsmittel zustehen. Er muß Gewinn erzielen und das Risiko seiner Tätigkeit selbst tragen. Es muß ihm also das wirtschaftliche Ergebnis dieser Tätigkeit unmittelbar zum Vorteil und zum Nachteil gereichen. Er muß die Einnahmen aus seiner Tätigkeit erhalten und für die durch diese Tätigkeit entstehenden Verluste aufzukommen haben (BSGE 14, 142, 145; 16, 56, 59; BSG, Urteil vom 26. Januar 1972 – 10 RV 216/70 – BVBl 1972, 46).

Diese Voraussetzungen waren beim Kläger während seiner vor dem Krieg auf dem elterlichen Hof in Ostpreußen ausgeübten Tätigkeit nicht gegeben. Nach den unangefochtenen und insoweit für das Revisionsgericht (§ 163 SGG) bindenden Feststellungen des LSG führte der Kläger den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern weder im eigenen Namen noch auf eigene Rechnung. Er trug weder das Betriebsrisiko noch die Betriebskosten und hatte auch nicht das Verfügungsrecht über die Betriebseinrichtungen und Betriebsmittel. Dieses Verfügungsrecht stand vielmehr seinen Eltern zu, die auch bis zuletzt die Einnahmen aus dem Betrieb erhielten. Der Kläger hatte lediglich eine weitgehende Einwirkungsmöglichkeit auf die Betriebsführung. Auch wenn Rücksprachen zwischen ihm und seinem Väter – wie das LSG festgestellt hat – nur „gelegentlich” erfolgt sind, ergibt sich daraus, daß er bei der Bewirtschaftung des elterlichen Betriebes keineswegs persönlich unabhängig war und die erforderlichen Willensentscheidungen deshalb nicht unbeschränkt wirtschaftlich eigenverantwortlich treffen konnte. Das zeigt sich auch darin, daß der Kläger – wie das Berufungsgericht ebenfalls festgestellt hat – die bei derartigen Rücksprachen geäußerten Wünsche seines Vaters berücksichtigt hat. Das LSG ist nach alledem zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger bei der Bewirtschaftung des elterlichen Betriebes allenfalls „im Vorfeld der absoluten Selbständigkeit” gestanden hat. Das Berufungsgericht meint aber zu Unrecht, für die Frage, ob der Kläger damals als „Selbständiger” erwerbstätig war, sei entscheidend darauf abzustellen, daß die Initiativen der Betriebsführung von ihm ausgingen und auch von ihm in die Tat umgesetzt wurden. Das jedoch muß schon von jedem guten Verwalter eines landwirtschaftlichen Betriebes verlangt werden. Der Beklagten ist mithin in der Auffassung beizutreten, der Kläger habe auf dem elterlichen Hof seinerzeit praktisch lediglich wie ein Verwalter gearbeitet, der bei seinem Arbeitgeber volles Vertrauen genießt und deshalb weitgehend freie Hand in der Betriebsführung hat. Nach der von ihm auf dem Hof seiner Eltern ausgeübten Tätigkeit war der Kläger kein selbständig Erwerbstätiger. Für eine Nachentrichtung von Beiträgen fehlt es daher an der gesetzlichen Grundlage.

Art. 2 § 52 Abs. 1 ArVNG kann auch auf den Kläger als mithelfenden Familienangehörigen in der Landwirtschaft seiner Eltern nicht entsprechend angewendet worden. Dem steht der Wille des Gesetzgebers, wie er in der Entstehungsgeschichte und im Gesetz selbst zum Ausdruck gekommen ist, entgegen. Schon im ersten Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten vom 5. Juni 1956 (BT-Drucks. II/2437 S. 33) war in der dem heutigen Art. 2 § 52 Abs. 1 ArVNG entsprechenden Regelung in Art. 1 § 1418 Abs. 3 ausdrücklich nur von den Personen die Rede, die „als Selbständige erwerbstätig waren”. In der amtlichen Begründung (BT-Drucks. II/2437 S. 86) wird ausdrücklich davon gesprochen, daß durch die vorgesehene Regelung es den Evakuierten und den Vertriebenen, „die erst nach der Evakuierung oder Vertreibung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben oder aufnehmen, ermöglicht werden (soll), sich und ihren Hinterbliebenen noch ausreichende Renten zu sichern”. Auch der Bundesrat ging in seiner Stellungnahme von 15. Juni 1956 (BT-zu Drucks. II/2437 S. 12) davon aus, daß von der beabsichtigten Regelung nur Personen erfaßt werden sollten, „die, ohne Heimatvertriebene oder Evakuierte zu sein, infolge Kriegseinwirkung ihre Selbständigkeit aufgeben mußten”. Insoweit ist diese Auffassung auch noch einmal, in einer weiteren Stellungnahme der Bundesregierung vom 21. Juni 1956 (BT-zu Drucks. II/2437 S. 22) bekräftigt worden. Dort heißt es nämlich, der Regierungsentwurf wolle nur die Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Evakuierten berücksichtigen und damit bewußt nur jene Personen aus dem Kreis der Kriegsbeschädigten, „die nicht nur geschädigt, sondern auch gezwungen waren, sich anstelle der verlorenen Selbständigen – Existenz eine neue Lebensgrundlage außerhalb ihres bisherigen heimatlichen Wirkungskreises in einer abhängigen Beschäftigung (als Arbeiter oder Angestellter) zu schaffen”.

Aber nicht nur aus der Entstehungsgeschichte, sondern auch aus dem Zusammenhang des Gesetzes selbst läßt sich erkennen, daß der insoweit seit dem ersten Regierungsentwurf unverändert gebliebene, in das Gesetz übernommene Wortlaut des Art. 2 § 52 Abs. 1 ArVNG nicht auch auf mithelfende Familienangehörige – wie den Kläger – in der Landwirtschaft entsprechend angewendet werden soll. Mit den hinter Art. 2 § 52 ArVNG durch das Agrarsoziale Ergänzungsgesetz vom 21. Dezember 1970 (BGBl I 1774) eingefügten Regelungen über das Nachentrichtungsrecht für landwirtschaftliche Unternehmer (Art. 2 § 52 a ArVNG) und für mitarbeitende Familienangehörige in der Landwirtschaft (Art. 2 § 52 b ArVNG) hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, daß ihm das Problem der Sicherung von aus der Landwirtschaft ausgeschiedenen mithelfenden Familienangehörigen, die bisher in der Rentenversicherung nicht pflichtversichert waren, bekannt ist, Wenn er es daher unterlassen hat, eine besondere Regelung für die vertriebenen mithelfenden Familienangehörigen in Ergänzung des Art. 2 § 52 ArVNG zu schaffen, so ist daraus der Schluß zu ziehen, daß der Gesetzgeber insoweit über die bisherige Regelung des Art. 2 § 52 ArVNG nicht hinausgehen wollte. Aus § 1227 Abs. 1 Nr. 9 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ergibt sich darüber hinaus, daß im Sozialversicherungsrecht auch gegenwärtig selbständige und unselbständige Erwerbstätige nicht gleichzusetzen sind. Diese Vorschrift ist erst durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) geschaffen worden. Sie unterscheidet zwischen selbständig und unselbständig Erwerbstätigen. Sie ermöglicht den freiwilligen Beitritt zur Rentenversicherung nur solchen Personen, die nicht nach den Nrn. 1 bis 7 des § 1227 Abs. 1 RVO versicherungspflichtig sind und nicht nur vorübergehend „eine selbstständige Erwerbstätigkeit” ausüben. Neben der Entstehungsgeschichte ergibt sich somit auch aus den Zusammenhang des Gesetzes der für die Gerichte bindende Wille, daß selbständige und unselbständige Erwerbstätige in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht gleichgesetzt werden dürfen.

Die Beklagte hat es daher zu Recht abgelehnt, dem Kläger die Nachentrichtung von Beiträgen zu gestatten. Die Revision der Beklagten muß deshalb Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 152

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