Leitsatz (amtlich)

Entschädigungsansprüche wegen nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen, die gegenüber einem Kriegsdienstleistenden aus Gründen seiner Rasse und nicht wegen militärischen Widerstands gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft getroffen worden sind, können nur nach dem BEG, nicht nach dem BVG geltend gemacht werden (Abgrenzung von BSG vom 25.5.1960 11 RV 812/58 = BSGE 12, 175 = SozR Nr 47 zu § 1 BVG).

 

Orientierungssatz

Gegen das Urteil ist Verfassungsbeschwerde beim BVerfG unter dem Az: 1 BvR 205/88 anhängig.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs 1; BVG § 1 Abs 2 Buchst d; BEG § 1 Abs 1, §§ 2, 8 Abs 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 28.08.1986; Aktenzeichen L 5 V 1361/83)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 25.10.1983; Aktenzeichen S 15 V 1026/82)

 

Tatbestand

Umstritten sind die Anerkennung einer schweren Neurose mit stark ausgeprägten depressiven Zügen und erheblichen sozialen Kontaktschwierigkeiten als Schädigungsfolge sowie die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH.

Der 1917 geborene Kläger, der 1936 sein Abitur bestand und nach der Rassengesetzgebung des Dritten Reiches als "Mischling zweiten Grades" galt (ein Großvater war Jude), wurde nach Absolvierung des halbjährigen Reichsarbeitsdienstes (RAD) im November 1938 zur Deutschen Wehrmacht eingezogen, der er bis zu seiner Gefangennahme durch britische Truppen im März 1945 angehörte. Nach dem Krieg erhielt er für Schaden in der Ausbildung eine Kapitalentschädigung in Höhe von 10.000 DM. Sein Antrag auf Entschädigung für Schaden an Körper und Gesundheit blieb wegen Versäumung der Antragsfrist nach §§ 189, 189a Bundesentschädigungsgesetz (BEG) in allen Instanzen erfolglos (Urteil des BGH vom 7. Februar 1980 IX ZR 45/76). Im März 1982 stellte er Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit der Begründung, die bei ihm vorliegenden psychischen und psychosomatischen Gesundheitsstörungen seien auf Schädigungen nach diesem Gesetz zurückzuführen; er sei während seiner RAD- und Wehrdienstzeit wegen seiner Abstammungsverhältnisse in unerträglicher Weise diskriminiert worden; die schädigungsbedingte MdE sei mit mindestens 50 vH zu bewerten. Zur Stützung seines Antrages verwies der Kläger ua auf ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. A vom 22. Januar 1981, in dem sein Leiden auf die Diskriminierungen während des RAD und des Wehrdienstes zurückgeführt wird.

Das Versorgungsamt lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 16. September 1982; Widerspruchsbescheid vom 29. November 1982). Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 25. Oktober 1983 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 28. August 1986). Nach Auffassung des Berufungsgerichts sind die Mißachtung und die Zurücksetzung, denen der Kläger im RAD und im Wehrdienst ausgesetzt war, keine Schädigung iS des § 1 BVG. Keiner der Schädigungstatbestände dieser Vorschrift sei erfüllt. Was ihm während des militärischen oder militärähnlichen Dienstes angetan worden sei, seien allenfalls Verfolgungsmaßnahmen, also Folgen der Rassenpolitik, nicht Folgen der dem militärischen oder militärähnlichen Dienst eigentümlichen Verhältnisse.

Der Kläger rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision unrichtige Anwendung des § 1 Abs 1 und 2 Buchst d BVG. Seine auf den Nürnberger Gesetzen beruhende Verwendungsbeschränkung sei militärisch zweckbedingt gewesen und deshalb als wehrdiensteigentümlich anzusehen. Darüber hinaus habe sie offensichtliches Unrecht beinhaltet und eine mit dem militärischen Dienst zusammenhängende Zwangsmaßnahme dargestellt. Unschädlich sei, daß auch der Tatbestand des § 1 - BEG - erfüllt sei. Ansprüche aus BEG und BVG schlössen einander nicht aus.

Der Kläger beantragt, die Urteile des Hessischen LSG vom 28. August 1986 und des SG Frankfurt aM vom 25. Oktober 1983 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 16. September 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 1982 zu verurteilen, ihm ab 1. März 1982 Beschädigtenversorgung nach einer MdE von 50 vH zu gewähren.

Der Beklagte beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß sich aus dem Vortrag des Klägers ergibt, daß er in der Zeit seines militärischen und militärähnlichen Dienstes Verfolgungsmaßnahmen iS des § 1 Abs 1 und des § 2 BEG ausgesetzt war und daß keine Schädigung iS des § 1 BVG vorliegt.

Allerdings hat das LSG nicht ausdrücklich gesagt, daß eine Schädigung iS des § 1 BVG schon deshalb ausscheidet, weil die behauptete Schadenszufügung eine Verfolgungsmaßnahme war, und es deshalb rechtlich ausgeschlossen ist, Entschädigung nach § 1 BVG zu verlangen. Es hat vielmehr, ohne auf das Verhältnis von § 1 BEG und § 1 BVG näher einzugehen, im einzelnen dargelegt, daß der Zusammenhang der Schädigung des Klägers mit dem Militär- und militärähnlichen Dienst nur zeitlicher Art gewesen sei. Die Diskriminierungen seien nach dem eigenen Vortrag des Klägers aus rassischen Gründen geschehen. Ein Zusammenhang sachlicher Art zum Militär- und militärähnlichen Dienst bestehe nicht.

Der Kläger geht deshalb in seiner Revision von der Voraussetzung aus, daß es das LSG für rechtlich möglich gehalten habe, daß eine Verfolgungsmaßnahme nach § 1 Abs 1 und § 2 BEG zugleich eine "Militärmaßnahme" nach § 1 BVG sein könne. Er meint, ihm sei Beschädigtenversorgung zuzusprechen, weil das LSG hätte erkennen müssen, daß die Verfolgungsmaßnahmen in seinem Fall tatsächlich zugleich Militärmaßnahmen gewesen seien. Das LSG habe zu Unrecht außer acht gelassen, daß die Verfolgung beim Militär eine andere Qualität gehabt habe als im Zivilleben. Er sei als ein wegen seiner Rasse benachteiligter Deutscher beim Militär aus militärischen Gründen besonders diskriminiert worden. Es seien militärische Erwägungen gewesen, ihn beim Militär nicht zu befördern und ihn daran zu hindern, wie alle anderen Medizinstudenten in einer Sanitätsabteilung Dienst zu tun. Der Zusammenhang der Schadenszufügung mit dem Militär- und militärähnlichen Dienst sei deshalb durchaus sachlicher, nicht nur zeitlicher Art.

Die Revision geht damit aber von einer falschen Voraussetzung aus. § 8 Abs 1 BEG sagt nämlich ausdrücklich, daß Ansprüche gegen das Deutsche Reich, die Bundesrepublik und die deutschen Länder "nur nach diesem Gesetz geltend gemacht werden (können), wenn sie darauf beruhen, daß durch Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 oder aus dem Grunde des § 167 Abs 1 getroffen worden sind, Schaden entstanden ist".

Damit unterstellt das Gesetz, daß es Verfolgungsmaßnahmen gibt, die so geartet sind, daß sie zugleich die Voraussetzungen nach anderen Entschädigungsgesetzen erfüllen. Das Gesetz erübrigt aber die Prüfung, ob dies im Einzelfall so ist, wenn das Deutsche Reich, die Bundesrepublik oder die deutschen Länder Anspruchsgegner sind. Weitere Voraussetzung dafür, daß diese Prüfung unterlassen wird, ist, daß es sich jedenfalls um Maßnahmen aus Verfolgungsgründen handelt. Das ist hier nach dem eigenen Vortrag des Klägers der Fall.

Der Hinweis auf das Urteil des BSG vom 25. Mai 1960 (BSGE 12, 175) stützt die Auffassung der Revision nicht. In diesem Urteil ist im Gegenteil ausgeführt (S 178), daß Ansprüche nur nach dem BEG geltend gemacht werden dürfen, wenn sie auf den Verfolgungsgründen dieses Gesetzes beruhen. Zu entscheiden war damals über einen Anspruch, der nicht auf den Verfolgungsgründen des BEG sondern auf den Reaktionen des Staates auf eine Widerstandshandlung innerhalb des Wehrdienstes mit militärischen Mitteln nach § 1 Abs 2 Nr 1 BEG beruhte. Damals ist klargestellt worden, daß § 8 Abs 1 BEG nur solche Ansprüche ausschließt, die auf Verfolgungsgründe gestützt werden, und daß Verfolgungsgründe in § 1 Abs 1 BEG, nicht aber in § 1 Abs 2 Nr 1 BEG, aufgeführt sind. Handelt es sich, wie damals, um Maßnahmen nach dem § 1 Abs 2 Nr 1 BEG, so ist § 8 Abs 1 BEG nicht anzuwenden und die Prüfung geboten, ob eine Verfolgungsmaßnahme etwa zugleich eine Maßnahme nach § 1 BVG ist. Die Maßnahmen, wie sie im gegenwärtigen Fall geschildert werden, beruhen aber nach dem Vortrag des Klägers auf Verfolgungsgründen iS des § 1 Abs 1 BEG, und Anspruchsgegner ist, wie im Kriegsopferrecht, ein Land. Eine Prüfung, ob die Verfolgungsmaßnahmen tatsächlich zugleich eine Schädigung nach § 1 BVG bewirkten, hat somit nach § 8 Abs 1 BEG nicht stattzufinden.

Im gegenwärtigen Fall könnte allenfalls geprüft werden, ob § 8 Abs 1 BEG auch dann eingreift, wenn feststeht, daß der Anspruch nach dem BEG wegen Fristablaufes nicht mehr zu verwirklichen ist. Eine solche Auslegung des § 8 Abs 1 BEG wäre aber mit dem Wortlaut und dem Sinn dieser Vorschrift nicht vereinbar. § 8 Abs 1 BEG setzt nicht voraus, daß ein Anspruch nach dem BEG besteht, sondern sagt, daß ein Anspruch nur nach BEG "geltend gemacht" werden kann, wenn er auf Verfolgungsgründen beruht. Das gilt auch dann, wenn er, obwohl nur Verfolgungsgründe in Betracht kommen, erfolglos nach dem BEG geltend gemacht worden ist. Einzuräumen ist allerdings, daß es unbefriedigend erscheint, daß es zu Lasten der Verfolgungsopfer, nicht mehr aber für die Kriegsopfer (Aufhebung der entsprechenden Frist durch das Erste Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 - BGBl I 453 -) eine Ausschlußfrist gibt. Ob diese Schlechterstellung der Verfolgungsopfer mit dem Gleichheitsgrundsatz und mit dem Sozialstaatsprinzip zu vereinbaren ist, ist aber durch die Entschädigungsgerichte, nicht durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu prüfen. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Fristvorschriften des BEG hat der BGH in dem oa Urteil auch schon Stellung genommen. Auch die Entscheidung darüber, ob den Fristvorschriften des BEG von ihrer rechtsethischen und sozialen Funktion her Grenzen gesetzt sind, wie das der Große Senat des BSG zu den inzwischen aufgehobenen entsprechenden Fristvorschriften des BVG entschieden hat (BSGE 14, 246, 249), ist Sache der Entschädigungsgerichte (vgl dazu Nipperdey, NJW 1962, 321, Pentz, NJW (RzW) 1962, 289 und neuerdings noch Zorn, Erläuterungen zu § 189 BEG im "Deutschen Bundesrecht" 520. Aufl Juni 1984).

Die Kostenentscheidung leitet sich aus § 193 SGG ab.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657610

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