Leitsatz (amtlich)

Durch die Zustellung einer Urteilsausfertigung an die Beteiligten eines sozialgerichtlichen Verfahrens, auf der die Wiedergabe der Unterschrift des Kammervorsitzenden fehlt, der an dem Urteil mitgewirkt hat, wird die Berufungsfrist nicht in Lauf gesetzt.

 

Normenkette

SGG § 63 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 134 Fassung: 1953-09-03, § 135 Fassung: 1953-09-03, § 151 Abs 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 22.04.1980; Aktenzeichen L 3 U 13/79)

SG Regensburg (Entscheidung vom 08.11.1978; Aktenzeichen S 4 U 122/77)

 

Tatbestand

Die Beklagte lehnte das Begehren des Klägers ab, ihm wegen der am 10. September 1976 bei der Arbeit an einer Fräsmaschine erlittenen Verletzungen der Finger der linken Hand Entschädigungsleistungen zu gewähren (Bescheid vom 25. November 1976 und Widerspruchsbescheid vom 28. April 1977). Die Klage vor dem Sozialgericht (SG) Regensburg ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 8. November 1978). Dagegen hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mit einem am 8. Januar 1979 bei dem SG eingegangenen Schriftsatz vom 3. Januar 1979 Berufung eingelegt. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 22. April 1980). Zur Begründung hat es ausgeführt: Nach dem von dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers bestätigten Empfang des erstinstanzlichen Urteils am 8. Dezember 1978 wäre die Berufung am 8. Januar 1979 rechtzeitig eingelegt worden. Jedoch sei die Zustellung des Urteils des SG schon zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt, so daß das Rechtsmittel verspätet eingelegt worden sei. Bei Zustellung gegen Empfangsbekenntnis genüge zwar als Nachweis der Zustellung das mit Datum und Unterschrift versehene Empfangsbekenntnis (§ 63 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm § 5 Abs 2 Verwaltungszustellungsgesetz -VwZG-). Jedoch begründe der Inhalt des Empfangsbekenntnisses keine unwiderlegbare Vermutung über den Zeitpunkt der Zustellung. Aufgrund der Akten und der vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 22.April 1980 abgegebenen Erklärung sei erwiesen, daß das erstinstanzliche Urteil dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers bereits vor dem 8. Dezember 1978 zugestellt worden sei. Die Urteilsausfertigungen für beide Beteiligte seien am 16. November 1978 an die Beteiligten abgesandt worden. Der Beklagten sei das Urteil am 20. November 1978 zugestellt worden. Da Verzögerungen für die Zustellung des Urteils an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers nicht erkennbar und auch nicht geltend gemacht worden seien, bestehe kein Zweifel, daß die Urteilsausfertigung alsbald nach dem 16.November 1978 in der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten des Klägers eingegangen sei. Nach der Erklärung des Prozeßbevollmächtigten sei ihm das Urteil mit den Akten unverzüglich vorgelegt worden, wobei er, wie es bei seiner Arbeitsweise üblich sei, das Urteil mit den Akten zurückgelegt habe, um es bei nächster Gelegenheit zu bearbeiten, dh sich über den Inhalt des Urteils und die zu unternehmenden Schritte klar zu werden. Das Empfangsbekenntnis habe er erst am Tage der Bearbeitung, also am 8. Dezember 1978, ausgefüllt. Da der Prozeßbevollmächtigte des Klägers bei der erstmaligen Vorlage des Urteils von dessen Zugang Kenntnis genommen habe, sei damit die Zustellung bewirkt worden. Der genaue Tag der Zustellung lasse sich zwar, da die Urteilsausfertigung nicht mit einem Eingangsstempel der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten des Klägers versehen worden sei, nicht genau feststellen. Nach den gegebenen Umständen sei dies jedoch auf jeden Fall vor dem 8. Dezember 1978 gewesen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, daß die Berufung verspätet eingelegt worden sei. Die Berufungsfrist habe noch gar nicht zu laufen begonnen, da die ihm zugestellte Urteilsausfertigung keine richterliche Unterschrift enthalte und daher die Berufungsfrist nicht habe in Gang gesetzt werden können. In der Sache selbst habe das LSG bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs das Gesetz verletzt. Insoweit beziehe er sich auf den Vortrag in der Berufungsbegründung vom 26. April 1979.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des SG Regensburg vom 8. November 1978

und das Urteil des Bayerischen LSG vom 22.April 1980

sowie den Bescheid der Beklagten vom 25.November 1976

in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom

28. April 1977 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Folgen

des Unfalls vom 10. September 1976 die gesetzliche

Entschädigung zu zahlen,

3. die Beklagte zu verurteilen, ihm seine gesamten zur

zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen

Aufwendungen zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

1. das Urteil des Bayerischen LSG vom 22. April 1980

aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung

und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,

2. zu entscheiden, daß der Kläger die Kosten des

Revisionsverfahrens zu tragen habe.

Sie trägt vor, daß die ihr zugestellte Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils gleichfalls nicht erkennen lasse, ob das Urteil von einem hauptamtlichen Richter unterzeichnet ist. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RG) und des Bundesgerichtshofes (BGH), die auch auf den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit zu übertragen sei, müssen auf der Ausfertigung die Unterschriften der Richter so wiedergegeben werden, daß über ihre Identität kein Zweifel aufkommen könne. Die Zustellung einer fehlerhaften Ausfertigung könne die Berufungsfrist nicht in Lauf setzen. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hätte bereits in der Berufungsbegründung die Fehlerhaftigkeit der zugestellten Urteilsausfertigung geltend machen können, als er durch das LSG zur Stellungnahme über die Fristwahrung aufgefordert worden sei. Die Durchführung des Revisionsverfahrens wäre dann nicht erforderlich gewesen. Es sei daher gerechtfertigt, dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Regensburg vom 11. November 1978 zu Unrecht als verspätet angesehen.

Nach § 151 SGG ist die Berufung bei dem LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen (Abs 1). Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem SG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird (Abs 2 Satz 1). Die Berufung ist von dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers mit dem am 8. Januar 1979 bei dem SG Regensburg eingegangenen Schriftsatz vom 3. Januar 1979 eingelegt worden. Zu diesem Zeitpunkt war die Berufungsfrist noch nicht abgelaufen; sie hatte noch nicht zu laufen begonnen, weil das Urteil des SG dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers nicht wirksam zugestellt worden war.

Nach § 135 SGG ist das Urteil eines SG den Beteiligten zuzustellen; wenn die Beteiligten einen Prozeßbevollmächtigten haben, ist an diesen zuzustellen (§ 73 Abs 3 SGG). Die Zustellung erfolgt gemäß § 63 Abs 2 SGG nach den §§ 2 bis 5 VwZG. Sie besteht nach § 2 VwZG in der Übergabe eines Schriftstückes in Urschrift, Ausfertigung oder beglaubigter Abschrift oder in der Vorlage der Urschrift. Zugestellt wird durch die Post oder durch die Behörde (Abs 1 Satz 1 und 2). Die Behörde hat die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten, auch soweit in bestehenden Rechtsvorschriften eine bestimmte Zustellungsart vorgesehen ist (Abs 2). Das SG hat dem Prozeßbevollmächtigten eine Ausfertigung des Urteils vom 8. November 1978 gegen Empfangsbekenntnis (§ 5 VwZG) zugestellt. Dies war jedoch fehlerhaft; eine wirksame Zustellung lag daher nicht vor.

Die Ausfertigungen des Urteils sind nach § 137 SGG von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu unterschreiben und mit dem Gerichtssiegel in der Form des Prägesiegels zu versehen. Sie erfordern eine wortgetreue Wiedergabe der Urschrift des Urteils. Auch die Unterschriften der Richter müssen mit dem Namen oder zumindest so wiedergegeben werden, daß über ihre Identität kein Zweifel aufkommen kann. Denn für den Zustellungsempfänger muß nachprüfbar sein, ob die Richter, die an der Entscheidung mitgewirkt haben, das Urteil auch unterschrieben haben. Die Unterschriften der Richter sollen ua dafür bürgen, daß die Formel des schriftlichen Urteils mit der verkündeten Entscheidung übereinstimmt. Deshalb ist es für die Beteiligten nicht nur wichtig zu wissen, wer das Urteil unterzeichnet hat, sondern auch, ob es überhaupt unterzeichnet ist. Eine Ausfertigung, der nicht zu entnehmen ist, ob das Urteil von Richtern unterschrieben ist, bietet keine Gewähr dafür, daß sie das Urteil so wiedergibt, wie es tatsächlich gefällt worden ist. Sie kann ebensogut von einem Urteilsentwurf hergestellt worden sein, der gar nicht oder nicht in diesem Umfang zum Urteil geworden ist (BGH LM § 317 ZPO Nr 11; BGH, VersR 1975, 809; BGH NJW 1978, 217; 1980, 1849; BAG NJW 1980, 1871).

Urteile der Sozialgerichte werden nach § 134 SGG vom Vorsitzenden unterschrieben. Der Unterschrift der ehrenamtlichen Richter bedarf es nicht (BSGE 1, 1; Meyer-Ladewig, SGG, § 134 Anm 1; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 134 Anm 1). Die dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers zugestellte Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils vom 8. November 1978 enthält keine Unterschrift des Vorsitzenden. Ihr ist somit nicht zu entnehmen, ob der Vorsitzende das Urteil überhaupt unterschrieben hat. Die zugestellte Urteilsausfertigung ist daher fehlerhaft. Wegen dieses nicht heilbaren Mangels konnte ihre Zustellung die Berufungsfrist (§ 151 Abs 1 iVm § 64 Abs 1 SGG) nicht in Lauf setzen (BGH aaO). Unerheblich ist, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers die Zustellung zunächst als wirksam angesehen hat (BGH NJW 1980, 1849).

Da das erstinstanzliche Urteil nach mündlicher Verhandlung am 8. November 1978 verkündet worden war, konnte der Kläger schon vor der wirksamen Zustellung des Urteils Berufung einlegen (Meyer-Ladewig aaO § 151 Anm 9). Die Berufung ist daher mit Schriftsatz vom 3. Januar 1979 rechtzeitig eingelegt worden. Das LSG hätte über sie sachlich entscheiden müssen. Die Frage, wann dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers die - fehlerhafte - Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils zugestellt worden ist, bedurfte keiner Entscheidung.

In der Sache selbst konnte dem Revisionsbegehren des Klägers nicht entsprochen werden, weil das Urteil des LSG die dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht enthält und das Revisionsgericht diese Feststellungen nicht selbst treffen kann. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1651743

Breith. 1982, 73

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