Entscheidungsstichwort (Thema)

Waisenrentenberechtigtes Kind iS von § 1265 S 2 Nr 3 RVO

 

Orientierungssatz

Zur Begründung einer Geschiedenenwitwenrente iS des § 1265 S 2 RVO genügt es, wenn die geschiedene Ehefrau ein Kind erzieht, dessen Waisenrentenberechtigung nicht aus der Versicherung des geschiedenen Ehemannes abgeleitet ist. Die einschränkende Auffassung, daß nur gemeinsame Kinder der geschiedenen Eheleute den Anspruch auf die Rente begründen könnten, findet weder im Wortlaut noch iS der gesetzlichen Regelung eine Stütze.

 

Normenkette

RVO § 1265 S 2 Nr 3 Fassung: 1975-05-07, § 1267 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.03.1981; Aktenzeichen L 4 J 168/80)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 05.09.1980; Aktenzeichen S 14 J 6/80)

 

Tatbestand

Die im Jahr 1927 geborene Klägerin ist die Mutter des im Mai 1962 geborenen Kindes S., dessen Vaterschaft der Maschinentechniker J. G. S. im Jahr 1962 anerkannte. Dieser bezog später von der Beklagten Rente. Er starb im Jahr 1978; seitdem bezieht S. aus seiner Versicherung Waisenrente.

Im Jahr 1963 heiratete die Klägerin den Metallformer F. F. (Versicherten). Dieser erteilte im Jahr 1965 dem Kind S., das im ehelichen Haushalt lebte, den Familiennamen F.. Er bezog auch Kindergeld für S.. Die Beklagte gewährte ihm für die Zeit von März 1974 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Ehe wurde im Jahr 1976 aus dem Verschulden des Versicherten geschieden. Der Versicherte heiratete nicht wieder. Er starb am 4. Februar 1979.

Die Klägerin, die S. ständig im zunächst ehelichen, später eigenen Haushalt erzog, beantragte im April 1979 bei der Beklagten Rente gemäß § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) nach dem Versicherten. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24. Dezember 1979 ab, ua mit der Begründung, bei S. handele es sich nicht um ein gemeinsames Kind der geschiedenen Eheleute, deshalb seien die Voraussetzungen des § 1265 RVO nicht erfüllt.

Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat mit Urteil vom 5. September 1980 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung von Rente nach § 1265 RVO ab 1. Mai 1977 verurteilt. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihren Rentenanspruch auf die Zeit bis einschließlich Mai 1980 beschränkt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 9. März 1981 die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, S. sei waisenrentenberechtigt iS des § 1265 Satz 2 Nr 3 RVO gewesen, weil er eine Waisenrente zwar nicht aus der Versicherung des F. F., aber aus der seines leiblichen Vaters beziehe.

Mit der Revision trägt die Beklagte vor, § 1265 Satz 2 RVO sei nur dann erfüllt, wenn das Kind waisenrentenberechtigt im Verhältnis zum verstorbenen Versicherten sei. Sie beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Für ihre Ausführungen wird auf den Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 21. August 1981 Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG war zulässig. Denn das SG hat zur unbefristeten Rentenzahlung verurteilt, und die Beklagte hat mit der Berufung die Abweisung der Klage insgesamt beantragt.

Der Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf GeschiedenenWitwenrente beruht auf § 1265 Satz 2 RVO in der am 1. Juli 1975 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061). Nach Satz 1 dieser Vorschrift wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden ... ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte Unterhalt zu leisten hatte oder geleistet hat. Ist eine Witwenrente aus diesen Gründen nicht zu gewähren, so erhält die geschiedene Frau gemäß Satz 2 Rente, 1. wenn eine Unterhaltspflicht wegen ... der Erträgnisse aus ihrer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat und 2. wenn sie im Zeitpunkt der Scheidung ... das 45. Lebensjahr vollendet hatte und 3. solange sie ... mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht ... . Die Vorinstanzen haben ausgeführt, daß alle Voraussetzungen für eine Rente nach § 1265 Satz 2 Nr 1 und 2 RVO vorliegen und daß die Klägerin in dem jetzt noch streitigen Zeitraum bis Mai 1980 das Kind S. erzogen hat. Die Revision bezweifelt das nicht. Der Streit geht allein darum, ob S. ein waisenrentenberechtigtes Kind iS der Nr 3 aa0 war. Das ist jedoch mit den Vorinstanzen zu bejahen, denn das Kind S. war waisenrentenberechtigt.

Diese Berechtigung bestand auch im Verhältnis zu dem Versicherten. Die Voraussetzungen des § 1267 Abs 1 Satz 1 RVO lagen vor. S. war ein Kind des Versicherten iS des § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO, nämlich ein Stiefkind - ein "eingebrachtes" nichteheliches Kind der Ehefrau - (zu dem Begriff Stiefkind vgl das Urteil des Senats BSGE 44, 147 = SozR 2200 § 1262 Nr 10). Er war auch in den Haushalt des Versicherten aufgenommen worden und lebte bis zur Scheidung im ehelichen Haushalt des Versicherten. Das hat das LSG festgestellt. Die Beklagte hat zwar in der Revisionsbegründung behauptet, daß S. im letzten Jahr vor der Scheidung nicht mehr im Haushalt des Versicherten gelebt habe, sie hat indessen die Feststellung des LSG nicht mit einer zulässigen Revisionsrüge angegriffen. Das Revisionsgericht muß deshalb von der Feststellung ausgehen. Damit sind die versicherungsmäßigen Voraussetzungen des § 1267 Abs 1 Satz 1 RVO erfüllt und das Kind S. wäre - den Tod des Versicherten unterstellt - waisenrentenberechtigt gewesen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung genügt jedoch, um den Anspruch der Klägerin auf Rente nach § 1265 Satz 2 RVO zu begründen, ein tatsächlicher Bezug von Waisenrente ist dafür nicht erforderlich (vgl BSG, Urteil vom 19. August 1976 - 11 RA 110/75 = BSGE 42, 156; vom 5. November 1980 - 4 RJ 97/79 = BSGE 50, 271; vom 26. November 1981 - 4 RJ 127/80 = SozR 2200, Nr 60 zu § 1265).

Ob der Versicherte das Kind S. unterhalten hat, kann dahinstehen. Wenn sogar bei den in den Haushalt des Versicherten aufgenommenen Pflegekindern die Leistung des überwiegenden Unterhalts durch den Versicherten nicht Tatbestandsvoraussetzung ist (§ 1267 Abs 1 Satz 1 RVO), können für Pflegekinder keine strengeren Anforderungen gelten (vgl das Urteil des Senats BSGE 45, 67 = SozR 2200 § 1262 Nr 11).

Daß der Erzeuger des Kindes S. für dieses einen Kinderzuschuß zur Rente erhielt, hindert den Anspruch des Kindes auf Waisenrente aus der Versicherung seines Stiefvaters nicht; denn die Waisenrente geht vor (§ 1262 Abs 1 Satz 2 Nr 2 RVO). Auch der Umstand, daß S. seit dem Tod seines Erzeugers Waisenrente aus dessen Versicherung bezog, betrifft den Anspruch des Kindes auf Waisenrente nach dem Stiefvater dem Grunde nach nicht; allerdings müßte die niedrigere Rente ruhen (§ 1280 Abs 2 RVO).

Aber selbst wenn das Kind nicht waisenrentenberechtigt im Verhältnis zu seinem versicherten Stiefvater gewesen wäre, würde zur Erfüllung des Tatbestandes des § 1265 Satz 2 Nr 3 RVO der Umstand genügen, daß es - wie sich aus dem tatsächlichen Waisenrentenbezug ergibt - waisenrentenberechtigt im Verhältnis zu einer anderen Person, hier seinem Erzeuger, war.

Das LSG hat zutreffend ausgeführt, daß der Wortlaut des Gesetzes keinen Anhalt dafür bietet, nur diejenige Berechtigung auf Waisenrente als anspruchsbegründend anzusehen, die aus dem Versicherungsverhältnis des geschiedenen Ehemannes abgeleitet ist. Diese Auslegung des § 1265 Satz 2 Nr 3 RVO entspricht nicht nur dem Gesetzestext, sondern auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Ziel des Gesetzes ist der Schutz derjenigen Frauen, von denen wegen Erziehung eines minderjährigen Kindes, das in einer - irgendeiner - Beziehung zur Rentenversicherung steht, eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Dazu kommt noch folgende Erwägung: Das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061) hat in § 1265 Satz 2 Nr 3 RVO die Worte "oder für ein Kind, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhält, sorgt" eingefügt. Die Neufassung kann durchaus so verstanden werden, daß (auch) diejenigen behinderten Kinder, die bei Eintritt des Versicherungsfalles (Tod des geschiedenen Versicherten) die Waisenrente schon erhalten, bei der sorgenden Frau die Rente nach § 1265 RVO auslösen. Kinder, die beim Tod des Versicherten die Waisenrente schon erhalten, sind aber in der Regel keine Kinder (§ 1262 Abs 2 RVO) des Versicherten. Die Neufassung deutet deshalb darauf hin, daß der Gesetzgeber schlechthin auf die Erziehung waisenrentenberechtigter Kinder - unabhängig davon, woraus sich der Waisenrentenanspruch herleitet - abstellt.

Die vom erkennenden Senat vertretene Auffassung wird auch im Schrifttum geteilt (vgl Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl, Anm 6 zu § 1268 RVO; Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm I 2 B b zu § 1268; Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. und 3. Aufl, Anm C I 3 zu § 45; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 707 m, Stand: August 1978). Die Entscheidung des Senats vom 26. November 1981 - 4 RJ 127/80 - steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen; in jenem Urteil war die Frage, ob eine versicherungsrechtliche Beziehung des Kindes zu einer anderen Person als den geschiedenen Ehegatten ausreichen würde, ausdrücklich offengelassen worden.

Die Revision der Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660571

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