Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosigkeit und Fürsorgeleistung

 

Orientierungssatz

1. Zur Erfüllung der Voraussetzungen des RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 3 genügt es, wenn ein Versicherter Leistungen der Fürsorge (Sozialhilfe) bezog oder diese Leistungen wegen eigener Einkünfte oder Unterhaltsansprüche nicht zu gewähren waren.

2. Besteht wegen anderweitiger Einkünfte oder Unterhaltsansprüche kein Anspruch auf Fürsorgeleistungen, ist es nicht erforderlich, daß hierüber ein Ablehnungsbescheid erteilt wurde; der Versicherte brauchte nicht einmal einen Antrag auf Fürsorgeleistungen zu stellen.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 3 Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 17.01.1979; Aktenzeichen L 3 J 586/77)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 30.11.1976; Aktenzeichen S 8 J 1501/75)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch um die Anrechnung einer Ausfallzeit der Arbeitslosigkeit des Klägers vom 15. März 1932 bis 30. September 1932 und vom 16. Februar bis 16. März 1933 auf das Altersruhegeld.

Der im Jahre 1909 geborene Kläger war nach Lehre, Fachschulbesuch und Ingenieurprüfung vom 15. März 1932 bis 16. März 1933 unentgeltlich im elektrotechnischen Laboratorium des badischen Staatstechnikums mit konstruktiven und experimentellen Arbeiten beschäftigt, davon in der Zeit vom 1. Oktober 1932 bis 15. Februar 1933 im freiwilligen Arbeitsdienst (FAD). Während der Zeit der Beschäftigung war er beim zuständigen Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und stand dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Am 24. April 1933 emigrierte der Kläger nach Palästina.

Durch Bescheid vom 13. Mai 1975 bewilligte die Landesversicherungsanstalt (LVA) Baden dem Kläger Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Hierbei wurde die streitige Zeit nicht angerechnet. Im Klageverfahren gegen diesen Bescheid trat die LVA Rheinprovinz als Beklagte an die Stelle der LVA Baden. Sie erklärte sich durch Bescheid vom 23. März 1976 als für die Weitergewährung des Altersruhegeldes zuständig und übernahm die Rentenzahlung ab 1. Januar 1976.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. November 1976), das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte zur Anrechnung ua der Zeit vom 15. März 1932 bis März 1933 als Ausfallzeit verurteilt (Urteil vom 17. Januar 1979). Zur Begründung wird ua ausgeführt, während der Ableistung des FAD sei der Kläger arbeitslos im Sinne der damaligen gesetzlichen Vorschriften gewesen. Durch die Arbeitslosigkeit sei eine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen worden. Der FAD sei auch eine "(nicht) unterstützte" Arbeitslosigkeit im Sinne des § 36 Abs 1 Nr 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) gewesen. Unerheblich sei, ob der Kläger auch während der Beschäftigung im Laboratorium außerhalb des FAD Arbeitslosenunterstützung bezogen oder diese wegen Unterhaltsansprüchen gegenüber Verwandten nicht bezogen habe. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Anrechnung der Ausfallzeit seien erfüllt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung zur Anrechnung der streitigen Zeit der Beschäftigung des Klägers im Laboratorium außerhalb des FAD mit der Begründung, er habe während dieser Zeit nicht die in § 1259 Abs 1 Nr 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgeführten Leistungen bezogen, weil die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 95, 96, 101 des Gesetzes über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG aF) nicht erfüllt gewesen seien. Entsprechende Feststellungen seien vom LSG nicht getroffen worden.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg zu ändern

und die Berufung des Klägers gegen das Urteil

des SG Karlsruhe zurückzuweisen, soweit diese

die Anrechnung der Zeiten vom 15. März bis

30. September 1932 und vom 16. Februar bis

März 1933 betrifft.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, die Zeit vom 16. Februar bis 16. März 1933 sei als Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO anzurechnen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen war.

Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur Anrechnung der noch streitigen Zeit als Ausfallzeit nicht aus.

Nach § 1259 Abs 1 Nr 3 RVO genügt die Arbeitslosigkeit allein zur Anrechenbarkeit als Ausfallzeit nicht. Erforderlich ist vielmehr, daß der Versicherte während dieser Zeit die dort aufgeführten Leistungen (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenunterstützung, Arbeitslosenhilfe, Krisenunterstützung, Arbeitslosenfürsorge, Sozialhilfe oder Familienunterstützung) bezogen hat oder diese Leistungen wegen Zusammentreffens mit anderen Einkünften nicht zu beanspruchen hatte. Hierbei ist zumindest zweifelhaft, ob der Kläger während der streitigen Zeit die Anwartschaft für Arbeitslosenunterstützung oder Krisenunterstützung nach dem AVAVG in der damaligen Fassung (RGBl 1929 I S 162) erfüllt hat. Dies wäre der Fall gewesen, wenn der Kläger innerhalb einer - im äußersten Fall dreijährigen - Rahmenfrist vor der Arbeitslosmeldung versicherungspflichtig beschäftigt gewesen wäre (§§ 95, 101 AVAVG). Nach den Feststellungen des LSG endete die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung am 21. März 1928; die Arbeitslosmeldung erfolgte im März 1932. Auf der anderen Seite aber hat der Kläger nach seiner Arbeitslosmeldung freiwilligen Arbeitsdienst geleistet. Nach § 139a AVAVG idF vom 5. Juni 1931 (RGBl I S 279, 295) beschränkte sich die Förderung durch den FAD bis zum 31. Juli 1932 auf Empfänger von Arbeitslosenunterstützung und Krisenunterstützung. Erst ab 1. August 1932 war die Zulassung zum FAD nicht mehr an diese Voraussetzung geknüpft (vgl Koch/Hartmann, AVG § 36 Anm IV, 11). Da der Kläger den FAD erst am 1. Oktober 1932 aufgenommen hatte, kann hieraus nicht mehr geschlossen werden, daß er vorher während der streitigen Zeit vom Arbeitsamt Leistungen (Arbeitslosenunterstützung, Krisenunterstützung) bezogen hatte.

Ein Anspruch auf Familienunterstützung scheidet im vorliegenden Fall aus, weil diese Leistung im Rahmen der Vorschriften des Gesetzes über die Unterstützung der Angehörigen der einberufenen Wehrpflichtigen und Arbeitsdienstpflichtigen vom 30. März 1936 (RGBl I S 327, 329) zu gewähren war. Während der hier streitigen Zeit gab es die Familienunterstützung noch nicht.

Zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 1259 Abs 1 Nr 3 RVO genügt es indessen, wenn der Kläger Leistungen der Fürsorge (Sozialhilfe) bezog oder diese Leistungen wegen eigener Einkünfte oder Unterhaltsansprüche nicht zu gewähren waren. Diese Voraussetzung kann hier erfüllt sein. Im Falle der Hilfebedürftigkeit hätte der Kläger Anspruch auf Unterstützung aus der öffentlichen Fürsorge nach der Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. Februar 1924 (RGBl I S 100) und der Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge vom 4. Dezember 1924 (RGBl I S 765) gehabt. Geht man davon aus, daß der Kläger während der streitigen Zeit weder Arbeitseinkünfte hatte noch Leistungen vom Arbeitsamt bezog, so kann er hilfebedürftig im Sinne des damaligen Fürsorgerechts gewesen sein, es sei denn, daß er andere Einkünfte hatte oder einen Unterhaltsanspruch gegenüber Verwandten hatte. Wenn anderweitige Einkünfte oder Unterhaltsansprüche vorhanden waren und deshalb ein Anspruch auf Fürsorgeleistungen nicht bestand, dann ist es nicht erforderlich, daß der Kläger hierüber einen entsprechenden ablehnenden Bescheid erhalten hat. Im Hinblick auf seine Einkommensverhältnisse brauchte er nicht einmal einen Antrag auf Fürsorgeleistungen stellen (vgl Verbandskommentar zur RVO § 1259 RdNr 16). Selbst wenn man in den meisten Fällen davon ausgehen kann, daß eine der in § 1259 Abs 1 Nr 3 RVO aufgeführten Leistungen entweder bezogen oder nur wegen des Zusammentreffens mit anderen Bezügen nicht bezogen wurde, ist eine andere Konstellation doch - nicht nur theoretisch - denkbar. Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl, Anm 7 c zu § 1259 und Hanow/Lehmann/Bogs Rentenversicherung der Arbeiter, 5. Aufl, Anm F II Rz 25 zu § 1259) führen mehrere Beispiele dafür an, daß eine Zeit der Arbeitslosigkeit, während der der Versicherte keine Leistungen nach § 1259 Abs 1 Nr 3 Buchst a) bis d) RVO bezogen hatte, keine Ausfallzeit ist (Versagung oder Ruhen der Arbeitslosenunterstützung oder des Arbeitslosengeldes bei Arbeitskämpfen). Jedenfalls ist der Rechtssatz des LSG (IV 3 aE der Entscheidungsgründe), es sei unerheblich, ob der Kläger Arbeitslosenunterstützung erhalten oder wegen Unterhaltsansprüchen gegenüber Verwandten nicht bezogen habe, mindestens mißverständlich, da er den Fall, daß der Kläger die Arbeitslosenunterstützung aus anderen Gründen als wegen des Zusammentreffens mit anderen Bezügen, wegen eines Einkommens oder wegen der Berücksichtigung von Vermögen nicht bezogen hat, unerwähnt läßt. Das LSG wird daher zu prüfen haben, aus welchen Gründen der Kläger die in § 1259 Abs 1 Nr 3 RVO erwähnten Leistungen nicht bezogen hat.

Eine Anrechnung der streitigen Zeit als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO kommt dagegen nicht in Betracht. Zutreffend führt das angefochtene Urteil aus, daß eine Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung nicht vorlag.

Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656743

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