Entscheidungsstichwort (Thema)

Verschlossener Teilzeitarbeitsmarkt

 

Orientierungssatz

Gelingt es weder der BA noch dem Rentenversicherungsträger, dem Versicherten - in der Regel innerhalb eines Jahres seit der Stellung des Rentenantrages - einen ihm entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz anzubieten, ist grundsätzlich die Annahme begründet, daß der Teilzeitarbeitsmarkt für ihn praktisch verschlossen ist; die Verschlossenheit steht dann rückwirkend zum Zeitpunkt des Rentenantrages fest. Um die Prüfung der konkreten Arbeitsmarktlage gezielt und zügig durchführen zu können, hat der Rentenversicherungsträger zusammen mit der BA geeignete Verfahren zu entwickeln. Der Versicherte selbst muß nach Kräften mitwirken (RehaAnglG § 4 S 1 und 2); insbesondere hat er sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt beim zuständigen Arbeitsamt als Arbeitsuchender zu melden.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.11.1975; Aktenzeichen L 18 An 155/74)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 11.06.1974; Aktenzeichen S 3 An 150/73)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. November 1975 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ab April 1973 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren ist.

Der 1922 geborene Kläger ist gelernter Kaufmann. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war er vor seinem Wehrdienst als kaufmännischer Angestellter und danach als Dolmetscher tätig; 1952 machte er sich als Gastwirt selbständig. Von Oktober 1964 bis September 1965 sowie von Januar 1966 bis März 1973 war er bei Versicherungsgesellschaften als Schadenssachbearbeiter beschäftigt.

Den im März 1973 gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente lehnte die Beklagte nach Einholung von medizinischen Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem und internistischem Fachgebiet mit Bescheid vom 10. September 1973 ab, weil der Kläger in seinem bisherigen Beruf als kaufmännischer Angestellter noch mindestens halbschichtig tätig sein könne.

Die Vorinstanzen haben die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Urteile vom 11. Juni 1974 und 18. November 1975). Das LSG hat ausgeführt: Wie der vom Sozialgericht gehörte medizinische Sachverständige überzeugend dargelegt habe, könnten dem Kläger typische Tätigkeiten als (kaufmännischer) Angestellter nur noch sechs Stunden täglich abverlangt werden. Mit diesem Leistungsvermögen bekomme er keinen zumutbaren Arbeitsplatz; nach den von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) und den wohnortnahen Arbeitsämtern eingeholten Auskünften sei ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen. Die in den Vierteljahresstatistiken der Arbeitsverwaltung ausgewiesenen Zahlen über teilzeitarbeitsuchende Dienstleistungskaufleute und diesen offenstehende Stellen seien so geringfügig, daß ihnen ein (gegenteiliger) Aussagewert nicht beigemessen werden könne; im übrigen besitze der Kläger als Versicherungsangestellter wohl auch keine speziellen Kenntnisse als Dienstleistungskaufmann anderer Sparten.

Mit der - zugelassenen - Revision hat die Beklagte, unter Hinweis auf den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1976 zur Frage der Teilzeitarbeit, zuletzt nur noch beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); seiner Entscheidung sind neue tatsächliche Feststellungen zugrunde zu legen, die der Senat nicht treffen kann.

Das LSG hat sein Urteil an den Grundsätzen ausgerichtet, die der Große Senat des BSG in den Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 und 192) aufgestellt hatte. Danach war es für die Beurteilung, ob ein Versicherter, der nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, im Sinne von § 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) berufsunfähig ist, erheblich, daß Teilzeitarbeitsplätze für entsprechende Tätigkeiten in bestimmter Anzahl vorhanden waren, seien sie frei oder besetzt; der Arbeitsmarkt war dem Versicherten praktisch verschlossen, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für Teilzeitbeschäftigungen ungünstiger war als 75:100; Verweisungsgebiet war grundsätzlich die gesamte Bundesrepublik Deutschland.

An diesen Entscheidungssätzen hat der Große Senat in seinem auf die Vorlagen mehrerer Senate des BSG hin am 10. Dezember 1976 ergangenen Beschluß (GS 2/75, 3/75, 4/75 und 3/76) nur zum Teil festgehalten. Leitender Grundsatz blieb zwar, es sei erheblich, daß Arbeitsplätze vorhanden sind, auf denen tätig zu sein den Versicherten zuzumuten ist und die er mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann (Entscheidungssatz Nr. 1). Ein Versicherter kann auch nach der neuen Entscheidung (Entscheidungssatz Nr. 2) auf Tätigkeiten nur verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen ist. Der Große Senat hat aber die bisherige Rechtsprechung in der Frage der Beurteilung aufgegeben, wann der Arbeitsmarkt verschlossen ist, weil sich in der Verwaltungspraxis und in der Rechtsprechung inzwischen herausgestellt hat, daß die Zahl der im Verweisungsgebiet in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze und die Zahl der Interessenten - insbesondere ihr zahlenmäßiges Verhältnis zueinander - regelmäßig nicht zu ermitteln sind (Beschluß vom 10. Dezember 1976, S. 17).

Insoweit hat der Große Senat neue Grundsätze unter Heranziehung der Vorschriften über die berufliche Rehabilitation (berufsfördernde Leistungen) im Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (§ 11 Abs. 2 Nr. 1) und im AVG bzw. in der RVO (§§ 13 Abs. 1, 14a AVG; §§ 1236 Abs. 1, 1237a RVO) entwickelt. Sie basieren auf der Verpflichtung (auch) des Rentenversicherungsträgers, Hilfen zur Erlangung oder Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu gewähren; diese Aufgabe verpflichtet ihn zu prüfen, ob dem leistungsgeminderten Rentenbewerber der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Die hierzu erforderlichen Feststellungen sind nach der Auffassung des Großen Senats dabei am ehesten im Zusammenwirken mit dem für den Versicherten zuständigen Arbeitsamt zu treffen. Gelingt es beiden Behörden nicht, dem Versicherten - in der Regel innerhalb eines Jahres seit der Stellung des Rentenantrages - einen ihm entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz anzubieten, ist grundsätzlich die Annahme begründet, daß der Teilzeitarbeitsmarkt für ihn praktisch verschlossen ist; die Verschlossenheit steht dann rückwirkend zum Zeitpunkt des Rentenantrages fest (Großer Senat aaO, S. 20). Um die Prüfung der konkreten Arbeitsmarktlage gezielt und zügig durchführen zu können, wird der Rentenversicherungsträger zusammen mit der BA geeignete Verfahren entwickeln müssen. Der Versicherte selbst hat nach Kräften mitzuwirken (§ 4 Satz 1 und 2 RehaAnglG); insbesondere hat er sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt beim zuständigen Arbeitsamt als Arbeitsuchender zu melden.

Da die erforderliche Prüfung, ob der Teilzeitarbeitsmarkt offen oder verschlossen ist, nach diesen neuen Richtlinien des Großen Senats im hier vorliegenden Fall noch nicht erfolgt ist, ist sie nachzuholen (Großer Senat aaO, S. 24). Dies bedeutet, daß die Beklagte nun - zweckmäßigerweise durch (evtl. formlose) Aussetzung des Verfahrens - Gelegenheit bekommen muß, festzustellen, ob sie gemeinsam mit dem regionalen Arbeitsamt innerhalb eines Jahres dem Kläger einen von ihm ausfüllbaren Arbeitsplatz anbieten kann, es sei denn, der Kläger hätte von sich aus schon seit einem früheren Zeitpunkt beim Arbeitsamt regelmäßig um Arbeit nachgesucht oder es stellen sich sonstige Umstände heraus, die bereits erkennen lassen, daß ihm (auch) in den nächsten zwölf Monaten kein entsprechender Arbeitsplatz angeboten werden kann (Großer Senat aaO, S. 21). Bei diesen Vermittlungsbemühungen ist zu beachten, daß der Große Senat nunmehr das Verweisungsgebiet für alle Teilzeitarbeitsuchenden in der Regel auf den regionalen Arbeitsmarkt beschränkt hat, der durch tägliches Pendeln von der Wohnung aus zu erreichen ist (Großer Senat aaO, S. 25). Je nach dem Ergebnis der Bemühungen wird das LSG Schlüsse darauf zu ziehen haben, ob dem Kläger der Teilzeitarbeitsmarkt schon von der Stellung des Rentenantrages (März 1973) an verschlossen war; während des Verfahrens eingetretene Veränderungen des Gesundheitszustandes können von Bedeutung sein.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652555

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