Leitsatz (amtlich)

1. Die Waisenrente beruht nicht allein auf dem Unterhaltsersatzprinzip; sie dient auch dem Ausgleich der durch den Tod des Beschädigten bei der Waise entstandenen Belastung im persönlich-menschlichen Bereich.

2. Einem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ehelichen Kind, dessen Vater gefallen ist, steht auch dann nur die Halbwaisenrente und nicht die Vollwaisenrente zu, wenn Unterhaltsleistungen der in der DDR lebenden Mutter an Transferschwierigkeiten scheitern.

 

Normenkette

BVG § 38 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28, § 46 Fassung: 1974-08-23, § 47 Abs. 1 Fassung: 1974-08-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 26. März 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der 1943 in K geborene und 1960 aus der DDR in die Bundesrepublik geflohene Kläger leidet unter einer angeborenen körperlichen und intelligenzmäßigen Schwäche. Sein Vater ist im April 1945 gefallen; seine Mutter lebt in L.

Auf den im August 1973 gestellten Versorgungsantrag gewährte das Versorgungsamt K dem Kläger durch Bescheid vom 22. April 1974 ab 1. August 1973 Waisenrente wegen Gebrechlichkeit im Sinne des § 45 Abs. 3 Buchst. c des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in Höhe des einer Halbwaise zustehenden Betrages. Das Widerspruchsbegehren, der Kläger müsse einer Vollwaise gleichgestellt werden, weil eine Unterstützung durch seine Mutter an dem Verhalten der Behörden der DDR scheitere, wies das Landesversorgungsamt S durch Bescheid vom 15. November 1974 zurück.

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Kiel durch Urteil vom 26. Mai 1975 abgewiesen und ausgeführt, die Vollwaiseneigenschaft liege nur vor, wenn beide Elternteile verstorben seien. Es reiche nicht aus, daß die Mutter des Klägers in der DDR lebe und Schwierigkeiten in der Transferierung von Geld und Sachwerten zu ihrem Sohn habe, um den Kläger einer Vollwaise gleichzustellen, solange er gegen seine Mutter noch einen Unterhaltsanspruch habe, dessen Verwirklichung zwar erheblich behindert, aber nicht völlig ausgeschlossen sei.

Der Kläger hat beim SG mit schriftlicher Zustimmung des Beklagten beantragt, die Revision zuzulassen, weil es bei dem unter den Beteiligten unstreitigen Sachverhalt allein um die Rechtsfrage gehe, ob er einer Vollwaise gleichzustellen sei. Der Kammervorsitzende des SG hat dem Antrag mit Beschluß vom 25. Juli 1975 stattgegeben.

Zur Begründung der Revision hat der Kläger auf seinen Zulassungsantrag verwiesen und ausgeführt: "Wir sind der Auffassung, daß der Kläger bei der gegebenen Sachlage als Vollwaise anzusehen ist". Der Kläger ersucht unter Vorlage eines entsprechenden Zeugnisses darum, ihm für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) das Armenrecht zu bewilligen. Zur Sache beantragt er,

unter Aufhebung des Urteils des SG Kiel vom 26. Mai 1975 den Bescheid vom 22. April 1974 und den Widerspruchsbescheid vom 15. November 1974 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, dem Kläger ab 1. August 1973 die Vollwaisenrente zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für zutreffend und die Bezugnahme auf früher gestellte Anträge als zur Revisionsbegründung nicht ausreichend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist gemäß § 164 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht sowie mit schriftlicher Zustimmung des Gegners (§ 161 Abs. 1 Satz 3 SGG) eingelegt worden. Sie ist auch statthaft (§ 161 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Der 2. Senat des BSG hat zwar im Urteil vom 17. Dezember 1975 - 2 RU 77/75 - Bedenken gegen die Zulassung der Sprungrevision durch Beschluß ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter erhoben. Er hat aber die durch Beschluß des Vorsitzenden allein erfolgte Zulassung der Sprungrevision nicht für offensichtlich rechtswidrig und somit als für das Revisionsgericht bindend erachtet. Der erkennende Senat stimmt dieser Erwägung zu.

Die Revision ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Revisionsbegründung äußerst knapp gehalten ist. Nach § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG muß die Begründung einen bestimmten Antrag enthalten und - soweit es sich nicht um die Rüge von Verfahrensmängeln handelt - die verletzte Rechtsnorm bezeichnen. Dieses Erfordernis ist erstmals im Zivilprozeß zur Entlastung des Reichsgerichts eingeführt worden (vgl. Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl. S. 782 zu 3 a) und dann auch in die anderen Prozeßordnungen übernommen worden. Ihr Sinn besteht darin, das Revisionsgericht der Prüfung des angefochtenen Urteils auf jeden denkbaren Normverstoß hin zu entheben und es nur noch mit den von der Revision bezeichneten Gesetzesverletzungen zu befassen. Dem genügt es, wenn aus dem Vorbringen der Revision auch ohne zahlenmäßige Bezeichnung der verletzten Norm erkennbar ist, welche Bestimmung die Revision als verletzt erachtet (vgl. BSG 1, 227; 8, 31). Das trifft hier zu. Der Kläger hat nämlich in Verbindung mit seinem Revisionsantrag, die angefochtenen Bescheide und das angefochtene Urteil aufzuheben und ihm Vollwaisenrente zuzusprechen, erklärt, er sei der Auffassung, daß er bei der gegebenen Sachlage als Vollwaise anzusehen sei. Daraus ist ohne weiteres erkennbar, daß er die Verletzung der §§ 46 und 47 BVG rügen will. Denn nur diese Vorschriften sehen für Halbwaisen und Vollwaisen unterschiedliche Rentenzahlbeträge vor. Die Revisionsbegründung entspricht daher gerade noch den an sie zu stellenden Anforderungen (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, § 164 Anm. 4 auf S. III/80 - 117), so daß es keines Eingehens auf die unter den Beteiligten streitige Frage mehr bedarf, ob zur Revisionsbegründung die Bezugnahme auf den Antrag zulässig ist, mit dem die Zulassung der Sprungrevision herbeigeführt wurde.

Sachlich ist die Revision jedoch nicht begründet. Anspruch auf die Hinterbliebenenrente einer Vollwaise hätte der Kläger nur, wenn er die an diesen Rechtsbegriff zu stellenden Anforderungen erfüllen würde. Das ist indes nicht der Fall.

Die Begriffe der Waise, der Halbwaise und der Vollwaise sind zwar in den §§ 46 und 47 BVG nicht erläutert worden. Aus § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG ergibt sich jedoch, daß der Anspruch auf Waisenrente den Tod des Beschädigten voraussetzt. Da der Beschädigte nur einen Elternteil verkörpert, kann die gesetzliche Unterscheidung in Halb- und Vollwaise nur bedeuten, daß jeweils nur ein Elternteil bzw. beide Elternteile verstorben sind. Dieses Ergebnis hat der 8. Senat des BSG bereits in seinem Urteil vom 19. Februar 1959 - 8 RV 1261/57 - (BSG 9, 165, 167) aus der Rechtsentwicklung hergeleitet; der erkennende Senat hat sich dem im Urteil vom 25. Juni 1959 - 10 RV 732/56 - (BSG 10, 108, 112) angeschlossen. Er hat ausdrücklich betont, daß nach dem BVG ein Kind nur dann Vollwaise ist, wenn der Vater und die Mutter nicht mehr leben. Aus diesem Grunde bietet die vom Kläger mit der Revision beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht die für die Bewilligung des Armenrechts notwendige Erfolgsaussicht (vgl. § 167 SGG i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozeßordnung), so daß der Antrag des Klägers vom 27. Februar 1976, ihm für das Verfahren vor dem BSG das Armenrecht zu bewilligen, abzulehnen ist. Der Senat sieht auch keinen Anlaß, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.

Der Waisenrente liegt zwar der Gedanke zugrunde, die durch den schädigungsbedingten Wegfall des unterhaltspflichtigen Beschädigten erlittenen wirtschaftlichen Einbußen nach Kräften zu ersetzen (vgl. BSG 10, 108, 111). Dieser wesentliche Zweck aller Hinterbliebenenrenten ist jedoch - auch bei der Waisenrente - nicht der alleinige Rechtsgrund ihrer Gewährung. Denn anders ist es nicht zu erklären, daß jedenfalls die Grundrenten der Witwen und Waisen einkommensunabhängig ausgestaltet und damit nicht von einer Bedürftigkeit in finanzieller Hinsicht abhängig gemacht sind, wie es bei einer ausschließlichen Unterhaltsersatzfunktion zu erwarten wäre. Wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Hinterbliebenenrenten und damit auch für die Halb- und die Vollwaisenrente ist somit die im einzelnen nicht wägbare Belastung im menschlichen und persönlichen Bereich, die der Halbwaise aus dem Tod eines Elternteils und der Vollwaise aus dem Tod beider Elternteile entsteht (vgl. Vorberg-van Nuis, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, Teil V S. 19). Sie wird von der Versorgung pauschal - d. h. ohne Orientierung an der Unterhaltsfähigkeit der Elternteile und an der Unterhaltsbedürftigkeit der Waisen - mit abgegolten und kommt wegen der weit stärkeren Belastung der Vollwaisen in ihrer entsprechend höher bemessenen Grundrente zum Ausdruck.

Wollte man, wie die Revision offenbar beabsichtigt, gleichwohl für den Begriff der Waise ausschließlich auf die Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente und die im Einzelfall gegebene Unterhaltsbedürftigkeit abstellen, dann würde schon das Unvermögen eines noch lebenden Elternteils zur Unterhaltsleistung - sei es nun in tatsächlichen oder rechtlichen Umständen begründet - den Anspruch auf Waisenrente auslösen. Folgerichtig müßte dann die Vollwaisenrente auch demjenigen zuerkannt werden, der unterhaltsbedürftig ist und von seinen Eltern keinen Unterhalt zu erlangen vermag, sofern nur ein Elternteil schädigungsbedingt an der Unterhaltsleistung gehindert wäre. Mit der Konzeption der Waisenrente als Hinterbliebenenrente ist es jedoch nicht vereinbar, Halbwaisenrente zu Lebzeiten beider Elternteile und Vollwaisenrente zu Lebzeiten eines Elternteils zu gewähren.

Das BSG hat zwar in einem die Rentenversicherung betreffenden Fall einem unehelichen Kind, dessen Vater nicht festgestellt war, nach dem Tode der versicherten Mutter den Anspruch auf die Rente einer Vollwaise zuerkannt (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juli 1959 - 3 RJ 224/58 - BSG 10, 189, 195). Indes braucht hier auf diese aus verfassungsrechtlichen Gründen - Gleichstellung der unehelichen Kinder mit ehelichen Kindern in versicherungsrechtlicher Hinsicht - getroffene Entscheidung schon deshalb nicht näher eingegangen zu werden, weil der Fall des Klägers nicht gleichgelagert, sondern der eines ehelichen Kindes ist, bei dem beide Elternteile bekannt sind. Im übrigen hat das BSG in diesem Urteil ausdrücklich betont, daß abgesehen von den unterschiedlichen Rechtsbegriffen im BVG einerseits und in der Reichsversicherungsordnung (RVO) andererseits das BVG jedenfalls noch die der RVO unbekannte Möglichkeit des Härteausgleichs (§ 89 BVG) biete. Aus der versicherungsrechtlichen Beurteilung in der genannten Entscheidung kann mithin für die Entscheidung des erkennenden Senats im vorliegenden Fall nichts hergeleitet werden.

Zur Begriffsbestimmung der Halb- und Vollwaise in der Rentenversicherung (für die Unfallversicherung vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 588 e) ist vielmehr auf das Urteil des 5. Senats vom 26. Januar 1973 - 5 RJ 343/71 - BSG 35, 154) hinzuweisen. Hier ist entschieden, daß einem in der Bundesrepublik oder in West-Berlin lebenden nichtehelichen Kind, dessen Erzeuger in der DDR lebt, nach dem Tode der Mutter auch dann nur die Halbwaisenrente - und nicht die Vollwaisenrente - zusteht, wenn ein Gericht der DDR die Unterhaltsklage gegen den Erzeuger des Kindes rechtskräftig abgewiesen hat. Dazu ist ausgeführt, es sei unbeachtlich, aus welchen Gründen das Kind von dem überlebenden Elternteil Unterhalt nicht verlangen könne; wesentlich sei nur, daß es sich nicht um eine Vollwaise handele, wenn feststehe, daß ein Elternteil noch lebe. Diese dem vorliegenden Sachverhalt nähere rentenversicherungsrechtliche Entscheidung des BSG - es steht nämlich auch hier fest, daß ein Elternteil noch lebt - läßt den im Versorgungs- und Sozialversicherungsrecht einheitlichen Grundsatz erkennen, daß eine Waisenrente (Halbwaisenrente) vom Tod eines Elternteils und die Vollwaisenrente vom Tod beider Elternteile abhängig ist. Fehlt es an der Voraussetzung des Todes beider Elternteile, so besteht der hier allein streitige Rechtsanspruch auf die Rente einer Vollwaise nicht.

Nach alledem muß die Revision zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 222

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