Leitsatz (amtlich)

1. Die Witwe des ursprünglich Selbständigen, später versicherungspflichtig Beschäftigten ist jedenfalls dann zur Nachentrichtung von Beiträgen im Rahmen des ArVNG Art 2 § 52 befugt, wenn der Versicherte vor dem 1957-01-01 gestorben ist.

2. Eine selbständige Erwerbstätigkeit "vor der Vertreibung" kann auch dann gegeben sein, wenn die Tätigkeit zeitlich nicht unmittelbar an die Vertreibung heranreicht, vielmehr eine Zeit der Kriegsgefangenschaft dazwischenliegt.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 52 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Mai 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Unter den Parteien ist streitig, ob die Klägerin auf Grund des Art. 2 § 52 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) Beiträge zur Rentenversicherung ihres im Mai 1956 gestorbenen Ehemannes nachentrichten darf, um sich dadurch einen Anspruch auf Witwenrente zu verschaffen.

Der Ehemann der Klägerin war Heimatvertriebener. Von 1927 bis 1945 war er im Kreis W (östlich der Oder-Neiße-Linie) als selbständiger Landwirt tätig. Dann wurde er Soldat und befand sich bis 1949 in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über und nahm dort im Jahre 1950 eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf. Bis zu seinem Tode wurden für ihn für 55 Monate Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet. Seinen Hinterbliebenen wurden, weil er die Wartezeit nicht erfüllt hatte, keine Renten bewilligt.

Im April 1959 beantragte die Klägerin, ihr die Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung ihres Ehemannes für die Zeit von März 1927 an zu gestatten. Diesen Antrag lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt mit Bescheid vom 29. September 1959 ab. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Bescheid vom 10. März 1960 zurückgewiesen.

Die Klage ist im ersten Rechtszuge ohne Erfolg geblieben. Das Sozialgericht Detmold hat das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 52 ArVNG als eine der freiwilligen Weiterversicherung ähnliche Befugnis höchstpersönlicher Art beurteilt, die nach dem Tode des Berechtigten durch seine Hinterbliebenen nicht mehr ausgeübt werden könne. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat dagegen durch Urteil vom 10. Mai 1961 die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Nachentrichtung von Beiträgen zur Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes im Rahmen des Art. 2 § 52 Abs. 1 ArVNG zu gestatten.

Die Beklagte hat hiergegen - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des Art. 2 § 52 ArVNG mit folgenden Ausführungen: Das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen sei schon deshalb ausgeschlossen, weil der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sei. Dies folge daraus, daß die Nachentrichtung in den vom 1. Januar 1957 an geltenden Beitragsklassen des § 1388 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durchzuführen sei. Dafür seien aber keine Steigerungsbeträge festgelegt; diese seien indessen für die Berechnung von Renten auf Grund von Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 erforderlich. Ferner habe das LSG verkannt, daß der Versicherungsfall des Todes eine Grenze setze für eine Einflußnahme auf versicherungsmäßige Umstände. Hinterbliebene seien auf abgeleitete Rechte beschränkt; dazu gehörten nur Leistungsansprüche, nicht aber Gestaltungsrechte wie die Beitragsentrichtung. Dies ergebe sich aus § 1263 Abs. 2 RVO, der eine zeitliche Bindung von Wartezeiterfüllung und Versicherungsfall des Todes enthalte; die Wartezeit könne nach dem Tode des Versicherten nicht mehr durch Nachentrichtung von Beiträgen erfüllt werden.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts bei.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Der Streitfall ist nach der durch Art. 2 § 1 Nr. 10 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 geänderten Fassung des Art. 2 § 52 ArVNG zu beurteilen. Die Neufassung ist mit Wirkung vom 1. Januar 1957 in Kraft getreten (Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. a RVÄndG). Nach der Neufassung der Vorschrift können u. a. Personen im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG), die vor der Vertreibung als Selbständige erwerbstätig waren und binnen drei Jahren nach der Vertreibung eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen haben oder aufnehmen, abweichend von der Regelung des § 1418 RVO Beiträge für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück nachentrichten, auch wenn eine Versicherung vor der Zeit, für die Beiträge nachentrichtet werden sollen nicht bestanden hat. Dabei steht der Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 1. Januar 1957 der Nachentrichtung von Beiträgen nicht entgegen. Diese Regelung setzt sich im Interesse des begünstigten Personenkreises vor allem über sonst in der Rentenversicherung herrschende Grundsätze insofern hinweg, als einmal weit über zwei Jahre zurück Beiträge nachentrichtet werden können und außerdem ein Risiko noch versichert werden kann, das als solches nicht mehr besteht, weil der Versicherungsfall bereits eingetreten ist.

Daß in der Person des Ehemannes der Klägerin die Voraussetzungen erfüllt waren, von denen das Gesetz die Befugnis zur Nachentrichtung von Beiträgen abhängig macht, ist unter den Beteiligten nicht streitig; dies läßt sich auch unbedenklich aus den vom LSG getroffenen Feststellungen herleiten. Der Ehemann der Klägerin war Vertriebener im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG; er hat als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete ... verlassen, in denen er vor dem 8. Mai 1945 seinen Wohnsitz hatte. Vor seiner Vertreibung war er dort als Selbständiger erwerbstätig und hatte binnen drei Jahren nachher eine versicherungspflichtige, mit Beiträgen belegte Beschäftigung aufgenommen. Zwar wird grundsätzlich zu fordern sein, daß - was bei dem Ehemann der Klägerin nicht zutraf - die selbständige Erwerbstätigkeit zeitlich unmittelbar an die Vertreibung heranreicht; denn das Gesetz verfolgt erkennbar den Zweck, diejenigen Personen zu schützen, die durch die Vertreibung ihre Selbständigkeit verloren haben. Dabei dürfen jedoch Zeiten vor der Vertreibung, in denen der - später - Versicherte aus kriegsbedingten Gründen wie Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, feindliche Besetzung usw weder seine selbständige Erwerbstätigkeit fortsetzen noch eine unselbständige Beschäftigung aufnehmen konnte, unberücksichtigt bleiben (vgl. Schreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 20. Oktober 1961 - IV b l - 3634/61 - BABl 1961, 838; Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Art. 2 § 52 ArVNG, Anm. I). Solche Zeiten, die für die Anwendung des Art. 2 § 52 ArVNG als unschädlich anzusehen sind, waren die von 1945 bis 1949 währenden Zeiten des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft des Ehemannes der Klägerin.

Die Rechtsfrage, ob die Klägerin als Witwe des Versicherten zur Beitragsnachentrichtung befugt ist, läßt sich aus Abs. 1 des Art. 2 § 52 ArVNG allein nicht beantworten. Dieser Teil der Vorschrift spricht mehr für die die Frage verneinende Auffassung der Beklagten: denn in den Sätzen 1 und 2 sind nur die Versicherten selbst als nachentrichtungsbefugt bezeichnet, und auch Satz 4 bietet trotz des Gebrauchs des umfassenden Ausdrucks "Versicherungsfall" keinen hinreichenden Anhalt dafür, daß der Versicherungsfall des Todes einbegriffen sein soll. Aufschlußreich für die Auslegung der Vorschrift sind indessen die durch das RVÄndG angefügten Absätze 3 und 4. In Abs. 3 Buchst. a werden die Wirkungen geregelt, welche sich für nach Art. 2 §§ 32 bis 34 ArVNG berechnete Renten aus der Nachentrichtung von Beiträgen für Zeiten vor dem Rentenbeginn ergeben. Das Gesetz schreibt vor, daß die erwähnten Renten unter Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge erneut umzustellen und für die nachentrichteten Beiträge bestimmte Vomhundertsätze - je nach-dem, ob es sich um Versichertenrenten oder um Witwen- bzw. Witwerrenten handelt - als Steigerungsbeträge zugrunde zu legen sind. Aus der Regelung, die für die nach Art. 2 §§ 32 bis 34 ArVNG umgestellten - sogenannten - Bestandsrenten getroffen worden ist, ergibt sich einmal, daß eine Beitragsnachentrichtung nicht deshalb entfällt, weil schon vor 1957 auf Grund eines Versicherungsfalles eine Rente gewährt worden ist, ja daß überhaupt der Eintritt des Versicherungsfalles vor 1957 der Nachentrichtung nicht entgegensteht (§ 52 Abs. 4). Weiter ist der für umgestellte Witwen- und Witwerrenten getroffenen Regelung zu entnehmen, daß auch die Witwe des Versicherten (bzw. der Witwer der Versicherten) grundsätzlich zur Nachentrichtung befugt ist. Wenn ihr nämlich bereits vor 1957 eine Hinterbliebenenrente bewilligt war, kann für den Versicherten selbst niemals eine Möglichkeit zur erweiterten Nachentrichtung von Beiträgen bestanden haben; für diese Nachentrichtung kann nur die Witwe oder ein anderer Hinterbliebener in Betracht kommen.

Diesem Ergebnis steht - sofern man die für Vertriebene gedachte Sonderregelung des Art. 2 § 52 ArVNG überhaupt an Grundsätzen der Rentenversicherung messen darf - nicht entgegen, daß im Falle der Beitragsnachentrichtung durch Hinterbliebene ein Versicherungsverhältnis noch nach dem Tode des Versicherten beeinflußt wird, was normalerweise unzulässig ist. Dies kann auch, worauf bereits das LSG zutreffend hingewiesen hat, bei der Nachversicherung (§ 1232 RVO) und der fiktiven Nachversicherung (z. B. § 72 Abs. 1 des Gesetzes zu Art. 131 GG und Art. 6 §§ 18, 23 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes) geschehen.

Schließlich entspricht das Ergebnis, zu dem der Senat gelangt ist, auch dem Zweck des Gesetzes. Art. 2 § 52 ArVNG stellt eine Sonderregelung für früher selbständige Vertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte dar. Diesem Personenkreis sollte Gelegenheit gegeben werden, sich durch eine die Zeiten der Selbständigkeit bis 1924 zurück umfassende Nachentrichtung von Beiträgen ausreichende Renten zu sichern, wobei sowohl an eine Verbesserung eines bereits bestehenden als auch an den erstmaligen Erwerb eines Rentenanspruchs gedacht war (vgl. Deutscher Bundestag - 2. Wahlperiode - Drucks. 2437 S. 86 und zu Drucks. 3080 S. 25). Da mit dem Verlust der selbständigen Erwerbstätigkeit im Vertreibungsgebiet nicht nur der Vertriebene selbst, sondern auch seine Familie die wirtschaftliche Existenz verloren hat, müssen die Hinterbliebenen des - später abhängig beschäftigten - Vertriebenen in gleicher Weise als schutzbedürftig angesehen werden wie er selbst. Die vorgesehene Sicherung wird ihnen dementsprechend zuteil, wenn der Vertriebene durch Ausnutzung der Möglichkeit zur Beitragsnachentrichtung für eine ausreichende Rente sorgt. Der Schutzzweck würde aber, wenn man den Hinterbliebenen die Nachentrichtung nicht gestatten wollte, in denjenigen Fällen nicht oder nur unvollkommen erreicht werden, in denen Vertriebene zwar rechtzeitig nach ihrer Vertreibung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben, aber gestorben sind, bevor sie von der ihnen zugedachten Vergünstigung einer außerordentlichen Beitragsnachentrichtung Gebrauch machen konnten.

Der Senat brauchte nicht zu entscheiden, ob die Witwe - oder ein sonstiger Hinterbliebener - des Versicherten auch dann zur Nachentrichtung von Beiträgen befugt ist, wenn der Versicherte selbst trotz Kenntnis der ihn begünstigenden Vorschrift von ihr keinen Gebrauch gemacht oder sogar erklärt hat, er werde von ihr keinen Gebrauch machen. Zweifel, die sich aus einem widersprüchlichen Verhalten oder entgegengesetzten Interessen des Versicherten einerseits und seinen Hinterbliebenen andererseits ergeben könnten, treten im vorliegenden Falle nicht auf. Da der Versicherte vor Erlaß des ArVNG gestorben ist, fehlt es an jedem Anhalt dafür, daß er die Gelegenheit, die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten zu erfüllen und seinen Rentenanspruch durch Nachentrichtung von Beiträgen zu verbessern, nicht genutzt hätte.

Hiernach hat die Beklagte der Klägerin die Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes im Rahmen des Art. 2 § 52 ArVNG zu gestatten. Die Revision der Beklagten ist zurückzuweisen.

Für eine Entscheidung der von der Beklagten im Hinblick auf Art. 5 § 6 RVÄndG aufgeworfenen Frage, wann für den Fall der Beitragsnachentrichtung durch die Klägerin die Leistungspflicht der Beklagten einzusetzen hat, ist in dem gegenwärtigen Streitverfahren kein Raum.

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 146

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