Entscheidungsstichwort (Thema)

Honorarkürzung bei übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis. neuer Verwaltungsakt. Anhörung

 

Orientierungssatz

1. Der - ohne eine Übergangsregelung - ersatzlose und sofortige Wegfall der Befreiungsmöglichkeit von Honorarkürzungen und die damit verbundene sofortige Anwendung der Kürzungsregelung zur Verhütung einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit eines Kassenarztes in dem Honorarverteilungsmaßstab einer Kassenärztlichen Vereinigung sind nicht zu beanstanden.

2. Die sofortige Anwendung der Kürzungsregelung stellt keinen derart starken Eingriff in die Berufsfreiheit eines Kassenarztes dar, daß demgegenüber das öffentliche Interesse an der Verhütung einer übermäßigen Ausdehnung der Kassenpraxis zurückzutreten hätte.

3. Enthält ein neuer Bescheid keine neue Regelung in der Sache, so rechtfertigt aber die äußere Form eines Verwaltungsakts - mit Rechtsbehelfsbelehrung - die entsprechende Anwendung des § 96 SGG (vgl BSG vom 24.11.78 - 11 RA 9/78 = SozR 1500 § 96 SGG Nr 13).

4. Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.

5. Eine Anhörung nach § 24 SGB 10 ist bei einem neuen Bescheid, der aufgrund desselben Beschlusses ergeht und in der Regelung und Begründung mit dem Wortlaut des vorhergehenden Bescheids voll übereinstimmt nicht notwendig.

 

Normenkette

RVO § 368f Abs 1; SGG § 96 Abs 1 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 24 Abs 1 Fassung: 1980-08-18, § 42 Fassung: 1980-08-18; GG Art 12 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 12.01.1983; Aktenzeichen L 11 Ka 68/79)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 12.06.1979; Aktenzeichen S 2 Ka 34/79)

 

Tatbestand

Umstritten ist die Kürzung eines Kassenarzthonorars wegen übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis.

Die Klägerin ist Ärztin für Allgemeinmedizin und als solche in M. zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen. Für das erste Quartal 1977 war sie von Kürzungsmaßnahmen gemäß § 7 Ziff 1 Abs 3 des Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) in der damals gültigen Fassung befreit worden (Befreiungsbescheid vom 15. Dezember 1977).

§ 7 Ziff 1 Abs 3 dieses HVM sah folgende Regelung vor: "Der Vorstand der KÄV Nordrhein ist ermächtigt, auf Antrag des Arztes im Einzelfall Befreiung von Kürzungsmaßnahmen nach § 7 Abs 2 für einen begrenzten Zeitraum zu erteilen, wenn unter Berücksichtigung der Stellungnahme der zuständigen Kreis- und/oder Abrechnungsstelle festgestellt wird, daß eine Ablehnung der Behandlung zwecks Verhütung übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis nicht möglich ist, ohne die kassenärztliche Versorgung im Bereich des betroffenen Arztes zu gefährden."

Durch Beschluß der Vertreterversammlung der Beklagten vom 19. November 1977 ist die Bestimmung des § 7 Ziff 1 Abs 3 HVM mit Wirkung vom 1. Januar 1978 ersatzlos gestrichen worden.

Im Quartal I 1978 rechnete die Klägerin 2.244 RVO-Fälle mit einer anerkannten Honoraranforderung von 68.765,64 DM (vor Quotierung) ab. Diese Honoraranforderung kürzte die Beklagte mit Bescheid vom 17. August 1978 gemäß § 7 ihres HVM idF vom 19. November 1977 um 19.163,61 DM, weil die Klägerin sowohl die durchschnittliche Vierteljahres-Honoraranforderung ihrer Fachgruppe im Bereich Nordrhein im Vergleichszeitraum (in den Quartalen I - IV/1977) in Höhe von 23.038,04 DM (vor Quotierung) als auch die entsprechende Honoraranforderung aller Kassenärzte im Vergleichszeitraum in Höhe von 24.238,74 DM (vor Quotierung) um mehr als 80 vH und die durchschnittliche Fallzahl ihrer Fachgruppe von 822 RVO-Fällen um mehr als 100 vH überschritten habe.

Der gegen diese Honorarabrechnung gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde vom Vorstand der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 2. Januar 1979 zurückgewiesen. In diesem Widerspruchsbescheid waren die an der Entscheidung (Beschluß des Vorstands vom 20. Dezember 1978) mitwirkenden Personen nicht kenntlich gemacht. Unterzeichnet war der Bescheid von dem Justitiar der Beklagten, der an der Widerspruchsentscheidung nicht mitgewirkt hatte.

Im anschließenden Klageverfahren hat die Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 2. Januar 1979 mit Schreiben vom 1. Juni 1979 insofern ergänzt, als sie die Namen der Vorstandsmitglieder aufgeführt hat, die an der Entscheidung über den Widerspruch am 20. Dezember 1978 mitgewirkt haben. Das Schreiben enthält unter Ziffer 4 folgenden Zusatz: "Dieser Widerspruchsbescheid ersetzt aus formalen Gründen den Widerspruchsbescheid vom 2. Januar 1979 und wird gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Sozialgerichtsverfahrens..." Unterschrieben war das mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Schreiben vom 2. Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, der an der Entscheidung des Vorstandes vom 20. Dezember 1978 über den Widerspruch der Klägerin nicht mitgewirkt hatte.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Das gesetzlich vorgeschriebene Vorverfahren (§ 78 SGG) sei ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die angefochtene Honorarkürzung sei auch in der Sache rechtmäßig. § 7 HVM idF des Beschlusses der Vertreterversammlung vom 19. November 1979 sei formell wirksam zustandegekommen. Insbesondere sei die beschlossene Änderung ordnungsgemäß entsprechend § 12 der Satzung der Beklagten im "Rheinischen Ärzteblatt" 1977, Heft 24 (Ausgabedatum 25. Dezember 1977) bekanntgemacht worden. Auf die Wirksamkeit der beschlossenen Änderung habe es keinen Einfluß, daß gleichzeitig mit der Wiedergabe der Änderung zusätzlich der gesamte HVM abgedruckt worden sei und dabei die beschlossene ersatzlose Streichung von § 7 Ziff 1 Abs 3 HVM unberücksichtigt geblieben sei. Denn dieser Fehler sei in der Neu-Bekanntmachung durch die Sondernummer 24a des "Rheinischen Ärzteblattes" vom 30. Dezember 1977 berichtigt worden. § 7 HVM in der geänderten Fassung sei, wie das Bundessozialgericht (BSG) in seinen Entscheidungen vom 5. März 1981 (6 RKa 11/79 und 6 RKa 1/80) ausgeführt habe, auch materiell-rechtlich, insbesondere verfassungsrechtlich, nicht zu beanstanden. Der Senat folge dem BSG auch insoweit, als dieses den ersatzlosen Wegfall der Befreiungsmöglichkeit von Kürzungsmaßnahmen ohne Rücksicht auf den Einzelfall nicht beanstandet habe. Schließlich sei die Honorarkürzung auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Insoweit seien mangels konkreter Beanstandungen die von der Beklagten ermittelten Zahlen zugrundezulegen. Die zum Zeitpunkt der Berechnung des Kürzungsbetrages maßgeblich gewesenen Durchschnittswerte iS des § 7 Ziff 1 Satz 1 und 2 HVM (durchschnittlich anerkannte Honoraranforderungen der jeweiligen Fachgruppe und aller Kassenärzte) könnten sich zwar der Höhe nach wegen bestands- oder rechtskräftig abgeschlossener Kürzungsmaßnahmen nachträglich ändern. Allein deswegen sei die streitige Kürzung der Höhe nach jedoch nicht fehlerhaft. Zum einen würden sich die jeweiligen Veränderungen weitgehend ausgleichen und zum anderen seien solche geringfügigen Veränderungen aus praktischen Gründen im Interesse einer funktionsfähigen Wirtschaftlichkeitsprüfung zu vernachlässigen.

Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Als Verfahrensfehler rügt die Klägerin insbesondere, das LSG habe die Amtsermittlungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und das rechtliche Gehör (§ 128 Abs 2 SGG) verletzt. In materiell-rechtlicher Hinsicht habe das LSG entscheidende Mängel des Vorverfahrens nicht berücksichtigt, denn sowohl der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 2. Januar 1979 als auch der Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1979 seien rechtsfehlerhaft gewesen. Eine "Heilung" der Fehler des ersten Widerspruchsbescheides durch den zweiten Widerspruchsbescheid habe deshalb nicht erfolgen können. Der zweite Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1979 sei insofern mit Fehlern behaftet gewesen, als dieser Bescheid nicht von einem Mitglied des Widerspruchsausschusses unterzeichnet worden sei. Dieser Formfehler habe auch nicht mit dem Hinweis auf § 42 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) vernachlässigt werden können. Die Anwendung des § 42 Satz 1 SGB X sei hier durch seinen Satz 2 ausgeschlossen, da die erforderliche Anhörung vor Erlaß des zweiten Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1979 unterblieben sei. Außerdem sei die der Honorarkürzung zugrundeliegende Regelung des § 7 HVM weder formell noch materiell rechtmäßig. Sie habe auf den Fortbestand der bisherigen Regelung vertraut, zumal sich aus ihrer Sicht an der ärztlichen Unterversorgung in ihrem Niederlassungsbereich nichts geändert habe. Da eine sofortige Umstellung des bisherigen Praxisbetriebes weder ihr noch anderen betroffenen Ärzten möglich sei, habe die Beklagte - mangels rechtzeitiger Vorinformation - die beschlossene Neuregelung nicht sofort anwenden dürfen.

Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1983 und des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12. Juni 1979 den Bescheid der Beklagten vom 17. August 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1979 sowie den Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1979 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.

Bei dieser Entscheidung ist von dem vom LSG festgestellten Sachverhalt auszugehen, soweit er vom erkennenden Senat für die Rechtsanwendung benötigt wird. Diese Feststellungen der Vorinstanz sind verbindlich; gegen sie hat die Klägerin keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 iVm § 162, § 170 Abs 3 Satz 1 SGG).

Die allgemeine Erklärung, das LSG habe die Ordnungsmäßigkeit des Zustandekommens und der Bekanntmachung der Neufassung des § 7 HVM prüfen müssen, genügt nicht zur hinreichenden Substantiierung einer Verfahrensrüge. Insbesondere gaben die Zweifel der Klägerin an der Ordnungsmäßigkeit der Beschlußfassung dem LSG keine Veranlassung sich zu weiteren Ermittlungen gedrängt zu fühlen. Auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob die vom 30. Dezember 1977 datierende Sondernummer des Rheinischen Ärzteblattes ihr und anderen betroffenen Ärzten vor dem 1. Januar 1978 zugänglich war, kam es nach der Rechtsauffassung des LSG nicht an. Nach ihrem Vorbringen hat sie nicht die Möglichkeit erhalten, zum Wortbericht der Vertreterversammlung aus der Sitzung vom 19. November 1977 Stellung zu nehmen. Dies hatte die Klägerin aber bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gerügt, und der Wortbericht ist in der mündlichen Verhandlung erörtert worden. Soweit die Klägerin ferner rügt, daß sich das LSG zur Begründung der Ordnungsmäßigkeit der Bekanntmachung der Neufassung des § 7 HVM auf eine ihr vorher nicht bekannte und zugängliche Entscheidung vom 25. November 1981 berufen habe, liegt darin ebenfalls kein Verfahrensmangel: Zur Gewährung des rechtlichen Gehörs ist es nicht erforderlich, daß das Gericht den Beteiligten alle rechtlichen Erwägungen, auf die es das Urteil stützen will, vorher bekanntgibt.

In sachlich-rechtlicher Hinsicht ist das angefochtene Urteil des LSG nicht zu beanstanden. Das LSG war trotz Mängeln des Vorverfahrens nicht gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden.

Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung sind - wovon auch das LSG zutreffend ausgegangen ist - die Bescheide der Beklagten vom 17. August 1978, vom 2. Januar 1979 und vom 1. Juni 1979. Der Bescheid vom 1. Juni 1979 ist gem § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Zwar enthält er keine neue Regelung in der Sache. Jedenfalls rechtfertigt hier aber die äußere Form eines Verwaltungsakts - mit Rechtsbehelfsbelehrung - die entsprechende Anwendung des § 96 SGG (vgl BSGE 25, 161, 162; BSG SozR 2200 § 96 SGG Nr 13). Der Bescheid vom 1. Juni 1979 hat den Bescheid vom 2. Januar 1979 iS § 96 SGG ersetzt. Dafür ist nicht erforderlich, daß der neue Bescheid inhaltlich eine andere Regelung enthält als der erste (vgl BSGE 49, 229, 231 = SozR 1299 § 34 SGB I Nr 10).

Der Bescheid vom 2. Januar 1979 ist nicht durch den Bescheid vom 1. Juni 1979 aufgehoben worden. Mit der Formulierung in einem neuen Verwaltungsakt, daß damit ein anderer Verwaltungsakt ersetzt werde, kann allerdings dessen Aufhebung erreicht werden. Ein dahingehender Regelungswille ist aber dem Bescheid vom 1. Juni 1979 nicht zu entnehmen. Inhaltlich enthält dieser Bescheid keine neue Regelung. Er will lediglich einen formellen Mangel berichtigen, indem er die Vorstandsmitglieder der Beklagten benennt, die an dem beiden Bescheiden vom 2. Januar 1979 und 1. Juni 1979 zugrundeliegenden Beschluß mitgewirkt haben. Insoweit wird eine Begründung des ersten Bescheids nachgeschoben; dazu bedarf es nicht seiner Aufhebung. Auch durch die Unterschrift des 2. Vorsitzenden des Vorstands der Beklagten unter dem Bescheid vom 1. Juni 1979 sollte nur ein formeller Mangel korrigiert werden. Es mag fehlerhaft gewesen sein, daß der Bescheid vom 2. Januar 1979 durch den Justitiar der Beklagten unterschrieben war. Dies war aber kein Anlaß zur Aufhebung des Bescheides.

Die Bescheide vom 2. Januar 1979 und 1. Juni 1979 sind nicht aufzuheben.

Nach § 42 Satz 1 des Sozialgesetzbuches -SGB-, Zehntes Buch -X- vom 18. August 1980 (BGBl I, 1469, 2218), der hier gemäß Art II § 37 Abs 1 SGB X auf das noch nicht abgeschlossene Verfahren Anwendung findet (BSG SozR 1200 § 51 SGG Nr 11), kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustandegekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Die Bescheide vom 2. Januar 1979 und 1. Juni 1979 haben nur Verletzungen von Formvorschriften in diesem Sinn enthalten. Das gilt auch insoweit, als die Bescheide nicht von einem Mitglied des Vorstands unterschrieben sind, der an der Beschlußfassung vom 20. Dezember 1978 teilgenommen hat. Dabei handelt es sich jedenfalls nur um einen formalen Mangel; es fehlt nicht an der Begründung der Bescheide, sondern nur daran, daß die Übereinstimmung der Gründe des Beschlusses und des Bescheids möglicherweise nicht ausreichend kenntlich gemacht ist.

Im konkreten Fall haben die in Betracht kommenden Mängel des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1979 in der Fassung vom 1. Juni 1979 keine Nichtigkeit zur Folge. Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Ein solches Ausmaß nehmen die aufgezeigten Mängel des Vorverfahrens nicht an. Die Entscheidung der Beklagten betrifft auch keine Ermessensfragen, so daß - wie dies § 42 Satz 1 SGB X voraussetzt - keine andere Sachentscheidung hätte getroffen werden können.

Der Einwand der Klägerin, daß hier die Anwendung des § 42 Satz 1 SGB X durch seinen Satz 2 ausgeschlossen sei, da die erforderliche Anhörung unterblieben sei, geht fehl. Denn eine Anhörung der Klägerin nach § 34 Abs 1 SGB I aF bzw jetzt § 24 SGB X war hier auch dann, wenn in der Fassung vom 1. Juni 1979 ein förmlicher Widerspruchsbescheid gesehen wird, nicht notwendig. Denn dieser Bescheid, der aufgrund desselben Beschlusses erging und in der Regelung und Begründung mit dem Wortlaut des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1979 voll übereinstimmte, brachte für die Klägerin keine zusätzliche, rechtliche Belastung mit sich. Er enthielt keinen selbständigen Eingriff in die Rechte der Klägerin.

Zutreffend hat das LSG auch entschieden, daß die angefochtenen Bescheide in der Sache rechtmäßig sind.

Der hier umstrittenen Kürzung des Kassenarzthonorars der Klägerin für das erste Quartal 1978 liegt § 7 des HVM der Beklagten in der durch Beschluß ihrer Vertreterversammlung vom 19. November 1977 geänderten Fassung zugrunde. Nach Ziffer 1 dieser (inzwischen erneut geänderten) Vorschrift waren die nach Prüfung anerkannten Honoraranforderungen eines Kassenarztes - von bestimmten Ausnahmen abgesehen - wegen übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis einer Kürzung zu unterziehen, wenn die durchschnittliche Vierteljahres-Honoraranforderung der jeweiligen Fachgruppe der Kassenärzte, mindestens jedoch die aller Ärzte im Bereich Nordrhein im Vergleichszeitraum - in dem dem Abrechnungszeitraum vorangegangenen Jahr - um mehr als 80 % und die entsprechende durchschnittliche Zahl der Behandlungsfälle um mehr als 100 % überschritten wurden. Ziffer 2 der Vorschrift regelte die Berechnung des Kürzungsbetrages auf folgende Weise: Für jeweils 1 %, um das die gemäß Ziffer 1 erhöhte Fallzahl überschritten wurde, war derjenige Betrag, um den die Honoraranforderung den gemäß Ziffer 1 erhöhten Durchschnitt überstieg, um 2 % zu kürzen; die Kürzung durfte jedoch höchstens 50 % der Überschreitungssumme betragen. Der zitierte Absatz 3 des § 7 Ziff 1 HVM sah die Möglichkeit der Befreiung von Kürzungsmaßnahmen vor, die dann durch Beschluß der Vertreterversammlung der Beklagten vom 19. November 1977 mit Wirkung ab 1. Januar 1978 aufgehoben worden ist.

Das LSG hat § 7 HVM in der geänderten Fassung für gültig gehalten sowie seine Anwendung im vorliegenden Fall als rechtmäßig angesehen. Insbesondere hat es festgestellt, daß die Änderung dem § 12 der Satzung der Beklagten entsprechend ordnungsgemäß bekanntgemacht worden ist. Davon hat auch der Senat auszugehen. Die Satzung und der HVM der Beklagten sind nichtrevisibles Recht. Ihr Geltungsbereich erstreckt sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus (§ 162 SGG). Die Entscheidung des LSG über das Bestehen und den Inhalt des von ihm herangezogenen Satzungsrechts ist für den Senat bindend. Die revisionsgerichtliche Prüfung muß sich darauf beschränken, ob dem nichtrevisiblen Satzungsrecht, so wie es als Rechtsgrundlage der angefochtenen Honorarkürzung herangezogen worden ist, und seiner Anwendung durch das Berufungsgericht revisibles Recht - also höherrangiges, über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus geltendes Recht - entgegensteht (BSG SozR § 368f RVO Nr 8 mwN).

Der Senat hat bereits wiederholt entschieden, daß die streitige Regelung des § 7 des HVM der Beklagten in der am 19. November 1977 mit Wirkung ab 1. Januar 1978 beschlossenen Fassung rechtmäßig ist, jedenfalls soweit sie für das erste Quartal 1978 angewandt wird (BSG SozR 2200 § 368f RVO Nr 8; Urteil v. 5. März 1981 - 6 RKa 11/79 - BKK 1981, 379). An dieser Rechtsprechung, auf die verwiesen wird, hält der Senat fest. Das Bundesverfassungsgericht war zur verfassungsrechtlichen Prüfung dieser und früherer Honorarbegrenzungsregelungen der beklagten KÄV angerufen worden (BVerfGE 33, 171 ff; Beschlüsse vom 27. August 1981 - 1 BvR 615/81 und 1 BvR 638/81). Es hat die gegen die zitierten Urteile des erkennenden Senats vom 5. März 1981 gerichteten Verfassungsbeschwerden mangels Erfolgsaussicht nicht angenommen.

Mit der im Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten getroffenen Honorarbegrenzungsregelung wird - wie der erkennende Senat ebenfalls entschieden hat (BSG SozR 2200 § 368f RVO Nr 8) - die Grenze der Zumutbarkeit auch nicht insoweit überschritten, als sie eine Befreiung von der Honorarbegrenzung nicht vorsieht.

Der ersatzlose Wegfall der Befreiungsmöglichkeit und die damit verbundene sofortige Anwendung der Kürzungsregelung sind nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zu beanstanden. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die sofortige Anwendung der Streichung der Ausnahmeregelung eine (unechte) Rückwirkung bedeutet - insofern als zwar nicht in vergangene, aber auch nicht nur in zukünftige, sondern in gegenwärtige noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft eingegriffen wird, nämlich in einen vorher organisierten und nicht von heute auf morgen umzustellenden Praxisbetrieb (zur unechten Rückwirkung - vgl BSGE 46, 127, 130; 24, 285, 288; 35, 78, 80 f). Denn auf Vertrauensschutz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips kann sich - wie das BVerfG in ständiger Rechtsprechung (BVerfGE 14, 288, 301; 22, 241, 249; 24, 220, 230; 25, 142, 154; 25, 269, 291; 31, 222, 228 f; 39, 128, 145, 146) entschieden hat - der Staatsbürger nicht berufen, wenn sein Vertrauen auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen kann. Hierfür ist einerseits das Ausmaß des Vertrauensschadens, andererseits die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit maßgeblich. Sie sind gegeneinander abzuwägen.

Nach diesen Grundsätzen beurteilt, erweist sich die Neufassung des § 7 HVM, die - ohne eine Übergangsregelung - den sofortigen Wegfall der bisherigen Befreiungsmöglichkeit von Honorarkürzungen vorsieht, als rechtmäßig. Denn schon bisher unterlag die Klägerin den Kürzungsbestimmungen des § 7 Ziff 1 und Ziff 2 des HVM der Beklagten. Von Kürzungsmaßnahmen konnte sie zwar nach § 7 Ziff 1 Abs 3 HVM auf entsprechenden Antrag für einen begrenzten Zeitraum befreit werden. Es bestand jedoch kein "Anspruch" auf Erteilung der Befreiung, vielmehr war der Vorstand der Beklagten danach "ermächtigt", unter bestimmten Voraussetzungen eine Befreiung zu erteilen. Als Voraussetzung war nach § 7 Ziff 1 Abs 3 HVM die Feststellung notwendig, daß eine Ablehnung der Behandlung zwecks Verhütung übermäßiger Ausdehnung der Kassenpraxis nicht möglich war, ohne die kassenärztliche Versorgung im Bereich des betroffenen Arztes zu gefährden. Auch wenn dies festgestellt wurde, war der Vorstand nur ermächtigt, die Befreiung im Einzelfall und für einen begrenzten Zeitraum zu erteilen. Er war nicht verpflichtet, sie auszusprechen und konnte schon nach der bisherigen Regelung eine Befreiung von Kürzungsmaßnahmen ablehnen. Wegen dieser Schwäche der rechtlichen Position des Arztes stellt die sofortige Anwendung der Kürzungsregelungen ab 1. Januar 1978 keinen derartig starken Eingriff in die Berufsfreiheit der Klägerin dar, daß demgegenüber das öffentliche Interesse an einer umgehenden Verhütung einer übermäßigen Ausdehnung der Kassenpraxis zurückzutreten hätte. Dabei ist der Wegfall der Möglichkeit einer Befreiung von der Honorarbegrenzung - wie der erkennende Senat (BSG SozR 2200 § 368 f RVO Nr 8) bereits ausgeführt hat - selbst dann gerechtfertigt, wenn ein Kassenarzt allein deshalb eine übermäßige Ausdehnung seiner Kassenpraxis hinnimmt, weil er - zB in einem ärztlich unterversorgten Gebiet - zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung beitragen möchte. Denn die Honorarbegrenzung ist ihrem Sinn und Zweck entsprechend auch deshalb gerechtfertigt, weil es der Erfahrung entspricht, daß bei einer "übergroßen Praxis" in der Regel die Leistungen des Kassenarztes im einzelnen nach Art und Umfang geringer sind als bei einer Kassenpraxis mit durchschnittlicher Belastung. Selbst wenn der Klägerin die Einschränkung ihrer kassenärztlichen Tätigkeit und die damit gegebenenfalls verbundene Veränderung der personellen und sachlichen Ausstattung ihrer Praxis, nicht so kurzfristig möglich gewesen sein sollte, rechtfertigt dies nicht eine Beibehaltung der alten Rechtslage durch eine Übergangsregelung -. Denn diese eventuellen Organisationsschwierigkeiten sind gegenüber dem öffentlichen Interesse einer übermäßigen Ausdehnung der Kassenpraxis möglichst rasch entgegenzuwirken und Ausnahmebestimmungen nur zuzulassen, solange sie sachlich gerechtfertigt sind, von geringerer Bedeutung.

Die Klägerin hat sich schließlich nicht auf eine Übung der Beklagten berufen, nach der ihr, der Klägerin, etwa in der Vergangenheit regelmäßig die Befreiung erteilt worden sei. Vielmehr besteht kein Anhaltspunkt dafür, daß die Klägerin vor dem 1. Januar 1978 außer für das Quartal I/1977 noch für andere Zeiten von Kürzungsmaßnahmen befreit worden wäre.

Die Bestimmung des § 7 HVM der beklagten KÄV und die darauf beruhende Honorarkürzung sind somit rechtmäßig.

Die Revision der Klägerin gegen das angefochtene Urteil ist hiernach im Ergebnis unbegründet und daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663283

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