Entscheidungsstichwort (Thema)

(Freiwillige Krankenversicherung. Beitrag. Grundlohn. beitragspflichtige Einnahme. Mindestbeitrag. Untergrenze. Beitragserhöhung. Gesundheitsreform. Schwerbehinderter. Gleichheitssatz. Familienversicherung. Schutz von Ehe und Familie. Eigentumsschutz. Rückwirkung. Rechtsstaatsprinzip. Vertrauensschutz. Sozialstaatsprinzip

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Krankenkassen durften die Mindestbeiträge ihrer freiwilligen Mitglieder ab Januar 1989 aufgrund der Verdoppelung der Mindestgrenze beitragspflichtiger Einnahmen in § 240 Abs 4 SGB V erhöhen. Einer vorherigen Anhörung und einer Satzungsregelung zu den Mindesteinnahmen bedurfte es nicht.

2. Aufgrund der Regelung zur Berücksichtigung der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei der Beitragsbemessung (§ 240 Abs 1 S 2 SGB V) darf die fiktive Mindestgrenze auch bei einkommenslosen Mitgliedern nicht unterschritten werden (Anschluß an BSG vom 4.6.1981 - 8/8a RK 10/80 = BSGE 52, 32 = SozR 2200 § 385 Nr 5).

3. Ein Schwerbehinderter, der nicht beitragsfrei familienversichert ist und daher eine freiwillige Mitgliedschaft begründet hat, wird durch die Erhöhung der Mindestbeiträge nicht in Grundrechten verletzt.

 

Normenkette

SGB V § 240 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1988-12-20, Abs. 4 Fassung: 1988-12-20; SGB X § 24 Abs. 1 Fassung: 1980-08-18, Abs. 2 Nr. 4 Fassung: 1980-08-18; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 6 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 14 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 20 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Abs. 3 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

SG München (Entscheidung vom 14.03.1990; Aktenzeichen S 3 Kr 275/89)

 

Tatbestand

Der 1970 geborene Kläger ist schwerbehindert. Er steht unter der Vormundschaft seines Vaters, der Beamter (Leitender Verwaltungsdirektor) ist. Der Kläger trat im Jahre 1975 als Schwerbehinderter nach § 176c der Reichsversicherungsordnung (RVO) der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse als freiwilliges Mitglied bei. Seine Eltern sind nach seinem Vorbringen nicht gesetzlich krankenversichert.

Da der Kläger außer einem Pflegegeld keine eigenen Einnahmen hatte und von seinen Eltern unterhalten wurde, entrichtete er in seiner Krankenversicherung Mindestbeiträge. Sie beliefen sich im Jahre 1988 auf monatlich 57,78 DM. Mit Bescheid vom 27. Dezember 1988 erhöhte die Beklagte den Mindestbeitrag unter Hinweis auf das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) ab Januar 1989 auf monatlich 112,36 DM. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 1989). Während des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) München hob die Beklagte den Mindestbeitrag mit Bescheid vom 28. Dezember 1989 ab Januar 1990 auf monatlich 118,78 DM an.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 14. März 1990 abgewiesen. Dagegen richtet sich die Sprungrevision des Klägers. Verfahrensrechtlich rügt er die Verletzung des § 123, des § 128 Abs 1 Satz 2 und des § 136 Abs 1 Nr 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie des § 24 Abs 1 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X). Materiell-rechtlich macht er einen Verstoß gegen § 240 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) sowie gegen Art 3, 6, 14 und 20 des Grundgesetzes (GG) geltend.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des SG vom 14. März 1990, den Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1989 und den Bescheid vom 28. Dezember 1989 aufzuheben sowie die Beklagte zur Erstattung zuviel entrichteter Beiträge zu verurteilen, hilfsweise eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des SG für zutreffend und führt aus, daß die vom Kläger erhobenen Rügen nach ihrer Ansicht nicht durchgreifen.

Der Senat hat auf Anfrage zu statistischen Angaben und zur Praxis der Krankenkassen bei der Anwendung des § 240 Abs 4 SGB V folgende Auskünfte erhalten: Des Verbandes der Angestellten-$Krankenkassen e.V. (VdAK), der zugleich für den Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V. geantwortet hat, vom 9. September 1991, des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen vom 30. September 1991 und des AOK-Bundesverbandes vom 1. Oktober 1991.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision ist zulässig. Der Kläger rügt gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG die Verletzung von Verwaltungsverfahrensrecht und von materiellem Recht. Auf Mängel des gerichtlichen Verfahrens kann die Sprungrevision nach § 161 Abs 4 SGG nicht gestützt werden (dazu BSG SozR 1500 § 161 Nr 26). Ob deshalb die Rüge ausgeschlossen ist, das SG habe sein Urteil in verfassungsrechtlicher Hinsicht sowie zu Stundung (richtig wohl: Niederschlagung) und Erlaß von Beiträgen nicht begründet, kann offen bleiben. Denn zu diesen Fragen äußert sich der Senat auf die Rüge einer Verletzung materiellen Rechts hin selbst.

Die Revision ist unbegründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zutreffend abgewiesen. Sie richtet sich gegen den Bescheid vom 27. Dezember 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1989 über die Beitragserhöhung zum 1. Januar 1989 und den Bescheid vom 28. Dezember 1989 über die weitere Beitragserhöhung zum 1. Januar 1990. Diese Bescheide sind nicht rechtswidrig, so daß auch eine Erstattung von Beitragsteilen ausscheidet. In den Bescheiden hat die Beklagte die Höhe der Beiträge festgesetzt. Über eine Stundung, eine Niederschlagung oder einen Erlaß von Beiträgen nach § 76 Abs 2 des Sozialgesetzbuchs - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) hat sie dabei noch nicht entschieden. Hierzu hatte sie bei der Beitragsfestsetzung auch noch keinen Anlaß. Wenn der Kläger vorher einen "Beitragserlaß um 50 vH" geltend gemacht hatte, so konnte die Beklagte das als Begehren nach einer niedrigeren Festsetzung im Rahmen des § 240 SGB V verstehen. In einem späteren Schriftsatz kann hier ein Bescheid über eine Stundung oder Niederschlagung oder einen Erlaß nicht gefunden werden; der Kläger hat die Aufhebung eines derartigen Bescheides auch nicht beantragt.

Die Beklagte brauchte den Kläger vor Erteilung der Bescheide nicht nach § 24 Abs 1 SGB X anzuhören. Denn es sollten iS des § 24 Abs 2 Nr 4 SGB X gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl erlassen werden. Der Beitrag war bei allen freiwillig Versicherten anzuheben, die bisher einen Beitrag nach einem Grundlohn unterhalb der neuen Mindestgrenze beitragspflichtiger Einnahmen entrichtet hatten. Eine weitere Anhebung war zum 1. Januar 1990 geboten, weil sich die Mindestgrenze erhöhte. Die Beitragsänderungen hingen damit ausschließlich von allgemeinen Regelungen ab, wie sie alle freiwilligen Mitglieder trafen, von denen Mindestbeiträge nach neuem Recht zu erheben waren. Individuelle Verhältnisse waren insofern ohne Bedeutung (anders im Urteil des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 26. September 1991 - 4 RK 4/91, zur Veröffentlichung bestimmt). Ob eine unterbliebene Anhörung nicht auch im Widerspruchsverfahren geheilt worden wäre, kann offen bleiben (dazu BSG aaO).

Der monatliche Beitrag von 57,78 DM, den der Kläger im Jahre 1988 entrichtete, war noch nach den Vorschriften der RVO festgesetzt worden. Nach § 385 Abs 1 Satz 1 Halbs 1 RVO waren die Beiträge in Hundertsteln des Grundlohns (Beitragssatz) zu erheben. Für freiwillig Versicherte galt nach § 180 Abs 4 Satz 1 RVO als kalendertäglicher Grundlohn mindestens der 180. Teil der monatlichen Bezugsgröße. Da diese im Jahre 1988 3.080 DM betrug (§ 2 der Sozialversicherungs-Bezugsgrößenverordnung vom 7. Dezember 1987, BGBl I 2530), ergab sich ein monatlicher Mindestgrundlohn von rund 513 DM und durch Vervielfältigung mit dem einschlägigen Beitragssatz der monatliche Mindestbeitrag.

Durch das GRG vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) wurde diese Regelung mit Wirkung vom 1. Januar 1989 gestrichen (Art 5 Nr 2, Art 79 Abs 5 GRG). Gleichzeitig trat das SGB V in Kraft (Art 1, Art 79 Abs 1 GRG). Nach § 241 Satz 1 SGB V werden die Beiträge zwar weiterhin in Hundertsteln der beitragspflichtigen Einnahmen, dem früheren Grundlohn, in der Satzung festgesetzt. Als beitragspflichtige Einnahmen gilt aber nach § 240 Abs 4 SGB V bei freiwilligen Mitgliedern nunmehr mindestens der 90. Teil der monatlichen Bezugsgröße. Diese betrug 3.150 DM im Jahre 1989 und 3.290 DM im Jahre 1990 (§ 2 der Sozialversicherungs-Bezugsgrößenverordnungen vom 7. Dezember 1988, BGBl I 2222, und vom 7. Dezember 1989, BGBl I 2168). Demnach lagen die monatlichen Mindesteinnahmen bei 1.050 DM im Jahre 1989 und bei rund 1.097 DM im Jahre 1990. Auf dieser Grundlage hat die Beklagte beim Kläger den monatlichen Mindestbeitrag auf 112,36 DM für 1989 und auf 118,78 DM für 1990 festgesetzt. Rechnerische Bedenken dagegen hat die Revision nicht erhoben.

Da der Bemessung der Mindestbeiträge nach altem Recht kalendertäglich nur der 180. Teil der Bezugsgröße, nach neuem Recht jedoch der 90. Teil davon zugrunde gelegt wurde und ferner die Bezugsgröße von 1988 auf 1989 leicht anstieg, führte die Neuregelung unter sonst gleichen Voraussetzungen (dh bei gleichem Beitragssatz und gleicher Berechnungsweise) zu einem Anstieg der Mindestbeiträge auf etwas mehr als das Doppelte. In der Begründung zum Entwurf des GRG heißt es dazu (BR-Drucks 200/88 = BT-$Drucks 11/2237 S 225 zum damaligen § 249 Abs 4, entspricht § 240 Abs 4 SGB V): "Der Mindestbeitrag für freiwillige Mitglieder wird angehoben, da bei dem jetzigen Mindestbeitrag Leistung und Gegenleistung nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis stehen. Der Mindestbeitrag beträgt 1988 ca 65 DM. Nach neuem Recht wird er sich verdoppeln."

Die Beklagte durfte den ab 1989 geltenden Beitrag schon durch Bescheid vom 27. Dezember 1988 festsetzen, obwohl das GRG erst im Bundesgesetzblatt I Nr 62/1988 vom 29. Dezember 1988 verkündet worden ist. Da Bescheide über die Höhe laufender Beiträge Verwaltungsakte mit Dauerwirkung sind, die bei Änderung der rechtlichen Verhältnisse nach § 48 Abs 1 SGB X ohne weitere Voraussetzungen nur mit Wirkung für die Zukunft geändert werden dürfen (vgl Urteil des BSG vom 26. September 1991 - 4 RK 5/91, zur Veröffentlichung bestimmt), konnte die Beklagte mit der Erteilung des Bescheides nicht länger warten, wenn sie die Forderung des erhöhten Mindestbeitrags für Januar 1989 nicht dem Einwand der Rückwirkung aussetzen wollte. Am 27. Dezember 1988 war das Gesetzgebungsverfahren zum GRG bis auf die kurz bevorstehende Verkündung abgeschlossen. Der Gesetzentwurf war am 25. November 1988 vom Deutschen Bundestag in dritter Lesung verabschiedet worden (Plenarprotokoll 11/111 S 7925 ff, Gesetzesbeschluß BR-Drucks 555/88), und der Bundesrat hatte dem Gesetz am 16. Dezember 1988 zugestimmt (Plenarprotokoll 596 S 494). Es trägt das Datum vom 20. Dezember 1988. Als der Bescheid am 1. Januar 1989 seine Wirkung entfaltete und als er die Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1989 erhielt, war das Gesetz bekanntgemacht und in Kraft.

Vor der Anhebung der Mindestbeiträge bedurfte es keiner entsprechenden Regelung über die mindestens beitragspflichtigen Einnahmen in der Satzung. Zwar wird nach § 240 Abs 1 Satz 1 SGB V die Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder durch die Satzung geregelt. Ob ihr deswegen jedoch hinsichtlich des in Abs 2 und Abs 3 vorgeschriebenen Mindestinhalts konstitutive oder nur deklaratorische Bedeutung zukommt, kann offen bleiben. Hinsichtlich der Untergrenze des Abs 4 enthält jedenfalls das Gesetz selbst eine eigene, eindeutig formulierte Fiktion, ohne hier wie in den Abs 1 bis 3 das auf eine Satzungsregelung hindeutende Wort "berücksichtigen" zu verwenden. Damit ist Abs 4 an die Stelle der Mindestgrundlohnregelung des früheren Rechts getreten. Damals war sie im Gesetz selbst (§ 180 Abs 4 Satz 1 RVO) enthalten und insofern bei den sogenannten RVO-Kassen für eine Satzungsregelung kein Raum, auch nicht aufgrund des § 321 Nr 3 RVO, wonach die Satzung über die Höhe der Beiträge bestimmen mußte (vgl Peters, Handbuch der Krankenversicherung II, 68. Nachtrag, § 321 RVO Anm 3 d). Da § 180 Abs 4 Satz 1 RVO zum 1. Januar 1989 gestrichen worden ist, hätten Kassen wie die Beklagte von ihren freiwilligen Mitgliedern im Jahre 1989 bis zu einer Satzungsregelung möglicherweise nicht einmal mehr Mindestbeiträge - weder nach altem noch nach neuem Recht - erheben können, wenn § 240 Abs 4 SGB V hierfür nicht auch ohne Satzungsregelung eine Grundlage böte. Das kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben. Auszuschließen ist auch, daß Satzungen, die unter dem früheren Recht den Mindestgrundlohn deklaratorisch aufgenommen hatten, nunmehr durch § 240 Abs 1 Satz 1 SGB V eine gesetzliche Grundlage erhalten sollten, während dieselbe Vorschrift in Abs 4 eine neue, höhere Einnahmegrenze vorsah.

Der nach § 240 Abs 4 SGB V berechnete Mindestbeitrag durfte aufgrund des Abs 1 Satz 2 nicht unterschritten werden. Nach dieser Vorschrift ist zwar (in der Satzung) sicherzustellen, daß die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt. Dafür bildet die Fiktion in Abs 4 jedoch die gesetzliche Untergrenze. Das wird von der Rechtsentwicklung bestätigt. Eine Mindestgrenze von kalendertäglich dem 150. Teil der monatlichen Bezugsgröße ist zunächst bei der Neufassung des § 180 Abs 4 RVO durch Art 1 § 1 Nr 5 des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes vom 27. Juni 1977 (BGBl I 1069) eingeführt worden. Mit ihr sollte vermieden werden, daß freiwillig Versicherte, die ihren Lebensunterhalt nicht aus einem festen Geldbetrag bestreiten, sich zu unangemessen niedrigen Beiträgen versichern konnten (BT-Drucks 8/388 S 60). Später wurde der Mindestgrundlohn auf den 180. Teil der monatlichen Bezugsgröße herabgesetzt (§ 180 Abs 4 Satz 1 RVO idF des Art 2 § 1 Nr 1 des 21. Rentenanpassungsgesetzes vom 25. Juli 1978 ≪BGBl I 1089≫), weil freiwillig Versicherte hinsichtlich ihrer Beiträge gegenüber Pflichtversicherten nicht benachteiligt werden sollten (so der Regierungsentwurf BT-Drucks 8/1734 S 34). Mit Urteil vom 4. Juni 1981 (BSGE 52, 32 = SozR 2200 § 385 Nr 5) hat dann das BSG entschieden, daß die Grenze nicht unterschritten werden durfte. Es ist nicht erkennbar, daß der Gesetzgeber dieses bei der Neuregelung zum 1. Januar 1989 zulassen wollte.

Die gesetzliche Regelung ist nicht verfassungswidrig. Sie verletzt den Kläger nicht in seinem Grundrecht aus Art 14 Abs 1 GG. Seine Mitgliedschaft als solche bleibt unangetastet. Die Aussicht auf einen Krankenversicherungsschutz zu Mindestbeiträgen in der bisherigen Höhe war ebensowenig durch Art 14 Abs 1 Satz 1 GG geschützt, wie Rentner nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 16. Juli 1985 (BVerfGE 69, 272 = SozR 2200 § 165 Nr 81) auf den Fortbestand ihrer früher beitragsfreien Krankenversicherung vertrauen konnten. Auch die erhöhten Mindestbeiträge (beim Kläger monatlich 112,36 DM ab 1989 und monatlich 118,78 DM ab 1990) stellen Gegenleistungen für einen Versicherungsschutz dar und haben keine konfiszierende Wirkung. Bei Versicherten, die nicht in der Lage sind, die Beiträge aufzubringen, ist nach Maßgabe des § 13 des Bundessozialhilfegesetzes eine Übernahme durch den Sozialhilfeträger vorgesehen. Die vom Kläger erwähnte Entscheidung des BVerfG vom 12. Juni 1990 (BVerfGE 82, 198), wonach bei Familien das Existenzminimum steuerfrei bleiben muß, ist auf Beiträge zur Krankenversicherung nicht übertragbar.

Auch das Grundrecht des Klägers aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG ist nicht verletzt. Die Anhebung der Mindestbeiträge ist nicht rückwirkend erfolgt. Sie verstößt auch nicht gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes, der eine Abwägung zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens des Einzelnen und der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit verlangt (vgl BVerfGE 69, 272, 309 ff = SozR 2200 § 165 Nr 81). Hier überwiegen die Belange der Krankenversicherung. Die Anhebung der Mindestgrenze führte allerdings zu einer spürbaren Mehrbelastung für die Versicherten, jedoch von einem bisher sehr niedrigen Mindestbeitrag aus. Freiwillig Versicherte erhielten nach früherem Recht für etwa 65 DM im Monat vollen Versicherungsschutz einschließlich beitragsfreier Leistungen für Ehegatten und Kinder nach Maßgabe des § 205 RVO. Damit standen Leistung und Gegenleistung nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis (vgl die zitierte Begründung des Entwurfs zum GRG). Dieses bestätigen die statistischen Angaben des AOK-Bundesverbandes im vorliegenden Verfahren. Danach waren (ohne Rentner) in der letzten Zeit vor dem Inkrafttreten der Neuregelung die Leistungsausgaben in der allgemeinen Krankenversicherung pro Mitglied und Jahr bei freiwillig Versicherten, die Mindestbeiträge entrichteten, nur noch zu etwas mehr als einem Viertel gedeckt.

Allerdings mochte das Mißverhältnis bei Kindern und jungen Erwachsenen weniger ausgeprägt sein. Denn bei ihnen werden im allgemeinen nicht so hohe Leistungen anfallen, zumal sie noch keine Ehegatten und Kinder haben, für die Leistungen beitragsfrei zu erbringen wären. Der Gesetzgeber brauchte deswegen jedoch für solche Mitglieder keine niedrigeren Mindestbeiträge vorzusehen. Denn er gewährleistet einen angemessenen Schutz von Ehe und Familie (Art 6 Abs 1 GG) durch die Familienversicherung: Sind beide Eltern gesetzlich krankenversichert, so sind ihre Kinder unter den Voraussetzungen des § 10 SGB V beitragsfrei (§ 3 Satz 3 SGB V) versichert, so daß es einer beitragspflichtigen freiwilligen Versicherung nicht bedarf. Dabei gelten Altersgrenzen für schwerbehinderte Kinder nach Maßgabe des § 10 Abs 2 Nr 4 SGB V nicht. Diese beitragsfreie Versicherung für Kinder besteht nach Maßgabe des § 10 Abs 3 SGB V grundsätzlich auch, wenn nur ein Elternteil Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Erst wenn der nicht gesetzlich krankenversicherte Elternteil ein höheres Gesamteinkommen als der gesetzlich krankenversicherte hat und das höhere Gesamteinkommen außerdem ein Zwölftel der Jahresarbeitsentgeltgrenze (§ 6 Abs 1 Nr 1 SGB V; 1989 monatlich 4.575 DM; 1990 monatlich 4.725 DM) übersteigt, sind die Kinder nach § 10 Abs 3 Satz 1 SGB V nicht mehr versichert. Da bei solchen Familien mit überdurchschnittlichem Einkommen der Familienunterhalt überwiegend durch den nicht gesetzlich krankenversicherten Elternteil bestritten wird, bestand für eine beitragsfreie Versicherung der Kinder kein anerkennenswerter Bedarf. Ähnliches gilt, wenn - wie beim Kläger - beide Eltern nicht bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind, sie ihre Kinder aber gleichwohl dort versichern. Bei diesen Kindern ist die fehlende Verbindung der Eltern zur gesetzlichen Krankenversicherung ein hinreichender Grund dafür, die Mindestbeiträge nicht zu ermäßigen.

Niedrigere Mindestbeiträge brauchten auch für Schwerbehinderte nicht vorgesehen zu werden. Ihr Beitrittsrecht war seit 1975 in § 176c RVO geregelt (eingefügt durch Art 2 § 1 Nr 2 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975, BGBl I 1061) und ist vom Kläger des vorliegenden Verfahrens alsbald ausgeübt worden. Es setzte eine frühere Verbindung von Eltern oder einem Ehegatten zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht voraus, die jedoch später in der Regel verlangt wurde (Neufassung des § 176c RVO durch Art 1 Nr 1 des Kostendämpfungs-$Ergänzungsgesetzes vom 22. Dezember 1981 ≪BGB I 1578≫), um Mißbräuche zu vermeiden (vgl den Gesetzentwurf BT-Drucks 9/798 S 11). Auch unter dieser Einschränkung, die heute in § 9 Abs 1 Nr 4 SGB V enthalten ist, bleibt die gesetzliche Krankenversicherung als soziale Versicherung aus sozialstaatlichen Erwägungen (Art 20 Abs 1 GG) für Schwerbehinderte geöffnet. Die damit verbundene Belastung der Versichertengemeinschaften durfte jedoch dadurch begrenzt werden, daß für beigetretene Schwerbehinderte keine niedrigeren Mindestbeiträge vorgesehen wurden als für Nichtbehinderte.

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG ist ebenfalls nicht verletzt. Die Mindestbeiträge freiwillig Versicherter sind allerdings höher als die Beiträge mancher Pflichtversicherter, wenn deren beitragspflichtige Einnahmen niedriger sind als diejenigen, die bei freiwillig Versicherten mindestens zugrunde gelegt werden. Dies trifft etwa zu bei versicherungspflichtig Beschäftigten mit niedrigem Arbeitsentgelt, bei versicherungspflichtigen Behinderten iS des § 5 Abs 1 Nrn 7 und 8 SGB V (Einnahmen nach § 235 Abs 3, 4 SGB V), bei versicherungspflichtigen Studenten und Praktikanten iS des § 5 Abs 1 Nrn 9, 10 SGB V (Einnahmen nach § 236 SGB V) und bei versicherungspflichtigen Rentnern iS des § 5 Abs 1 Nrn 11, 12 SGB V mit niedrigen Bezügen (Einnahmen nach § 237 SGB V). Bei den Studenten und Praktikanten ist außerdem der Beitragssatz erheblich ermäßigt (§ 245 Abs 1 Satz 1 SGB V), so daß ihr Beitrag insgesamt gesehen deutlich unter dem Mindestbeitrag freiwillig Versicherter liegt. Schließlich werden bei manchen der Pflichtversicherten die Beiträge nach Maßgabe (§§ 249 bis 251 SGB V) ganz oder zum Teil vom Arbeitgeber oder von einem Dritten getragen oder bei Rentnern bezuschußt (§ 1304e RVO = § 83e AVG; künftig jedoch § 249a SGB V).

Eine ungleiche Behandlung mehrerer Gruppen von Normadressaten ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz jedoch vereinbar, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können; ungleiche Behandlung und rechtfertigender Grund müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen (BVerfGE 82, 126, 146 mwN). Dieses trifft hier zu. Der Gesetzgeber hat nach generellen Merkmalen bestimmte und heute im Katalog des § 5 Abs 1 SGB V aufgeführte Personengruppen als besonders schutzbedürftig angesehen und sie deshalb der Versicherungspflicht unterworfen (Ausnahmen vgl § 5 Abs 5, § 6, § 7 SGB V) . Nur manche von ihnen können der Versicherungspflicht, und dann nur innerhalb einer kurzen Frist, durch eine Befreiung nach § 8 SGB V ausweichen. Versicherungspflichtige durften bei niedrigem Einkommen zu Lasten der Versichertengemeinschaften beitragsmäßig entlastet werden. Zwar konnte der Gesetzgeber entsprechende Vorteile im Interesse einer Gleichbehandlung auch freiwillig Versicherten einräumen, wie das früher anläßlich der erwähnten Herabsetzung des Mindestgrundlohns (§ 180 Abs 4 Satz 1 RVO) vom 150. auf den 180. Teil der Bezugsgröße geschehen war. Daran brauchte er aber nicht festzuhalten, sondern durfte anderen sachgerechten Erwägungen den Vorrang einräumen. Sie liegen in der grundsätzlich geringeren Schutzbedürftigkeit der freiwilligen Mitglieder, deren Krankenversicherung von den Pflichtversicherten möglichst nicht mitfinanziert werden soll. Letzterem vorzubeugen war die Anhebung der Mindestbeiträge geeignet. Freiwillige Mitglieder können auch anders als Pflichtversicherte jederzeit mit einer kurzen Kündigungsfrist austreten (§ 191 Nr 4 SGB V). Anscheinend haben nach der Anhebung der Mindestbeiträge auch manche freiwillig Versicherte dieses Recht ausgeübt, der Auskunft des VdAK zufolge im Bereich der Ersatzkassen vor allem eine größere Zahl zu Mindestbeiträgen versicherter Kinder. Der Gesetzgeber hat diese naheliegende Folge der Beitragserhöhung anscheinend in Kauf genommen; dem entspricht es, daß auch die Versicherungsberechtigung als solche nach § 9 SGB V im Vergleich zum früheren Recht in verschiedener Hinsicht eingeschränkt worden ist (vgl dazu die Begründung des Entwurfs BR-Drucks 200/88 = BT-$Drucks 11/2237 S 160/161 zu § 9). Wer trotz des Austrittsrechts in der gesetzlichen Krankenversicherung geblieben ist, kann nicht mit Erfolg geltend machen, die Mindestbeiträge seien unangemessen hoch. Das gilt auch, wenn der Wechsel zur privaten Versicherung wegen etwaiger Risikoausschlüsse oder -zuschläge ausgeschlossen oder unwirtschaftlich gewesen sein sollte.

Soweit der Kläger die Benachteiligung junger freiwillig versicherter Schwerbehinderter gegenüber pflichtversicherten Behinderten in anerkannten Werkstätten beanstandet, hat der Senat in seinem Urteil vom 10. September 1987 (BSGE 62, 149 = SozR 5085 § 1 Nr 4) die Abgrenzung dieses Kreises der versicherungspflichtigen Behinderten für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten (aaO S 155, damals noch zu den §§ 1, 2 SVBG). Solange die Aufnahme in eine anerkannte Werkstatt nicht erfolgt und damit Versicherungspflicht nicht eintritt, ist der Krankenversicherungsschutz anderweitig sichergestellt oder dieses zumutbar: Entweder durch die beitragsfreie Familienversicherung oder, soweit diese fehlt, durch eine mit Beitragsentrichtung verbundene freiwillige Versicherung in der gesetzlichen oder der privaten Krankenversicherung.

Da sich der Senat hiernach von der Verfassungswidrigkeit der Regelung jedenfalls für Versicherte wie den Kläger nicht überzeugen konnte, schied eine Vorlage an das BVerfG nach Art 100 Abs 1 GG aus. Die Revision war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 13

NZA 1992, 475

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