Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung des Begriffs der Waisenrentenberechtigung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf erhöhte Witwenrente nach RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 ist bereits dann erfüllt, wenn die Witwe ein Kind erzieht, das zum Personenkreis des RVO § 1267 iVm § 1262 Abs 2 gehört; nicht erforderlich ist, daß dem Kind eine Waisenrente zu zahlen ist (Ergänzung zu BSG 1976-08-19 11 RA 110/75 = BSGE 42, 156).

 

Orientierungssatz

Das Tatbestandsmerkmal "waisenrentenberechtigt" in RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 ist in dem Sinne auszulegen, daß darunter ein Kind zu verstehen ist, das die persönlichen Voraussetzungen zum Bezug einer Waisenrente iS des RVO § 1267 iVm § 1262 Abs 2 erfüllt.

 

Normenkette

RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1975-05-07, § 1267 Abs 1, § 1262 Abs 2

 

Verfahrensgang

SG Augsburg (Entscheidung vom 15.02.1979; Aktenzeichen S 5 Ar It 1119/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente nach § 1268 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die im Jahre 1938 geborene Klägerin ist italienische Staatsangehörige und hat ihren Wohnsitz in der Schweiz. Aus ihrer Ehe mit dem Versicherten sind 4 Kinder hervorgegangen: S (geb am 1960-10-12), B (geb am 1964-05-10), F (geb am 1965-04-27) und A (geb am 1966-10-22). Diese wurden von der Klägerin erzogen. Der Versicherte ist am 20. September 1973 verstorben. Er hat in der deutschen Rentenversicherung eine Versicherungszeit von 40 und in der italienischen Rentenversicherung eine Versicherungszeit von 76 Monaten zurückgelegt.

Durch Bescheid vom 23. Januar 1978 gewährte die Beklagte der Klägerin Witwenrente nach § 1268 Abs 1 RVO. Dem Begehren der Klägerin auf Gewährung der höheren Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO hielt die Beklagte entgegen, waisenrentenberechtigte Kinder seien nicht vorhanden. Die Gewährung von Waisenrenten an Berechtigte, die sich nicht in einem Mitgliedstaat der EG aufhalten, richte sich allein nach deutschem Recht. Hiernach sei die Wartezeit nicht erfüllt.

Durch Urteil vom 15. Februar 1979 hat das Sozialgericht (SG) Augsburg die Beklagte zur Gewährung der erhöhten Witwenrente verurteilt mit der Begründung, der Begriff "waisenrentenberechtigtes Kind" in § 1268 Abs 2 RVO setze nicht voraus, daß dem Kind konkret ein Anspruch auf Waisenrente zustehe; entsprechend der Rechtsprechung zu § 1265 Satz 2 Nr 2 RVO genüge es, wenn das Kind zum Personenkreis des § 1267 iVm § 1262 RVO gehöre. Mit ihrer vom Sozialgericht (SG) zugelassenen Sprungrevision trägt die Beklagte vor, waisenrentenberechtigt könne nur der sein, der alle materiellen Voraussetzungen eines Rentenanspruchs erfülle. Dies sei hier nicht der Fall. Nach den Vorschriften der EG-VO Nr 1408/71 könne die Wartezeit für die Waisenrente hier nur mit deutschen Beiträgen erfüllt werden. Mit der deutschen Versicherungszeit von 40 Monaten sei jedoch die Wartezeit nicht erfüllt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Augsburg vom 15. Februar 1979

aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die erhöhte Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO.

Für die Gewährung einer Witwenrente sieht das Gesetz in § 1268 RVO zwei verschiedene Anspruchsvoraussetzungen vor. Die "kleine" Witwenrente nach § 1268 Abs 1 RVO stellt neben der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Bedingungen keine weiteren Bedingungen auf, die erhöhte Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO ist hingegen nur dann zu gewähren, wenn die Witwe weitere Voraussetzungen erfüllt. Entweder muß sie das 45. Lebensjahr vollendet haben oder berufs- oder erwerbsunfähig sein oder sie muß mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erziehen oder für ein Kind, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhält, sorgen. Da die Klägerin, worüber zwischen den Beteiligten kein Streit besteht, weder das 45. Lebensjahr vollendet hat noch berufs- oder erwerbsunfähig ist, noch ein gebrechliches Kind hat, hängt ihr Anspruch lediglich davon ab, ob sie mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht.

Die Beklagte zieht nicht in Zweifel, daß das Tatbestandsmerkmal der Erziehung bei mindestens einem der vier ehelichen Kinder vorliegt, sie hält aber den Anspruch auf erhöhte Witwenrente deshalb für unbegründet, weil keinem Kind eine Waisenrente zu zahlen ist. Diese Rechtsauffassung hält der Senat für nicht begründet, ihr kann schon nach der Wortfassung des § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO nicht gefolgt werden. Diese Norm betrifft zwei verschiedene Tatbestände, die auf Kinder bezogen sind: Einmal die Erziehung eines Kindes und zum anderen die Sorge für ein gebrechliches Kind. Im ersten Fall fordert das Gesetz, daß dieses Kind "waisenrentenberechtigt" sein muß, im zweiten Fall, daß das Kind "Waisenrente erhält". Schon dieser Unterschied im Gesetzeswortlaut macht deutlich, daß es für die Frage der Waisenrentenberechtigung nicht darauf ankommen kann, ob die Waise auch tatsächlich eine Rente bezieht, denn es ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber zwei verschiedene Tatbestände kennzeichnen will, wenn er in einem Satz zwei verschiedene Formulierungen verwendet. Demgemäß ist es entgegen der Auffassung der Beklagten für den Anspruch der Klägerin unerheblich, ob ihren Kindern Waisenrente zu zahlen ist. Für die Frage, was als Waisenrentenberechtigung im Sinne des § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO zu verstehen ist, kommt es vielmehr darauf an, ob das Kind die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, die es im Regelfall berechtigen, eine Waisenrente zu beziehen. Diese Voraussetzungen ergeben sich aus § 1267 RVO.

Durch die Erhöhung der Witwenrente im Falle der Kindererziehung beabsichtigte der Gesetzgeber, der Witwe einen finanziellen Ausgleich dafür zu gewähren, daß sie ihre Zeit für die Erziehung eines oder mehrerer Kinder einsetzt anstatt einer Berufstätigkeit nachzugehen.

Dieser Zweck war bereits erklärtes Ziel des Gesetzgebers bei der erstmaligen Einführung des Tatbestandes, einen Witwenrentenanspruch durch Kindererziehung zu begründen, wie das durch § 13 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 1937-12-21 (RGBl I S 1391) geschehen ist. Bereits damals wies das Reichsversicherungsamt (RVA) darauf hin, daß diese Vergünstigung - gemeint ist der Rentenanspruch der Witwe - nicht nur im Interesse der Witwe selbst liege, sondern auch in dem der Kinder, deren Erziehung durch eine Beschäftigung der Mutter nicht gefährdet werden soll (RVA, Rundschreiben vom 1938-10-03 in EuM 43, 289, 290). Und bereits in der Entscheidung vom 1939-06-09 führt das RVA aus: "Das RVA geht hierbei von der Erwägung aus, daß nach der Absicht des Gesetzgebers die Witwe durch diese neue Vorschrift in den Stand versetzt werden soll, möglichst ohne Lohnarbeit auszukommen, damit die Erziehung der Kinder nicht etwa durch eine Erwerbstätigkeit der Mutter gefährdet werde". (EuM 45, 203, 204). Auch die Gewährung der erhöhten Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO anstatt der kleinen Witwenrente nach § 1268 Abs 1 RVO für den Fall der Kindererziehung beruht auf den gleichen Erwägungen. Wesentlich dafür ist, daß die Witwe ein Kind erzieht, nicht erheblich ist, ob diesem Kind auch eine Waisenrente gezahlt wird. Allerdings reicht es nach der im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willensrichtung des Gesetzgebers nicht aus, daß die Witwe irgendein Kind erzieht, das Kind muß vielmehr in einer versicherungsrechtlich erheblichen Beziehung zum Versicherten - ob auch eine versicherungsrechtliche Beziehung zu einer anderen Person ausreichen könnte, kann hier dahingestellt bleiben - gestanden haben. Ist diese Beziehung gegeben, so kann es für den Anspruch der Witwe nicht darauf ankommen, ob auch das Kind Leistungsempfänger ist. Demgemäß ist das Tatbestandsmerkmal "waisenrentenberechtigt" in § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO in dem Sinne auszulegen, daß darunter ein Kind zu verstehen ist, das die persönlichen Voraussetzungen zum Bezug einer Waisenrente im Sinne des § 1267 iVm § 1262 Abs 2 RVO erfüllt (so auch Zweng-Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Stand 1980-04-01, § 1268 Anm I 2 B b); wohl auch Koch-Hartmann, AVG, Stand Juli 1967, § 45 Anm C I 3). Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Entscheidung 11 RA 110/75 vom 1976-08-19 (BSGE 42, 156). Zwar war in diesem Fall über die Vorschrift des § 42 Satz 2 Nr 2 AVG zu entscheiden, dennoch besteht zwischen dieser Norm und dem hier in Betracht kommenden § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO insofern ein sachlicher Zusammenhang, als § 42 Satz 2 Nr 2 AVG den Anspruch auf eine Rente aus abgeleiteter Versicherung (der früheren Ehefrau) davon abhängig macht, daß sie mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht. Die Verwendung der gleichen Wortfassung für einen vergleichbaren Sachverhalt zwingt dazu, in beiden Fällen zu gleicher Auslegung zu gelangen.

Da die Klägerin, wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, zumindest das am 1966-10-22 geborene aus der Ehe mit dem Versicherten stammende Kind erzieht, ist ihr Anspruch auf erhöhte Witwenrente begründet.

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des SG war demgemäß zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1657773

BSGE, 271

Breith. 1981, 695

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