Entscheidungsstichwort (Thema)

Streitgenossenschaft im Sozialgerichtsverfahren durch nachträgliche Verbindung

 

Leitsatz (amtlich)

Wird die Klage eines Wehrdienstbeschädigten gegen den Bund wegen Versorgung im Wehrdienst mit der Klage gegen ein Land wegen Versorgung nach dem Wehrdienst verbunden, so sind Bund und Land auch dann notwendige Streitgenossen, wenn der Kläger nicht die Feststellung des einheitlichen Versorgungsverhältnisses, sondern die unterschiedlichen Versorgungsleistungen beantragt.

 

Orientierungssatz

1. Die Streitgenossenschaft entsteht auch im Sozialgerichtsverfahren nicht nur dadurch, daß mehrere Rechtsträger gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden, sondern auch durch nachträgliche Verbindung mehrerer zunächst selbständig erhobener Klagen.

2. Wenn über den Versorgungsanspruch für die Zeit während des Wehrdienstes nicht getrennt, sondern gleichzeitig in einem Verfahren entschieden wird, in dem die beiden Beklagten Streitgenossen - hier durch Verbindung der Klage gegen das Land und der Klage gegen den Bund - sind, so verhindert § 88 Abs 7 S 2 Nr 3 SVG mit Hilfe des § 62 ZPO (ebenfalls) unterschiedliche Entscheidungen.

 

Normenkette

SVG § § 80, 88 Abs 3 S 1, § 88 Abs 7 S 2 Nr 3; SGG § 74; ZPO § 62 Abs 1; SGG § 113 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 06.08.1985; Aktenzeichen L 2 V 9/81)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 16.12.1980; Aktenzeichen S 18 V 76/79)

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob dem Kläger Anspruch auf Versorgung für die Zeit nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses zusteht.

Der Kläger war vom 1. April 1974 bis 31. März 1978 bei der Bundeswehr Soldat auf Zeit. Am 21. Oktober 1977 trat er von Lorch (Rhein) aus nach Dienstschluß mit seinem Pkw die Heimfahrt zu seinen Eltern in Mettlach an. Unterwegs machte er gegen 18.00 Uhr in Greimerath Station, wo er im Haus eines Kameraden eine von diesem vergessene Jacke abgab, etwas aß und trank und sich über ein Manöver unterhielt, an dem er nicht teilgenommen hatte. Zwischen 21.45 Uhr und 22.00 Uhr setzte er die Heimfahrt fort. Gegen 22.30 Uhr erlitt er in der Gemarkung Brotdorf - aus Richtung Mettlach kommend - einen Verkehrsunfall, bei dem er sich ua eine Brustwirbelfraktur mit Querschnittslähmung zuzog. Nach seiner Darstellung ereignete sich der Unfallhergang wie folgt: Er, der Kläger, habe auf dem Nachhauseweg im Scheinwerferlicht seines Wagens am Straßenrand einen dunklen Körper oder Gegenstand bemerkt, den er nicht habe identifizieren können. Da es sich möglicherweise um einen verunglückten Menschen gehandelt habe, habe er sich entschlossen, bei der nächsten Abzweigung zu wenden. Nach etwa 500 m sei er zurückgefahren. In einer Linkskurve sei ihm ein Fahrzeug mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegengekommen. Dadurch habe er den Straßenverlauf nicht mehr erkannt. Er habe scharf gebremst, sei auf der nassen, mit Rollsplitt versehenen Fahrbahn ins Schleudern geraten und die Straßenböschung nach rechts hinuntergefahren.

Der Antrag des Klägers, ihm wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung für die Dauer seiner Dienstzeit Ausgleich (§ 85 Abs 1 Soldatenversorgungsgesetz -SVG-) zu leisten, wurde vom Wehrbereichsgebührnisamt mit der Begründung abgelehnt, daß er sich aufgrund vierstündiger Unterbrechung in Greimerath vom Wehrdienst gelöst und sich zur Zeit des Unfalls nicht mehr auf einem versorgungsrechtlich geschützten Heimweg befunden habe (Bescheid vom 9. Januar 1979). Sein Antrag, ihm für die Zeit nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen Folgen einer Wehrdienstbeschädigung Versorgung (§ 80 SVG) zu gewähren, wurde vom Versorgungsamt mit im wesentlichen derselben Begründung abgelehnt (Bescheid vom 27. April 1979).

Das Sozialgericht (SG), hat die gegen diese Bescheide gerichteten Klagen verbunden und ihnen stattgegeben. Es hat die Bundesrepublik Deutschland verurteilt, dem Kläger für die Zeit von Oktober 1977 bis März 1978 dem Grunde nach Ausgleich zu zahlen. Den Beklagten hat verurteilt, dem Kläger ab April 1978 dem Grunde nach Versorgung zu gewähren (Urteil vom 16. Dezember 1980). Die Bundesrepublik Deutschland hat gegen das ihr am 5. Januar 1981 zugestellte Urteil am 23. Januar 1981, der Beklagte gegen das ihm am 6. Januar 1981 zugestellte Urteil am 13. Februar 1981 Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG), das die Verbindung der beiden Rechtsstreitigkeiten wieder aufgehoben hat, hat auf die Berufung der Bundesrepublik Deutschland nach Beiladung des hier Beklagten die Klage auf Ausgleich rechtskräftig abgewiesen (Urteil vom 6. August 1985). Es hat ferner, ohne die Bundesrepublik Deutschland beigeladen zu haben, die Berufung des hier Beklagten gegen das die Versorgung aussprechende Urteil wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist als unzulässig verworfen (hier maßgebendes Urteil ebenfalls vom 6. August 1985).

Der Beklagte rügt mit der - vom Senat zugelassenen - Revision die Verletzung der §§ 88 Abs 7 Satz 2 Nr 3 SVG, 75 Abs 2 Regelung 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern ein Sachurteil erlassen müssen. Die von der Bundesrepublik Deutschland am 23. Januar 1981 eingelegte Berufung habe die Rechtsmittelfrist auch zu seinen Gunsten gewahrt. Zwischen den Beklagten habe eine notwendige Streitgenossenschaft bestanden. Das LSG hätte die Verbindung der beiden Verfahren nicht wieder aufheben dürfen.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG für das Saarland vom 6. August 1985 und das Urteil des SG für das Saarland vom 16. Dezember 1980, soweit es darin um Versorgung für die Zeit ab April 1978 geht, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die vom LSG vorgenommene Trennung der Verfahren für nicht rechtsfehlerhaft, weil weder ein Fall der notwendigen Streitgenossenschaft noch ein solcher der notwendigen Beiladung vorgelegen habe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des beklagten Landes ist begründet.

Das angefochtene Urteil des LSG ist aufzuheben. Das LSG hätte die Berufung des beklagten Landes nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in der Sache entscheiden müssen.

Das beklagte Land hat zwar die Berufungsfrist versäumt, es ist aber als durch die Bundesrepublik vertreten anzusehen. Das folgt aus § 62 Abs 1 Zivilprozeßordnung (ZPO), der nach § 74 SGG entsprechend auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt. Nach dieser Vorschrift wird ein säumiger Streitgenosse als durch den nicht säumigen vertreten angesehen, wenn das streitige Rechtsverhältnis allen Streitgenossen gegenüber nur einheitlich festgestellt werden kann oder die Streitgenossenschaft aus einem sonstigen Grunde eine notwendige ist.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt.

Das beklagte Land und die Bundesrepublik waren damals Streitgenossen. Denn die Klage gegen das Land und die Klage gegen den Bund sind durch Gerichtsbeschluß (§ 113 Abs 1 SGG) wirksam verbunden worden. Streitgenossenschaft entsteht auch im Sozialgerichtsverfahren nicht nur dadurch, daß mehrere Rechtsträger gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden, sondern auch durch nachträgliche Verbindung mehrerer zunächst selbständig erhobener Klagen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 74 RdNr 3).

Das streitige Rechtsverhältnis konnte auch nur einheitlich gegenüber Bund und Land festgestellt werden, denn streitiges Rechtsverhältnis ist hier das Versorgungsverhältnis. Dieses Verhältnis beruht auf der behaupteten Wehrdienstbeschädigung und der darauf zurückzuführenden Gesundheitsstörung. Es besteht gegenüber Bund und Land in gleicher Weise, denn beide Rechtsträger sind für dieses Versorgungsverhältnis - nur in unterschiedlichen Zeiträumen - zuständig.

Es ist allerdings einzuräumen, daß der Kläger nicht die Feststellung dieses Versorgungsverhältnisses, sondern die Verurteilung der beiden Beklagten zur Gewährung von Versorgung dem Grunde nach beantragt hat. Dieser Antrag zwingt aber nicht, anzunehmen, das Versorgungsverhältnis sei nicht das streitige, sondern nur das vorgreifliche Rechtsverhältnis. Wenn es nur das vorgreifliche Rechtsverhältnis wäre, so wäre zu beachten, daß nach einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur zu § 62 ZPO ein einheitliches vorgreifliches Rechtsverhältnis, über das in den Urteilsgründen zu entscheiden ist, nicht dazu führt, diese Vertretungsregelung anzuwenden (vgl Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl, §62 Anm II 2 = Rdn 10 bis 13 mwN). Es wird vielmehr in Kauf genommen, daß durch Fristversäumnis eines Beteiligten widersprüchliche Entscheidungen hinsichtlich eines vorgreiflichen Rechtsverhältnisses getroffen werden müssen.

Der Gesetzgeber des SVG nimmt das aber nicht in Kauf. In § 88 Abs 7 Satz 2 Nr3 SVG ist bestimmt, daß eine sozialgerichtliche Entscheidung in einem soldatenversorgungsrechtlichen Rechtsstreit gegen die Bundesrepublik insoweit auch in einem versorgungsrechtlichen Rechtsstreit gegen ein Land verbindlich ist, wie über die Frage einer Wehrdienstbeschädigung und den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Wehrdienstbeschädigung entschieden worden ist. Entsprechendes gilt nach dieser Vorschrift auch für den umgekehrten Fall, daß nämlich zuerst in einem Rechtsstreit gegen das Land entschieden wird. - Diese Erstreckung der Bindungswirkung eines Urteils auf das Verhältnis zu einem nicht beteiligten Rechtsträger beschränkt sich nicht auf die Entscheidungen, in denen das Versorgungsverhältnis im Sinne einer Feststellungsklage Streitgegenstand ist. Die Bindungswirkung, die § 88 Abs 7 SVG bezeichnet, geht auch von Entscheidungen aus, in denen, wie hier, der Versorgungsanspruch Streitgegenstand ist und über das Versorgungsverhältnis nur in den Gründen entschieden wird. Das ergibt schon der Wortlaut dieser Vorschrift, die von den Entscheidungen "in Angelegenheiten" der Versorgung während des Wehrdienstes und von dem "Anspruch" auf Versorgung für die Zeit nach dem Wehrdienst spricht.

Durch § 88 Abs 7 Satz 2 Nr 3 SVG wird somit in erster Linie verhütet, daß in Fällen, in denen über den Versorgungsanspruch für die Zeit während des Wehrdienstes und über den Versorgungsanspruch nach Beendigung des Wehrdienstes nacheinander in verschiedenen Verfahren entschieden wird, unterschiedliche Entscheidungen über das Versorgungsverhältnis ergehen. Wird über beide Versorgungsansprüche, wie hier, nicht getrennt, sondern gleichzeitig in einem Verfahren entschieden, in denen die beiden Beklagten Streitgenossen sind, so verhindert § 88 Abs 7 Satz 2 Nr 3 SVG mit Hilfe des § 62 ZPO ebenfalls unterschiedliche Entscheidungen. Dem steht nicht entgegen, daß unter dem "streitigen Rechtsverhältnis" iS des § 62 ZPO in aller Regel nur der Streitgegenstand zu verstehen ist, wie er durch den Klageantrag bestimmt wird. Denn hier besagt § 88 Abs 7 Satz 2 Nr 3 SVG, daß das Versorgungsverhältnis auch dann das streitige Rechtsverhältnis ist, wenn der Kläger keine Feststellungsklage, sondern schon eine Leistungsklage erhebt. Die im öffentlichen Interesse festgelegte Bindungswirkung kann nicht davon abhängig sein, welche Klageart im Einzelfall in Betracht kommt. Dies ist auch deshalb nicht möglich, weil die Klageart - Feststellungs- oder Leistungsklage - gegenüber öffentlich-rechtlichen Rechtsträgern oft sogar im Belieben des Klägers liegt.

Die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Gesetz (§ 88 Abs 3 SVG) eine Korrekturmöglichkeit vorsieht, wenn entgegen dem Plan des Gesetzes unterschiedliche Entscheidungen über das Versorgungsverhältnis ergehen. Denn gerade diese Korrektur soll durch die Vertretungsvermutung des § 62 Abs 1 ZPO erübrigt werden.

Da die Revision begründet ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Obwohl das LSG nur ein Prozeßurteil erlassen hat, sind die festgestellten Tatsachen für eine Sachentscheidung jedenfalls insoweit zu verwerten, wie sie unbestritten sind (BSG SozR 1500 § 163 Nr 1). Die unbestrittenen Tatsachen reichen hier auch aus. Denn es steht fest, daß das LSG in der Ausgleichsangelegenheit gegen den Bund das Urteil des SG aufgehoben und die Klage mit der Begründung abgewiesen hat, ein Versorgungsverhältnis bestehe nicht. Da der Kläger dagegen kein Rechtsmittel eingelegt hat, ist rechtskräftig entschieden, daß keine Wehrdienstbeschädigung vorliegt. Diese Entscheidung ist nach § 88 Abs 7 Satz 2 Nr 3 SVG auch in der hier anhängigen Versorgungssache gegen das Land verbindlich. Der Senat weicht damit nicht von seinem Urteil vom 28. März 1984 (SozR 3200 § 88 Nr 4) ab, wo im Zusammenhang mit der Statthaftigkeit der Berufung die Auffassung vertreten worden ist, die Bindungswirkung trete nur ein, wenn nicht nur über eine Wehrdienstbeschädigung sondern auch über den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Wehrdienstbeschädigung und einer Gesundheitsstörung entschieden worden ist. Denn hier ist jedenfalls negativ auch über den vom SG bejahten ursächlichen Zusammenhang zwischen der Wehrdienstbeschädigung und der geltend gemachten Gesundheitsstörung entschieden worden. - Im übrigen ist das in der Versorgungssache gegen den Bund ergangene Urteil des LSG für den vorliegenden Rechtsstreit auch deswegen bindend (§ 141 Abs 1 SGG), weil der hier Beklagte zu jenem Rechtsstreit beigeladen worden war (§ 75 Abs 2 Regelung 1 SGG). Über das zwischen Kläger und Beklagtem bestehende Grundverhältnis darf nun nicht noch einmal im entgegengesetzten Sinn entschieden werden. Das besagt, das LSG müßte auch im hier zu entscheidenden Fall das Vorliegen einer Wehrdienstbeschädigung verneinen und die Klage abweisen. Eine solche Entscheidung aber kann auch vom Senat vorgenommen werden.

Schließlich ist eine Zurückverweisung nicht wegen Unterlassens der notwendigen Beiladung (§ 75 Abs 2 Regelung 1 SGG) der Bundesrepublik Deutschland geboten. Der eigentliche Verfahrensmangel in zweiter Instanz liegt, wie aufgezeigt, nicht in der fehlenden Beiladung, sondern in der ihr vorgelagerten Wiederaufhebung der Verfahrensverbindung (§ 113 Abs 2 SGG). Sie hat die Notwendigkeit einheitlicher Sachentscheidung in Gefahr gebracht. Dieser Verfahrensmangel indessen wird durch die Sachentscheidung des Senats behoben, die mit der bereits rechtskräftigen Entscheidung des LSG in der Ausgleichsangelegenheit übereinstimmt und die vom LSG nicht anders getroffen werden könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659410

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