Verfahrensgang

SG Stuttgart (Urteil vom 01.08.1990; Aktenzeichen S 14a Ka 3315/89)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 1. August 1990 abgeändert.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 1989 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits hinsichtlich der Beteiligung des Klägers an der vertragsärztlichen Versorgung sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, nachdem sich der Rechtsstreit im kassenärztlichen Bereich erledigt hat, nur noch die Zulässigkeit einer Befristung der Beteiligung des Klägers an der vertragsärztlichen Versorgung.

Der Kläger ist Arzt für Chirurgie und Urologie und Chefarzt der urologischen Abteilung eines Krankenhauses. Er war seit Oktober 1974 in sachlich begrenztem Umfang widerruflich an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung beteiligt. Die Beteiligungskommission für Ersatzkassen beschränkte seine Beteiligung mit Wirkung vom 1. April 1988 weiter (Bescheid vom 5. Mai 1988). Auf seinen Widerspruch, mit dem er sich gegen die Begrenzung der Beteiligung gewandt hatte, erweiterte die beklagte Berufungskommission die Beteiligung und befristete sie nach vorheriger Anhörung des Klägers bis zum 30. Juni 1991 (Bescheid vom 16. Juni 1989).

Der Kläger hat mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart ua geltend gemacht, für eine Befristung seiner Beteiligung an der vertragsärztlichen Versorgung fehle eine Rechtsgrundlage. Zudem werde durch die erstmalige Befristung in dem auf seinen Widerspruch ergangenen Widerspruchsbescheid seine Rechtsstellung verschlechtert. Das sei wegen des Verbotes der reformatio in peius unzulässig. Das SG hat den Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 1989 aufgehoben, soweit er die Befristung betraf, und die Beklagte verurteilt, über den Widerspruch des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (Urteil vom 1. August 1990). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Ermächtigung eines Krankenhausarztes mit abgeschlossener Weiterbildung dürfe gemäß § 116 des Sozialgesetzbuchs, Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) iVm § 31a der Zulassungsverordnung für Kassenärzte (Ärzte-ZV) nicht generell befristet werden. Die Zulässigkeit einer Befristung hänge vielmehr von der Entwicklung der Bedarfssitutation ab, die die Zulassungsgremien im Rahmen der Prüfung des unbestimmten Rechtsbegriffes „ausreichende ärztliche Versorgung” zu berücksichtigen hätten. Bei ihrer Entscheidung hierüber stehe den Zulassungsgremien ein Beurteilungsspielraum zu, der vom Gericht nur beschränkt überprüfbar sei. Da die Beklagte den Beurteilungsspielraum verkannt habe, sei von ihr nicht geprüft worden, ob konkrete Anhaltspunkte für eine Änderung der Bedarfssituation, die eine Befristung der Beteiligung hätten geboten sein lassen, vorhanden seien. Das habe die Beklagte nachzuholen.

Die Beklagte hat die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung materiellen Rechts und legt im einzelnen dar, daß nach § 31a Abs 3 iVm § 31 Abs 7 Ärzte-ZV die Ermächtigung des Klägers zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung zu befristen sei. § 116 Satz 2 SGB V stehe dem nicht entgegen. Dies gelte auch im vertragsärztlichen Bereich.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 1. August 1990 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Auffassung ist weder im kassen- noch im vertragsärztlichen Bereich eine generelle Befristung von Ermächtigungen zur Teilnahme an der kassen- bzw vertragsärztlichen Versorgung zulässig. Im vertragsärztlichen Bereich könne eine Rechtsgrundlage für eine Befristung insbesondere nicht in § 95 Abs 8 Satz 1 SGB V gesehen werden, weil diese Vorschrift gemäß Art 66 des Gesundheitsreformgesetzes (GRG) auf ihn, den Kläger, nicht anzuwenden sei, nachdem er schon seit Oktober 1974 an der vertragsärztlichen Versorgung beteiligt sei.

Die Beigeladene zu 1) beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 1. August 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie verweist ergänzend darauf, daß auch nach dem ab 1. Oktober 1990 geltenden Vertragsarztrecht Krankenhausärzte nur befristet ermächtigt werden dürfen.

Der Beigeladene zu 2), der keinen Antrag stellt, hält eine Befristung der vertragsärztlichen Beteiligung des Klägers für zulässig. Zwar sehe der Arzt-/Ersatzkassenvertrag (EKV-Ärzte) in der bis zum 30. September 1990 gültigen Fassung (aF) nicht ausdrücklich eine Befristung der Beteiligung vor. Jedoch sei gemäß § 32 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) die Beifügung einer Nebenbestimmung zu einem Verwaltungsakt dann möglich, wenn diese sicherstellen solle, daß die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt würden. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Nach § 5 Ziff 6 EKV-Ärzte aF habe eine Beteiligung eines leitenden Krankenhausarztes nur „zur Sicherstellung einer ausreichenden ärztlichen Versorgung” erfolgen dürfen. Die Befristung habe sicherstellen sollen, daß die Beteiligung auch nur solange erfolge, wie sie zur Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung erforderlich sei.

Die übrigen Beteiligten haben sich zur Zulässigkeit einer Befristung der Teilnahme des Klägers an der vertragsärztlichen Versorgung nicht geäußert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Sprungrevision der beklagten Berufungskommission, über die nach Erledigung des Rechtsstreits im übrigen noch zu entscheiden ist, ist begründet.

Die Beklagte war berechtigt, die Beteiligung des Klägers an der vertragsärztlichen Versorgung zu befristen.

Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 27. Februar 1992 – 6 RKa 15/91 -(= SozR 3-2500 § 116 Nr 2) dargelegt, daß Rechtsgrundlage der Befristung von Beteiligungen/Ermächtigungen zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung im Regelfall § 95 Abs 8 Satz 1 SGB V ist, wonach die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten zulässig ist, „soweit und solange” der Arzt oder die ermächtigte ärztlich geleitete Einrichtung an der kassenärztlichen Versorgung nach § 95 Abs 1 Satz 1 SGB V teilnimmt. Danach darf die Berechtigung des Arztes zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung sowohl vom inhaltlichen Umfang her als auch in zeitlicher Hinsicht nicht über Umfang und Dauer der Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung hinausgehen. Zwar schließt Art 66 GRG die Geltung des § 95 Abs 8 Satz 1 SGB V für Ärzte (und Zahnärzte) aus, die am 1. Januar 1977 Vertragsärzte waren oder sich bis zu diesem Zeitpunkt um die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung beworben hatten. Der Kläger war zwar schon seit Oktober 1974 an der vertragsärztlichen Versorgung von Ersatzkassenpatienten beteiligt. Er kann sich dennoch nicht auf den über Art 66 GRG vermittelten Besitzstandsschutz für Vertragsärzte berufen.

Art 66 GRG ist inhaltsgleich mit der Vorläufervorschrift des Art 2 § 6 des Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetzes (KVWG) vom 28. Dezember 1976 (BGBl I S 3871) und schreibt dessen Übergangsregelung fort. Eine derartige Vorschrift war notwendig geworden, nachdem durch den – inzwischen durch das GRG aufgehobenen – § 525c Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Art 1 § 1 Nr 26 KVWG die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung von der Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit abhängig gemacht worden war. Die Übergangsvorschrift sollte dem Schutz des Besitzstandes derjenigen Ärzte dienen, die bei Inkrafttreten des § 525c Abs 1 Satz 1 RVO aF Vertragsärzte waren oder sich als solche beworben hatten (vgl Begr des Entwurfs zum KVWG, BT-Drucks 7/3336, S 31, zu Art 2 § 11; BSG SozR 5503 Art 2 § 6 Nr 1). Ebenso will die Nachfolgevorschrift des Art 66 GRG die erworbenen Rechte der von ihr erfaßten Ärzte schützen (vgl Begr des von den Regierungsfraktionen eingebrachten Entwurfs des GRG zu Art 61, BT-Drucks 11/2237, S 272). Regelungszweck des Art 2 § 6 KVWG war und des Art 66 GRG ist es mithin, denjenigen Ärzten, die vor dem 1. Januar 1977 vertragsärztlich tätig waren oder sich um eine Beteiligung an der vertragsärztlichen Versorgung beworben hatten, die Möglichkeit zur weiteren Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung unabhängig von einer Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit zu geben (vgl die die Vorschriften des Art 2 § 6 KVWG, Art 66 GRG in Vertragsrecht umsetzenden Regelungen des § 5 Ziff 14 EKV-Ärzte aF bzw § 36 Ziff 3 des ab 1. Oktober 1990 geltenden EKV-Ärzte – nF –).

Eine Garantie der Beteiligung von (leitenden) Krankenhausärzten an der vertragsärztlichen Versorgung in zeitlicher Hinsicht kann aus den genannten Übergangsvorschriften hingegen nicht abgeleitet werden; denn die Beteiligung eines Krankenhausarztes vermittelt diesem nach dem Vertragsarztrecht von vornherein keine Rechtsposition, die der des niedergelassenen Vertragsarztes gleicht. Ihrer zeitlichen Begrenzung steht daher die Besitzstandsgarantie des Art 66 GRG nicht entgegen. Das ergibt sich aus folgendem: Entsprechend der Regelung im kassenärztlichen Bereich ist Voraussetzung für die Beteiligung von Krankenhausärzten an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung von Versicherten das Bestehen einer Versorgungslücke, die durch die niedergelassenen Vertragsärzte nicht geschlossen werden kann (§ 5 Ziff 6 EKV-Ärzte aF; vgl nunmehr § 7 Abs 3 Satz 1 EKV-Ärzte nF). Dem hat der EKV-Ärzte dadurch Rechnung getragen, daß die Beteiligung von (leitenden) Krankenhausärzten – anders als bei der Rechtslage im kassenärztlichen Bereich – als Ermessensanspruch ausgestaltet war und ist. Hinzu kommt, daß – wie beim Kläger bei seinen ursprünglichen Beteiligungen geschehen – die Beteiligung eines Krankenhausarztes nach der maßgebenden vertraglichen Regelung nur widerruflich erteilt werden durfte (§ 5 Ziff 6 EKV-Ärzte aF). Da es sich – wie ausgeführt – bei der Beteiligung um einen Ermessensanspruch handelt, waren die Beteiligungsgremien unabhängig von dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 32 Abs 1 SGB X berechtigt, anstelle der Beifügung eines Widerrufsvorbehaltes die Beteiligung nach pflichtgemäßem Ermessen zu befristen (§ 32 Abs 2 Nr 1 SGB X). Da die Befristung der Durchsetzung der Widerruflichkeit dient, ist dies nicht zu beanstanden. Die Schutzwirkung des Art 66 GRG reduziert sich damit bei der Beteiligung von Krankenhausärzten darauf, daß ihre Beteiligung nicht deshalb widerrufen werden darf, weil sie an der kassenärztlichen Versorgung nicht oder nicht mehr teilnehmen. Die sich aus Vertragsarztrecht ergebende Befugnis, die Beteiligung eines (leitenden) Krankenhausarztes an der vertragsärztlichen Versorgung zeitlich zu begrenzen, wird von Art 66 GRG dagegen nicht ausgeschlossen.

Schließlich hat der EKV-Ärzte die Einbeziehung von Krankenhausärzten in die ambulante vertragsärztliche Versorgung nach Erlaß des Bescheides der Beklagten neu geregelt. Gemäß § 7 Abs 3 Satz 2 EKV-Ärzte nF ist die Ermächtigung zeitlich, räumlich und ihrem Umfang nach zu begrenzen. Damit ist die Befristung der Ermächtigung von Krankenhausärzten an der vertragsärztlichen Versorgung nunmehr ausdrücklich auch im vertragsärztlichen Bereich vorgeschrieben.

Die Beklagte hat mit dem Widerspruchsbescheid die im Bescheid der Beteiligungskommission zwar widerruflich, aber zeitlich nicht beschränkte Beteiligung des Klägers durch Beifügen der Nebenbestimmung einer Befristung zeitlich begrenzt. Das ist, obgleich hierin eine Teilaufhebung des Ausgangsverwaltungsaktes zuungunsten des Klägers, also eine Verböserung liegt, rechtlich zulässig gewesen.

Mit dem Begriff der Verböserung oder Verschlechterung (reformatio in peius) wird die Veränderung der mit dem Widerspruch angegriffenen Verwaltungsentscheidung im Widerspruchsverfahren zuungunsten des Widerspruchsführers beschrieben. Die hM in Rechtsprechung und Literatur bejaht unter bestimmten Voraussetzungen die Zulässigkeit einer Verböserung, die das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit auf seiten des Widerspruchsführers einerseits und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung andererseits betrifft (vgl zum Meinungsstand jeweils mzN: Sachs in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 3. Aufl 1990, § 48 RdNrn 46 ff; Kopp, VwGO, 9. Aufl 1992, § 68 RdNr 10; Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl 1991, § 85 RdNr 5).

Nach der älteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) war eine reformatio in peius in aller Regel zulässig; entscheidend dafür war, daß das Vertrauen des Widerspruchsführers in den Bestand einer ihm durch einen Verwaltungsakt gewährten Begünstigung nicht in demselben Maße als schutzwürdig angesehen wurde wie das des Betroffenen, der den Verwaltungsakt hatte unanfechtbar werden lassen (vgl BVerwGE 14, 175, 179; 31, 67, 69; eingehend zur Rechtsprechung des BVerwG: Pietzner, VerwArch 1989, 501 ff und 1990, 261 ff). Nach der neueren Rechtsprechung des BVerwG enthält die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) – anders als die Abgabenordnung (AO; vgl § 367 Abs 2 Satz 2 der AO) – keine Regelung über die Verböserung der Rechtsstellung des Widerspruchsführers im verwaltungsgerichtlichen Vorverfahren (BVerwGE 51, 310, 313 ff; 65, 313, 319; BVerwG FamRZ 1986, 399; BVerwG NVwZ 1987, 215 f = DVBl 1987, 238 f; ebenso für das SGG: BSGE 53, 284, 286 = SozR 5550 § 15 Nr 1 = SGb 1984, S 115 m Anm Lüke; BSG – Urteil vom 22. August 1984 – 7 RAr 46/84 – unveröffentlicht). Ein Verbot der Verböserung könne sich (nur) aus dem jeweils anzuwendenden materiellen Bundes- oder Landesrecht ergeben. Sei danach eine Verböserung nicht ausgeschlossen, werde sie aber durch den – nach Bundesverfassungsrecht garantierten – Kernbestand der Grundsätze des Vertrauensschutzes und von Treu und Glauben begrenzt, wobei die Grundsätze über die Rücknahme oder den Widerruf von Verwaltungsakten heranzuziehen seien (vgl BVerwGE 65, 313, 319; BVerwG FamRZ 1986, 399, 400). Das BVerwG wendet mithin die §§ 48 ff VwVfG über die Aufhebung von Verwaltungsakten nicht unmittelbar an, sondern beurteilt die Zulässigkeit des Verböserungsverbotes nur nach den in ihnen enthaltenen Grundsätzen.

In der sozialrechtlichen Literatur wird hingegen zT die Auffassung vertreten, der Widerspruchsbehörde sei es in jedem Fall verwehrt, den angefochtenen Verwaltungsakt zuungunsten des Widerspruchsführers zu verändern. Begründet wird dies vor allem mit der Bindungswirkung des Verwaltungsaktes sowie mit Vertrauensschutzgesichtspunkten (s zB Bley in SozVersGesKomm, SGG, § 85 Anm 2a, 8a, § 78 Anm 4a; Hennig/Danckwerts/König, SGG, § 85 Anm 6.2.; v. Mutius in: Krause/v. Mutius/Schnapp/Siewert, GK-SGB X 1, § 62 RdNr 35). Nach aA wird die Widerspruchsbehörde für berechtigt gehalten, unter den Voraussetzungen, unter denen ein rechtwidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden kann, den angefochtenen Verwaltungsakt zu verbösern (Krasney/ Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, Kap IV RdNr 44; Meyer-Ladewig, aaO, § 85 RdNr 5; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, 4. Aufl, § 78 Anm 6; Schneider-Danwitz, SozVersGesKomm, SGB X, Vorbem zu § 44, Anm 15, e, cc). Zur Begründung wird darauf abgestellt, daß die Widerspruchsstelle noch im Rahmen des Verwaltungsverfahrens tätig werde und ihr dieselben Befugnisse wie jener Stelle zustünden, die den Verwaltungsakt erlassen habe.

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hatte zunächst die Zulässigkeit einer reformatio in peius im Widerspruchsverfahren generell verneint. So ist im Urteil vom 20. April 1961 (BSGE 14, 154, 157 f = SozR Nr 24 zu § 77 SGG) von einem Verbot der reformatio in peius im Regelungsbereich der gesetzlichen Rentenversicherung ausgegangen und im Urteil vom 23. April 1964 (SozR Nr 44 zu § 77 SGG) auch für die Kriegsopferversorgung in einer beiläufigen Bemerkung die Verböserung im Widerspruchsverfahren ausgeschlossen worden. Rechtlicher Ausgangspunkt war in beiden Urteilen die dem Verwaltungsakt zukommende Bindungswirkung, aufgrund derer es der erlassenden Behörde nicht gestattet sei, den Verwaltungsakt ohne rechtliche Grundlage zu verbösern.

Diesem Ansatz ist das BSG auch in seinen jüngeren Entscheidungen zur reformatio in peius gefolgt. Es hat – insoweit abweichend von den Entscheidungen des BVerwG – die Zulässigkeit einer Verböserung nicht anhand der allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts überprüft, sondern darauf abgestellt, inwieweit die Bindungswirkung des Verwaltungsaktes durchbrochen werden kann. So hat das BSG (Urteil des erkennenden Senats vom 8. Juni 1982 = BSGE 53, 284 ff = SozR aaO; vgl zuvor bereits Urteil des Senats vom 1. März 1979 = SozR 1200 § 34 Nr 8 S 39, wo die Frage der Zulässigkeit einer Verböserung noch offengelassen werden konnte) in dem zu entscheidenden Fall, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Honorarkürzung ging, ein „grundsätzlich” bestehendes Verböserungsverbot auf die Bindungswirkung des angegriffenen Verwaltungsaktes gestützt, die dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit Rechnung trage. Soweit die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen habe, nicht zu seiner Aufhebung berechtigt sei, stehe grundsätzlich auch der Widerspruchsbehörde ein solches Recht nicht zu (BSGE aaO, 287 f). Demgemäß ist geprüft worden, ob die Widerspruchsbehörde zur Rücknahme des Verwaltungsaktes berechtigt war. Nach der genannten Entscheidung ist eine Verböserung dann nicht ausgeschlossen, wenn aufgrund gesetzlicher Regelung eine Befugnis zur Aufhebung des Verwaltungsaktes besteht. Dieser Rechtsprechung sind der 7. Senat des BSG (Urteil vom 22. August 1984 – aaO) und der 9. Senat (Urteil vom 6. September 1989 – 9/9a RVs 17/87 = SozR 1300 § 45 Nr 46 S 150) im Ergebnis gefolgt. Sie haben entschieden, daß eine Befugnis der Widerspruchsbehörde zur Veränderung des angegriffenen Verwaltungsaktes zuungunsten des Widerspruchsführers, dann bestehen kann, wenn die Voraussetzungen des § 45 SGB X für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes vorliegen.

Der aufgezeigten jüngeren Rechtsprechung des BSG schließt sich der Senat mit den für das Beteiligungsrecht des EKV-Ärzte gebotenen Modifikationen an. Maßgebend hierfür sind folgende Gesichtspunkte:

Die Verwaltung ist bereits mit dem Erlaß des Verwaltungsaktes, also mit seiner Bekanntgabe gegenüber dem Betroffenen (§ 37 SGB X), an ihn gebunden (§ 39 Abs 1 Satz 1 SGB X; vgl zB BSGE 47, 288, 292 = SozR 2200 § 183 Nr 19; BSGE 53, 284, 287 = SozR aaO), von Fällen der Anfechtung durch Drittbetroffene abgesehen, die – da sie keinen Fall der reformatio in peius betreffen – außer Betracht bleiben können. Dabei muß der Verwaltungsakt, damit eine Verböserung begrifflich überhaupt möglich ist, eine den Widerspruchsführer begünstigende Entscheidung enthalten, die auch darin liegen kann, daß eine Belastung nur in einem gewissen Umfang festgelegt worden ist. Die Anfechtung des Verwaltungsaktes durch den Betroffenen mit dem Rechtsbehelf des Widerspruchs durchbricht die Bindung der erlassenden Behörde an den Verwaltungsakt nur insoweit, als der Widerspruchsführer die belastende Regelung angreift. Die in dem Verwaltungsakt getroffene begünstigende Entscheidung wird mit dem Widerspruch dagegen nicht – erneut – zur Disposition der Verwaltung gestellt. Insoweit bleibt die Verwaltung an die begünstigende Regelung gebunden. Demgegenüber kann eine Änderungsbefugnis der Widerspruchsbehörde nicht mit dem Argument begründet werden, der Widerspruchsbehörde stehe die gleiche Entscheidungskompetenz wie der Erstbehörde zu (s aber Kopp, aaO, § 68 RdNr 10; vgl jedoch auch RdNr 12). Die Beantwortung der kompetenzrechtlichen Frage, ob die Widerspruchsbehörde in demselben Umfang zur Sachentscheidung befugt ist wie die Erstbehörde, besagt nichts über eine Berechtigung, die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes zu durchbrechen.

Eine solche Durchbrechung ist jedoch aufgrund gesetzlicher Ermächtigung, so zB unter den Voraussetzungen der §§ 44 ff SGB X, zulässig (so auch BSG-Urteil vom 22. August 1984 – aaO). Dem steht die Vorschrift des § 77 SGG nicht entgegen. Danach wird ein Verwaltungsakt, gegen den ein Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt worden ist, in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. § 77 SGG hat jedoch durch die Regelungen des SGB X über die Aufhebung von Verwaltungsakten seine praktische Bedeutung verloren und enthält keine darüber hinausgehende Beschränkung der Aufhebung von Verwaltungsakten (Bley, aaO, § 77 Anm 1b), so daß auf ihn auch eine Aussage über ein Verbot der reformatio in peius nicht gestützt werden kann. Die Zulässigkeit einer Verböserung im Widerspruchsverfahren beurteilt sich daher – abgesehen von der kompetenzrechtlichen Problematik, auf die noch einzugehen sein wird – danach, ob die Widerspruchsbehörde berechtigt ist, die Bindungswirkung des Verwaltungsaktes zu durchbrechen (ebenso: BSG-Urteil vom 22. August 1984 – aaO; BSG SozR 1300 § 45 Nr 46 S 150). Eine derartige Befugnis kann sich aus den §§ 44 ff SGB X ergeben. Die Rechtsprechung des BSG geht dabei ersichtlich von einer unmittelbaren – also nicht entsprechenden – Anwendung der §§ 44 ff SGB X aus. Das hat zur Folge, daß bei der (Teil-)Aufhebung eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes die in § 45 Abs 2 SGB X normierten Vertrauensschutzgesichtspunkte ohne Einschränkung zu prüfen sind. Die Einlegung des Widerspruchs bedingt mithin keinen geringeren Vertrauensschutz für den Widerspruchsführer (dazu Schneider-Danwitz, aaO, Anm 19d). Diesem Ansatz steht die in der Literatur vertretene Auffassung nicht entgegen, wonach die §§ 68 ff VwGO (= §§ 78 ff SGG) lex specialis zu den verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten seien, so daß eine Verböserung nicht an die Voraussetzungen über die Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte gebunden sei (so Kopp, aaO, § 68 RdNr 10); denn die Regelungen des Vorverfahrens in der VwGO und im SGG enthalten – wie aufgezeigt – keine Aussage über die Zulässigkeit einer Verböserung im Widerspruchsverfahren, so daß unter Berufung auf ihren – angeblichen – Vorrang die Anwendung der §§ 44 ff SGB X nicht ausgeschlossen werden kann. Die Befugnis zur Verböserung kann des weiteren nicht aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung abgeleitet werden (s Kopp, aaO, RdNr 10). Für die Anwendung dieses verfassungsrechtlichen Grundsatzes macht es keinen Unterschied, ob ein Verwaltungsakt von den betroffenen Verfahrensbeteiligten mit einem Widerspruch angegriffen worden ist oder nicht. Im Gegenteil besagt der genannte Grundsatz, daß die Verwaltung nur solche Maßnahmen auch verfahrensrechtlicher Art ergreifen darf, zu denen sie nach den gesetzlichen Regelungen befugt ist. Schließlich kann der Anwendung der §§ 44 ff SGB X durch die Widerspruchsbehörde nicht entgegen gehalten werden, daß die genannten Normen die Aufhebung unanfechtbar gewordener Verwaltungsakte zum Inhalt hätten, der mit dem Widerspruch angefochtene Verwaltungsakt aber insoweit gerade nicht unanfechtbar geworden sei. §§ 44 ff SGB X lassen, wie in dem Wort „auch” (nachdem er unanfechtbar geworden ist) zum Ausdruck kommt, eine Aufhebung bereits vor Eintritt der formellen Bestandskraft zu (vgl zB Schnapp in: GK-SGB X 1, § 44 RdNr 19).

Von der Frage, ob eine gesetzliche Ermächtigung der Verwaltung zur Durchbrechung der Bindungswirkung eines mit dem Widerspruch angefochtenen Verwaltungsaktes besteht, ist die weitere Frage zu unterscheiden, ob die Widerspruchsbehörde berechtigt ist, das Aufhebungsverfahren durchzuführen, oder ob hierfür allein die Zuständigkeit der Erstbehörde gegeben ist. Dabei ist zunächst die Befugnis der Widerspruchsbehörde, aufgrund des Widerspruchs zu entscheiden (Widerspruchskompetenz), zu trennen von der Berechtigung, im Rahmen des Widerspruchsverfahrens als Teil der Verwaltung (Verwaltungskompetenz) zu entscheiden (vgl dazu Schneider-Danwitz, aaO, Vorbemerkung vor § 44 SGB X, Anm 20, 21). Der Widerspruchsbehörde steht dann eine eigene Verwaltungskompetenz zu, dh die Kompetenz, anläßlich des Widerspruchsverfahrens einen rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsakt zurückzunehmen, wenn – was regelmäßig der Fall ist – die Rücknahmeregelung in einem Sachzusammenhang mit der angegriffenen Entscheidung steht (ebenso Schneider-Danwitz, aaO) und die Widerspruchsbehörde nicht allein auf die Rechtsschutzgewährung beschränkt ist; denn das Widerspruchsverfahren ist ein Teil des Verwaltungsverfahrens, in dem die Widerspruchsbehörde in vollem Umfang zur Sachprüfung befugt ist, sofern nicht ausnahmsweise nur eine Rechtskontrollbefugnis besteht (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 85 RdNr 4). Die mit dem Widerspruchsverfahren bezweckte Selbstkontrolle der Verwaltung ist nicht darauf begrenzt, ob eine Regelung den Widerspruchsführer rechtswidrig belastet. Sie umfaßt weiter die Prüfung, ob die getroffene Regelung zweckmäßig und auch, ob sie insgesamt rechtmäßig ist. Daraus ergibt sich, daß die Entscheidungsfreiheit der Widerspruchsstelle im Regelfall nicht geringer als die der Erstbehörde sein kann (s dazu BSG-Urteil vom 22. August 1984 – aaO; vgl auch Bley, aaO, § 78 Anm 4a; Pietzner, VerwArch 1989, S 512). Ein Recht der Widerspruchsbehörde zum Selbsteintritt, wie es früher gefordert wurde, ist nicht erforderlich (BVerwG NVwZ 1987, 215 f = DVBl 1987, 238 f, m Anm Osterloh in JuS 1987, 833).

Die beklagte Berufungskommission durfte die dem Kläger im Bescheid der Beteiligungskommission nur widerruflich erteilte Beteiligung in Ausübung des Widerrufsvorbehaltes in eine zeitlich begrenzte Beteiligung umwandeln. Aus dem Recht des EKV-Ärzte über die Beteiligung von Krankenhausärzten an der vertragsärztlichen Versorgung ergeben sich keine zusätzlichen Einschränkungen der nach den vorstehenden Grundsätzen rechtlich zulässigen reformatio in peius im Widerspruchsverfahren. Hier greifen im Gegenteil zugunsten des den Rechtsbehelf einlegenden Verfahrensbeteiligten Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht ein; denn die Zulässigkeit der Entziehung der Beteiligung oder ihres Widerrufs richtet sich nicht nach den Vorschriften der §§ 44 ff SGB X. Der Senat hat für den kassenärztlichen Zulassungsbereich entschieden, daß § 95 Abs 6 SGB V als lex specialis – über § 37 Satz 1 SGB I – die Regelungen der §§ 44 ff SGB X verdrängt (vgl zuletzt BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 1, mwN; BSG SozR aaO Nr 2, S 11). Entsprechendes gilt für den vertragsärztlichen Bereich. Hier stellt sich die Widerrufsvorschrift des § 7 Ziff 2 iVm § 5 Ziff 6 EKV-Ärzte aF im Verhältnis zu den §§ 45, 48 SGB X als Spezialregelung dar, die gemäß § 37 Satz 1 SGB I die Aufhebungsbestimmungen des SGB X verdrängt.

Die Beklagte war auch unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten befugt, die Entscheidung über die Teilaufhebung des Beteiligungsbescheides zu treffen. Aus dem Recht des EKV-Ärzte ergeben sich in diesem Zusammenhang keine Begrenzungen der Sachkompetenz der Berufungskommission (vgl die Regelung des § 6 Ziff 7 bis 11 EKV-Ärzte aF). Sie ist vielmehr in vollem Umfang berechtigt, in einem zweiten Verwaltungsverfahren (BSGE 55, 97, 99 = SozR 5520 § 33 Nr 1 für den kassenärztlichen Bereich; s auch Schneider, Kassenarztrecht, 1983, S 197) eine Sachentscheidung über den von dem Betroffenen geltend gemachten Beteiligungsanspruch zu treffen. Ihre Entscheidung tritt an die Stelle der Entscheidung der Beteiligungskommission.

Schließlich hat die Beklagte die vor einer Verschlechterung des Beteiligungsbescheides gebotene Anhörung (vgl hierzu schon BSG SozR 1200 § 34 Nr 8) des Klägers gemäß § 24 SGB X durchgeführt.

Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht von den Urteilen des BSG vom 20. April 1961 – aaO – und vom 23. April 1964 – aaO – ab, weil in ihnen das Verbot der reformatio in peius nur für die Bereiche der Rentenversicherung und der Kriegsopferversorgung und mit den rechtlichen Besonderheiten dieser Rechtsgebiete begründet worden ist. Es liegt auch keine Abweichung von der Rechtsprechung des BVerwG iS des § 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl I S 661) vor, weil diese in dem zu entscheidenden Fall zu demselben Ergebnis führen würde.

Der Revision der Beklagten war nach alledem stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174352

BSGE, 274

DVBl. 1993, 1276

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge