Leitsatz (amtlich)

Hat ein Versicherungsträger es abgelehnt, die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen gemäß AVG § 140 Abs 3 (= RVO § 1418 Abs 3) nach Fristablauf zuzulassen, weil kein besonderer Härtefall gegeben sei, so stellt eine sich dagegen richtende Klage auf Gestattung der Nachentrichtung eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (SGG § 54 Abs 1) dar.

Maßgebend für die Beurteilung der Frage, ob ein Fall besonderer Härte vorliegt, ist alsdann die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

 

Orientierungssatz

Eine "besondere Härte" iS von AVG § 140 Abs 3 (= RVO § 1418 Abs 3) ist nur dann anzunehmen, wenn die Nichtzulassung der Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen zu einem Verlust des ganzen versicherungsrechtlichen Anspruchs oder sonst zu einem außergewöhnlichen Schaden führen würde. Dies wird regelmäßig nur dann der Fall sein, wenn weitere Beitragszeiten zur Erfüllung der Wartezeit vorhanden sein müssen oder die nicht mit Pflichtbeiträgen belegten versicherungspflichtigen Beitragszeiten nach ihrem Umfang oder in ihren Auswirkungen ein so erhebliches Ausmaß haben, daß die hierdurch bedingte Beitragslücke zu einer außergewöhnlich niedrigen Rente führt, die auch nicht durch - im Einzelfall finanziell zumutbare - freiwillige Beitragsleistung verbessert werden kann.

 

Normenkette

AVG § 140 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1418 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; SGG § 54 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. Oktober 1974 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte für den Kläger die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen zur Angestelltenversicherung (AnV) nach § 140 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gestatten muß.

Der Kläger war während seines juristischen Vorbereitungsdienstes als Referendar vom 1. April 1960 bis 31. Oktober 1961 unter Fortfall seiner beamtenrechtlichen Bezüge beurlaubt. Er war während dieser Zeit bei der beigeladenen Universität gegen Entgelt als wissenschaftlicher Assistent beschäftigt. Beiträge zur AnV wurden für ihn nicht entrichtet, weil entsprechende Tätigkeiten damals allgemein als versicherungsfrei angesehen wurden.

Seit dem 1. April 1965 ist der Kläger als wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg beschäftigt. Von der AnV-Pflicht ließ er sich nach Art. 2 § 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) damaliger Fassung befreien, weil er eine befreiende Lebensversicherung abgeschlossen hatte. Von den Möglichkeiten, auf diese Befreiung nach Art. 2 § 5a AnVNG in den späteren Fassungen durch Abgabe einer entsprechenden Erklärung gegenüber der Beklagten zu verzichten, machte er keinen Gebrauch. Er ist auch jetzt noch von der Versicherungspflicht befreit.

Mit Urteil vom 11. März 1970 entschied der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG), daß eine entsprechende Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft an einer Universität angestelltenversicherungspflichtig ist (BSG 31, 66ff). Unter Berufung hierauf beantragte der Kläger im Dezember 1971 bei der Beklagten, die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen für den genannten Zeitraum zuzulassen. Die Beigeladene schloß sich diesem Antrage an und erklärte sich zur Nachentrichtung bereit.

In ihrem Bescheid vom 17. Mai 1972 und in ihrem Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 1972 führte die Beklagte aus, ein Fall von besonderer Härte (§ 140 AVG), der die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen nach Ablauf der gesetzlichen Fristen rechtfertigen würde, sei nicht gegeben. Dem Kläger, für den zur Zeit des Nachentrichtungsantrages insgesamt 47 Beitragsmonate vorhanden waren, sei zwar aufgrund der unterbliebenen Beitragsentrichtung das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung nach der derzeitigen Rechtslage verschlossen. Hierin liege aber für ihn deshalb keine besondere Härte, weil er sich im Jahre 1965 von der Versicherungspflicht habe befreien lassen und somit auf den Schutz der Sozialversicherung zugunsten einer damals abgeschlossenen Lebensversicherung verzichtet habe. Außerdem habe er darauf vertraut, daß sein Arbeitgeber seine versicherungsrechtliche Stellung richtig beurteilt habe, und somit nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt walten lassen.

Die dagegen erhobene Klage auf Aufhebung des Widerspruchsbescheides und Verurteilung der Beklagten zur Annahme von Pflichtversicherungsbeiträgen für den Zeitraum vom 1. April 1960 bis 31. Oktober 1961 - wie von der Beigeladenen angeboten -, wurde vom Sozialgericht (SG) Hamburg durch Urteil vom 5. Februar 1974 abgewiesen. Der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung eingetretene Wandel in der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung der entgeltlichen Nebentätigkeit von Beamten aus versicherungspflichtiger Beschäftigung lasse eine besondere Härte im Sinne des § 140 Abs. 3 AVG für den Kläger nicht erkennen. Es sei nicht ersichtlich, daß er bei einem Versicherungsfall in seinen Leistungsansprüchen durch den Ausfall von Pflichtbeitragszeiten von April 1960 bis Oktober 1961 besonders schwer betroffen werde. Da ihm zudem jetzt aufgrund des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) sowohl die freiwillige Weiterversicherung als auch die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeit vom 1. Januar 1956 an eröffnet worden sei, könne sich eine besondere Härte bei Nichtzulassung der von ihm gewünschten Nachentrichtung nicht ergeben.

Die Berufung des Klägers blieb erfolglos. Allerdings war das Landessozialgericht (LSG) Hamburg in seinem Urteil vom 22. Oktober 1974 der Meinung, maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verwaltungsentscheidung - einer Ermessensentscheidung der Verwaltung - sei der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides. Zeitlich danach liegende Umstände, die einen Fall besonderer Härte auszuschließen geeignet sein könnten, hätten unberücksichtigt zu bleiben. Das erst nach Erlaß des Widerspruchsbescheides ergangene RRG könne demnach nicht zum Anlaß genommen werden, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 3 AVG zu verneinen. Zwar seien bei einer Anfechtungsklage nachträglich Rechts- oder Sachverhaltsänderungen nicht schlechthin bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines angegriffenen Verwaltungsakts ausgeschlossen. Dies gelte aber nicht bei vollzogenen - abgeschlossenen - Verwaltungsakten, die, wie hier, von einer aufschiebenden Wirkung durch Klageerhebung nicht erfaßt würden (Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 54 SGG Anm. 2e bb) S. 183 und 184).

Gleichwohl sei kein besonderer Härtefall gegeben. Der Kläger habe sich von der Versicherungspflicht befreien lassen und auch von den späteren Möglichkeiten zu einem Verzicht auf die ausgesprochene Befreiung keinen Gebrauch gemacht. Damit habe er selbst keinen Wert auf den Schutz der Sozialversicherung gelegt.

Somit sei die Berufung unbegründet, obwohl dem Kläger aus der unterbliebenen Beitragsabführung kein Vorwurf zu machen sei.

Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,

unter Aufhebung des Urteils des SG Hamburg vom 5. Februar 1974, des Urteils des LSG Hamburg vom 22. Oktober 1974 und der Bescheide der Beklagten vom 17. Mai 1972 und vom 4. Juli 1972 diese zu verurteilen, die von der Beigeladenen angebotenen Pflichtbeiträge für den Zeitraum vom 1. April 1960 bis zum 31. Oktober 1961 entgegenzunehmen.

Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 140 Abs. 3 AVG. Dem LSG sei lediglich darin zu folgen, daß der maßgebende Zeitpunkt für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides sei. Damit könne auf die Vergünstigungen des RRG nicht abgestellt werden. Im übrigen habe aber das LSG den Begriff der besonderen Härte falsch ausgelegt. Hier hätte nicht auf irgendwelche subjektive Einstellungen abgestellt werden dürfen. Vielmehr komme es ausschließlich darauf an, ob nach objektiven Gesichtspunkten ein Fall besonderer Härte angenommen werden müsse. Das aber sei der Fall. Infolge der unterlassenen Beitragsentrichtung seien die Wartezeit für eine etwaige Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sowie die Voraussetzungen für eine freiwillige Weiterversicherung nach § 10 AVG in der damals maßgebenden Fassung des AnVNG nicht erfüllt gewesen. Diese schwerwiegenden Folgen hätten nicht wieder durch Einbeziehung subjektiver Elemente eliminiert werden dürfen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Eine Überprüfung nach objektiven Gesichtspunkten schließe nicht aus, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Sach- und Rechtslage erst durch die Entscheidungen und Verhaltensweisen des Klägers so geworden seien, wie sie sich jetzt darstellten. Abgesehen hiervon könne auch nicht der Auffassung des LSG über den maßgebenden Zeitpunkt gefolgt werden. Dies ergebe sich insbesondere aus den inzwischen in Kraft getretenen Neuregelungen, die sowohl die Voraussetzungen für die freiwillige Versicherung auf ein Mindestmaß verringerten als auch weitreichende Nachentrichtungsmöglichkeiten eingeführt hätten. Es erscheine nicht sinnvoll, dies alles nicht zu berücksichtigen. Zudem begehre der Kläger die Zulassung zur Nachentrichtung gemäß § 140 Abs. 3 AVG. Hierzu sei die Aufhebung der angefochtenen ablehnenden Bescheide nur Mittel zum eigentlich erstrebten Zweck. Es handele sich daher nicht ausschließlich um die Beurteilung eines in der Vergangenheit völlig abgeschlossenen Sachverhalts. In einem solchen Fall könne es aber nur auf die Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommen. Danach könne von einer besondere Härte im Sinne von § 140 Abs. 3 AVG erst recht nicht gesprochen werden.

Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Nach § 140 Abs. 3 AVG kann der Träger der Rentenversicherung in Fällen besonderer Härte die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen auch nach der in Absatz 2 bezeichneten Frist zulassen und hierfür eine Frist bestimmen, wenn der Versicherte trotz Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt das Unterlassen der Beitragsentrichtung nicht verhindern konnte.

Die Beklagte hat dem Kläger die angebotene Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen für die Zeit vom 1. April 1960 bis 31. Oktober 1961 durch ihren Bescheid vom 17. Mai 1972, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 1972 verweigert. Hiergegen wendet sich der Kläger. Das LSG hat darin eine reine Anfechtungsklage gesehen. In diesem Ausgangspunkt seiner rechtlichen Erwägungen kann ihm indes nicht gefolgt werden.

Mit der Aufhebung der angefochtenen Bescheide wäre dem Kläger noch nicht gedient. Damit hätte er lediglich die Verweigerung der Zulassung zur Nachentrichtung beseitigt, die Beklagte aber noch nicht verpflichtet, entsprechend seinem weiteren Antrag die angebotenen Beiträge entgegenzunehmen und als rechtswirksam entrichtete Pflichtbeiträge anzuerkennen und bei einer späteren Rente zu berücksichtigen. Es geht also zunächst um die Erteilung einer Erlaubnis, die allerdings in das pflichtgemäße Ermessen des Versicherungsträgers gestellt ist, und dann um die Wirkung der aufgrund der Erlaubnis vorzunehmenden Handlungen. In solchen Fällen überwiegt die Verpflichtungsklage (vgl. BSG 7, 46, 50), während der Anfechtungsklage eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Es handelt sich mithin in Übereinstimmung mit den gestellten Anträgen um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (vgl. Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 6.Aufl. § 42 VerwGO Rd.Nr. 10 sowie die ähnlichen Fälle von BSG 18, 226, 230 und SozR Nr. 5 zu § 119 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Für solche Klagen ist grundsätzlich der zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung bestehende Sach- und Rechtsstand entscheidend (vgl. Eyermann/Fröhler aaO § 113 VerwGO Rd. Nr. 9, Peters/Sautter/Wolff aaO, § 54 SGG S.183 1.Absatz sowie BSG 15, 239ff, BVerwG 29, 304, 305 sowie 37, 151, 152 und 41, 227, 230). Mit Recht hat daher das SG vor allem auf die durch das RRG neu geschaffenen Möglichkeiten zur Weiterversicherung (vgl. § 10 AVG nF) und zur Nachentrichtung nach Art. 2 § 49a AnVNG verwiesen. Dem Sinn und Zweck der in § 140 Abs. 3 AVG getroffenen Regelung entspricht es allein, eine "besondere Härte" nur dann anzunehmen, wenn die Nichtzulassung der Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen zu einem Verlust des ganzen versicherungsrechtlichen Anspruchs oder sonst zu einem außergewöhnlichen Schaden führen würde. Dies wird regelmäßig nur dann der Fall sein, wenn weitere Beitragszeiten zur Erfüllung der Wartezeit vorhanden sein müssen oder die nicht mit Pflichtbeiträgen belegten versicherungspflichtigen Beitragszeiten nach ihrem Umfang oder in ihren Auswirkungen ein so erhebliches Ausmaß haben, daß die hierdurch bedingte Beitragslücke zu einer außergewöhnlich niedrigen Rente führt, die auch nicht durch - im Einzelfall finanziell zumutbare - freiwillige Beitragsleistungen verbessert werden kann (vgl. Kommentar zur RVO, herausgegeben vom Verband deutscher Rentenversicherungsträger, 4. und 5. Buch 1958/73, § 1418 RVO Note 11). An allen diesen Voraussetzungen fehlt es beim Kläger. Er kann insbesondere, ohne auf die Befreiung verzichten zu müssen, die fehlende Beitragszeit durch eine freiwillige Weiterversicherung oder eine Nachentrichtung ausgleichen und hat dies auch nach den Feststellungen des LSG bereits für die Zeit vom September 1971 bis Dezember 1972 getan und dadurch die Wartezeit für eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit erfüllt.

Es blieben somit voraussichtlich lediglich gewisse Nachteile insofern übrig, als das Verhältnis vom Beitragsaufwand zum Ausmaß der dadurch erzielten Rentensteigerung etwas ungünstiger ist, als wenn für die streitige Zeit Pflichtbeiträge hätten nachentrichtet werden können. Außerdem könnten sich gewisse Nachteile zB. im Zusammenhang mit Vorschriften wie denen des § 36 Abs. 3 AVG und des § 37 Abs. 1 Satz 2 AVG ergeben. Diese lassen sich jedoch zur Zeit nicht übersehen. Daß aber die Anrechnung von Ersatzzeiten oder Ausfallzeiten nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG von der Beitragsnachentrichtung abhinge (vgl. dazu Hanow/Lehmann/Bogs, Rentenversicherung der Arbeiter, 5.Aufl. § 1418 RVO Rd. Nr. 9), hat der Kläger selbst nicht geltend gemacht und kann insbesondere im Hinblick auf die Neufassung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch Art. 1 § 2 Nr. 13 RRG (Fortfall der bisher vorgesehenen Fünf-Jahresfrist zur Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit) nicht angenommen werden.

Nach alledem scheidet ein Fall besonderer Härte aus.

Somit hat das LSG die Berufung im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die Revision kann keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1646979

BSGE, 38

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