Entscheidungsstichwort (Thema)

Berechnung des Konkursausfallgeldes – Berücksichtigung einer Jahressonderzahlung – Zuordnung – Fälligkeit – Konkursausfallgeldzeitraum – Insolvenzzeitpunkt bei Eröffnung des Anschlußkonkurses – Tarifvertrag – betriebliche Übung – Stundung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine aufgrund tariflicher Regelung oder betrieblicher Übung allen an einem Stichtag in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stehenden Arbeitnehmern grundsätzlich ungekürzt zustehende Jahressonderzahlung ist nicht einzelnen Monaten zuzuordnen (Fortführung von BSG vom 18.1.1990 – 10 RAr 10/89 = SozR 3-4100 § 141b Nr 1).

2. Eine nicht einzelnen Monaten zuzuordnende Jahressonderzahlung ist bei der Berechnung des Konkursausfallgeldes nicht zu berücksichtigen, wenn der für die Jahressonderzahlung aufgrund Tarifvertrages oder betrieblicher Übung maßgebliche Auszahlungstag nicht in die letzten dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses fällt; eine dem Arbeitgeber gewährte Stundung ändert daran nichts.

Stand: 5. März 2001

 

Normenkette

AFG § 141b Abs. 1 S. 1, Abs. 2; VglO § 80 Abs. 3, § 101

 

Beteiligte

Bundesanstalt für Arbeit

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 30.06.1999; Aktenzeichen L 6 AL 1792/98)

SG Gießen (Entscheidung vom 25.11.1998; Aktenzeichen S 14 AL 1479/96)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Juni 1999 und des Sozialgerichts Gießen vom 25. November 1998 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt höheres Konkursausfallgeld (Kaug) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Sonderzahlung.

Die Arbeitgeberin des Klägers – eine Kommanditgesellschaft – zahlte von 1978 bis 1994 an ihre Arbeitnehmer jeweils am 1. Dezember jeden Jahres eine betriebliche Sonderleistung auf der Grundlage eines zwischen dem Fachverband Sanitär- und Heizungstechnik Hessen und der Industriegewerkschaft Metall abgeschlossenen Tarifvertrages vom 13. Juni 1977. Nach dessen § 2 hatten alle Arbeitnehmer, die am Auszahlungstag in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis standen und zu diesem Zeitpunkt dem Betrieb ununterbrochen sechs Monate angehörten, je Kalenderjahr Anspruch auf betriebliche Sonderzahlung (Ziffer 1), deren Höhe in der Weise gestaffelt war, daß je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit ein bestimmter Prozentsatz der Bemessungsgrundlage zu zahlen war (Ziffer 2); Bemessungsgrundlage war grundsätzlich der Gesamtverdienst der letzten abgerechneten 13 Wochen bzw 3 Monate geteilt durch 3 (Ziffer 4a). § 2 des Tarifvertrages enthielt verschiedene Regelungen, wonach Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr kraft Gesetzes oder Vereinbarung ruhte oder die aus sonstigen Gründen im Kalenderjahr nicht gearbeitet hatten, grundsätzlich – abgesehen von bestimmten Ausnahmen wie zB Erkrankung – keine Sonderzahlung bzw bei teilweisem Ruhen oder teilweiser Nichtarbeit wegen unentschuldigten Fehlens eine anteilige Sonderzahlung erhielten, sowie wegen ua Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit ausscheidende Arbeitnehmer die volle bzw bis zum 30. Juni des Auszahlungsjahres ausscheidende Arbeitnehmer die halbe Sonderzahlung erhielten (Ziffer 6). § 3 des Tarifvertrages lautete unter der Überschrift „Fälligkeit”:

  1. „Der Zeitpunkt der Auszahlung wird durch Betriebsvereinbarung geregelt.
  2. Falls dieser Zeitpunkt durch Betriebsvereinbarung nicht geregelt ist, gilt als Auszahlungstag im Sinne des § 2 Ziffer 1 der 1. Dezember.
  3. Über Abschlagszahlungen können Regelungen in die Betriebsvereinbarung aufgenommen werden.”

Am 28. November 1995 unterzeichneten der Vorsitzende des Betriebsrates (K.) und der Geschäftsführer der Arbeitgeberin (T.) folgende Betriebsvereinbarung (Betriebsvereinbarung 1):

  1. „Zwischen dem Fachverband … und der Industriegewerkschaft … besteht seit dem 01.01.1978 eine tarifvertragliche Regelung über betriebliche Sonderzahlungen …
  2. Demzufolge sind gemäß § 2 des betreffenden Tarifvertrages Sonderzahlungen in bestimmten Staffeln zu zahlen, wobei als Auszahlungstag jeweils der 01. Dezember gilt. Die Auszahlungen wurden seit dem 01.01.1978 an sämtliche organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmer ohne Widerrufsvorbehalt vorgenommen.
  3. Da die Firma … aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage ist die Sonderzahlungen zum 01. Dezember 1995 zu leisten wird vereinbart, die Sonderzahlungen bis spätestens 31. Januar 1996 nachzuzahlen.”

Am 1. Februar 1996 schlossen K. und T. eine weitere schriftliche Betriebsvereinbarung des Inhalts, die Arbeitgeberin sei aus wirtschaftlichen Gründen zur Nachzahlung bis 31. Januar 1996 gemäß Betriebsvereinbarung vom 28. November 1995 nicht in der Lage gewesen, weshalb in Abänderung vorgenannter Vereinbarung nunmehr vereinbart werde, die Sonderzahlungen bis spätestens 1. April 1996 für bestimmte namentlich genannte Arbeitnehmer – darunter der Kläger – vorzunehmen (Betriebsvereinbarung 2). Ebenfalls unter dem Datum 1. Februar 1996 wurde eine von K. und T. unterzeichnete dritte Betriebsvereinbarung ausgefertigt, die im wesentlichen den Text der Betriebsvereinbarung 2 enthielt; abweichend hiervon war jedoch anstelle des 1. April 1996 das Datum 31. März 1996 eingesetzt (Betriebsvereinbarung 3).

Am 15. Februar 1996 wurde die Eröffnung eines gerichtlichen Vergleichsverfahrens zur Abwendung des Konkurses über das Vermögen der Arbeitgeberin beantragt. Mit Beschluß des zuständigen Amtsgerichts vom 1. April 1996 wurde der Anschlußkonkurs eröffnet.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger Kaug für den ausstehenden Lohn in der Zeit vom 1. Februar bis 31. März 1996 in Höhe von netto 6.780,25 DM, lehnte jedoch die Berücksichtigung der betrieblichen Sonderzahlung – in Höhe von brutto 2.550,00 DM – ab, da deren Auszahlungstermin der 1. Dezember 1995 sei und außerhalb des für das Kaug maßgeblichen Zeitraums liege (Bescheid vom 18. Juni 1996, Widerspruchsbescheid vom 1. August 1996).

Das Sozialgericht (SG) hat diese Bescheide nach schriftlicher Befragung des Konkursverwalters sowie des Betriebsratsvorsitzenden K. aufgehoben und die Beklagte verurteilt, Kaug unter Berücksichtigung der betrieblichen Sonderzahlung zu gewähren (Urteil vom 25. November 1998). Es hat angenommen, der Anspruch auf die Sonderzahlung sei erst mit deren Fälligkeit am 31. März 1996 entstanden; dies ergebe sich aus der allein gültigen Betriebsvereinbarung 3, da die Betriebsvereinbarung 2 nach Aussage des K. einvernehmlich aufgehoben worden sei.

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG), das K. und T. als Zeugen vernommen hat, zurückgewiesen (Urteil vom 30. Juni 1999). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Der Wortlaut der maßgeblichen Betriebsvereinbarung 1 sei nicht eindeutig und deshalb auslegungsbedürftig. Die Vernehmung der Zeugen habe den übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien dahingehend ergeben, daß der Auszahlungstermin der betrieblichen Sonderzahlung für 1995 wegen sich abzeichnender Liquidationsschwierigkeiten auf den 31. Januar 1996 festgelegt werden sollte. Betriebsrat und Arbeitgeberin hätten den Auszahlungstermin neu regeln wollen; Ziel sei es gewesen, von der Fälligkeit 1. Dezember 1995 wegzukommen. Dem widerspreche auch nicht die Formulierung „nachzahlen”, da die Vertragsparteien dem keine besondere rechtliche Bedeutung beigemessen hätten. Gegen die Annahme einer Neuregelung der Fälligkeit spreche auch nicht der Wortlaut der Ziffer 2 der Betriebsvereinbarung 1, denn damit sei nach Aussage eines der Zeugen beabsichtigt gewesen, die frühere betriebliche Übung zu beschreiben. Mit den Betriebsvereinbarungen 2 und 3 sei die Fälligkeit zum 31. Januar 1996 nicht verändert worden, da sie erst am 1. Februar und damit nach dem Fälligkeitsdatum abgeschlossen worden seien. Damit falle der Zahlungstermin in den Kaug-Zeitraum, der bei Eröffnung des Konkursverfahrens am 1. April 1996 die Zeit vom 31. Dezember 1995 bis 31. März 1996 umfasse.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 141b Arbeitsförderungsgesetz (AFG): Zum einen erlaubten die Feststellungen des LSG keine konkrete Festlegung des Kaug-Zeitraumes iS des § 141b Abs 1 Satz 1 AFG. Der Konkurseröffnungsbeschluß sei bei einem Anschlußkonkurs für den Insolvenzzeitpunkt dann nicht maßgebend, wenn nach § 80 Abs 3 Vergleichsordnung (VglO) die Entscheidung über die Eröffnung des Anschlußkonkurses erst mit der Rechtskraft wirksam werde. Die Feststellungen des LSG seien nicht eindeutig; es stehe somit nicht fest, inwieweit der vom LSG angenommene Fälligkeitstermin der Sonderzahlung in den mit dem Insolvenzzeitpunkt endenden Kaug-Zeitraum falle. Zum anderen sei hinsichtlich der Sonderzahlung von einem Fälligkeitstermin 1. Dezember 1995 auszugehen, weshalb der Auszahlungstag vor dem frühestmöglichen Beginn des Kaug-Zeitraumes liege. Die Betriebsvereinbarung 1 sei auch mit dem vom LSG festgestellten Inhalt und der im Urteil genannten Zweckbestimmung nach den Grundsätzen mißbräuchlicher Vertragsgestaltung unwirksam. In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sei anerkannt, daß der Inhalt einer Betriebsvereinbarung der Billigkeitskontrolle unterliege. Mit der regelmäßigen Zahlung der Sonderleistung zum 1. Dezember des jeweiligen Bezugsjahres über einen Zeitraum von 17 Jahren sei eine betriebliche Übung entstanden. Die Ablösung aufgrund betrieblicher Übung begründeter einzelvertraglicher Ansprüche durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung komme nur in Betracht, wenn die Neuregelung insgesamt bei kollektiver Betrachtung nicht ungünstiger sei; dies sei nicht der Fall. Für einen Wegfall der Geschäftsgrundlage fehlten Tatsachenfeststellungen. Ferner sei die Betriebsvereinbarung 1 deshalb unwirksam, weil eine Verschiebung des Auszahlungstermins auf einen Zeitpunkt außerhalb des Bezugsjahres nur mit Rücksicht auf solche Gründe billig und gerechtfertigt sein könne, die mit der Ermittlung des zustehenden Betrages im Zusammenhang stünden. Eine andere Sicht führe zu für die Arbeitnehmerseite unzumutbaren Ergebnissen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG vom 30. Juni 1999 und des SG vom 25. November 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Insbesondere sei die Beweiswürdigung des LSG mit dem Ergebnis, der Fälligkeitszeitpunkt sei übereinstimmend verschoben worden, rechtsfehlerfrei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist begründet.

Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Entscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung der Beklagten gegen das klagestattgebende Urteil des SG zulässig, denn bei Berechnung des Kaug unter Einbeziehung der Sonderleistung von 2.550,00 DM ergäbe sich auch nach Verminderung des Arbeitsentgelts um die gesetzlichen Abzüge (vgl § 141d Abs 1 AFG) ein um mehr als 1000,00 DM höherer Betrag, so daß die Berufungssumme des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erreicht ist.

Entgegen den Auffassungen von LSG und SG hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung von Kaug unter Berücksichtigung der betrieblichen Sonderleistung.

Anspruch auf Kaug hat nach § 141b Abs 1 Satz 1 AFG ein Arbeitnehmer, der bei Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen seines Arbeitgebers für die letzten der Eröffnung vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt hat. Zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt gehören gemäß § 141b Abs 2 AFG alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, die unabhängig von der Zeit, für die sie geschuldet werden, Masseschulden nach § 59 Abs 1 Nr 3a Konkursordnung (KO) sein können. Ob der Anspruch des Klägers auf die betriebliche Sonderleistung in die Kaug-Berechnung einzubeziehen ist, hängt somit von der Qualifizierung der Sonderleistung als Arbeitsentgelt iS des § 141b Abs 2 AFG, vom Insolvenzzeitpunkt sowie davon ab, ob der Anspruch iS des § 141b Abs 1 Satz 1 AFG den letzten drei Monaten des Arbeitsverhältnisses vor dem Insolvenzereignis zugeordnet werden kann.

Unzweifelhaft zählt der Anspruch auf die Sonderleistung, der von der Arbeitgeberin über viele Jahre hinweg nach den Regelungen des Tarifvertrages jeweils zum 1. Dezember durch Zahlung an alle Arbeitnehmer erfüllt worden ist, zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt iS des § 141b Abs 2 AFG. Es handelt sich – zumindest auch – um eine Gegenleistung des Arbeitgebers für die Arbeitsleistung, die sich der Zeit vor Konkurseröffnung zuordnen läßt, weshalb der Anspruch zu den Masseschulden gemäß § 59 Abs 1 Nr 3a KO zählt (vgl BAG AP Nr 10 zu § 59 KO; BSG SozR 4100 § 141b Nr 8; BSGE 62, 131, 133 = SozR 4100 § 141b Nr 40; BSG SozR 4100 § 141b Nr 42 mwN).

Nicht abschließend beurteilt werden kann, ob der Kaug-Zeitraum – wie das LSG angenommen hat – die Zeit vom 31. Dezember 1995 bis 31. März 1996 umfaßt. Das LSG ist vom Zeitpunkt des Beschlusses über die Eröffnung des Anschlußkonkurses am 1. April 1996 ausgegangen. Bei einem Anschlußkonkurs wird indes das Konkursverfahren iS des § 141b Abs 1 AFG nicht schon mit der Verlautbarung des Eröffnungsbeschlusses, sondern erst mit dessen Rechtskraft (§ 80 Abs 3, § 101 VglO) eröffnet, sofern der Vergleichsvorschlag nicht zu bestätigen oder das Vergleichsverfahren einzustellen war (vgl BSGE 50, 174 = SozR 4100 § 141b Nr 13; BSG USK 88 189 und SozR 3–4100 § 141b Nr 11). Der Insolvenzzeitpunkt und damit auch der Kaug-Zeitraum des Klägers kann daher erheblich später liegen, als das LSG angenommen hat. Selbst wenn das Konkursverfahren am 1. April 1996 iS des § 141b Abs 1 AFG eröffnet worden ist, hat der Kaug-Zeitraum des Klägers jedenfalls entgegen den Ausführungen des LSG nicht am 31. Dezember 1995, sondern erst am 1. Januar 1996 begonnen; denn grundsätzlich ist, wenn das Arbeitsverhältnis nicht vorher geendet hat, vom Insolvenzzeitpunkt aus in Anwendung der §§ 187, 188 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurückzurechnen (vgl Peters-Lange in Gagel, AFG, § 141b RdNr 30). Ob das Insolvenzereignis am 1. April 1996 oder erst danach eingetreten ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner Klärung. Denn der Anspruch des Klägers auf die Sonderzahlung läßt sich dem frühestmöglichen Kaug-Zeitraum vom 1. Januar bis 31. März 1996 nicht zuordnen.

Bei der von der Arbeitgeberin seit 1978 zum 1. Dezember jeden Jahres an die Arbeitnehmer gezahlten Sonderleistung handelt es sich um eine Leistung, die je Kalenderjahr ausgezahlt wurde, also um eine Jahressonderzahlung. Derartige Zahlungen werden in der Regel für geleistete Arbeit und zur Belohnung für die Betriebstreue erbracht (vgl Hanau, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band I, § 67 RdNr 33 ff; Preis in Erfurter Kommentar, 230 § 611 BGB, RdNr 793). Bei der zu Zwecken des Kaug erforderlichen zeitlichen Zuordnung einer Jahressonderzahlung ist unter Berücksichtigung des arbeitsrechtlichen Entstehungsgrunds und der Zweckbestimmung der Leistung zu differenzieren. Arbeitsrechtliche Vereinbarungen bzw Regelungen, die für den Arbeitnehmer auch bei vorherigem Ausscheiden einen zeitanteiligen Anspruch vorsehen, begründen einen Kaug-Anspruch in Höhe des auf den Kaug-Zeitraum fallenden Anteils, und zwar auch dann, wenn die Insolvenz schon vor der Fälligkeit des Gesamtanspruches eingetreten ist (vgl BSG SozR 4100 § 141b Nr 8; BSG USK 8793 = EzS 89/44; BSGE 62, 131, 135 ff = SozR 4100 § 141b Nr 40). Läßt sich die Jahressondervergütung dagegen nicht einzelnen Monaten zurechnen, so ist sie in voller Höhe beim Kaug zu berücksichtigen, wenn sie in den letzten drei Monaten des Arbeitsverhältnisses vor dem Insolvenzereignis hätte ausgezahlt werden müssen, anderenfalls aber überhaupt nicht (BSG SozR 4100 § 141b Nr 42; SozR 3–4100 § 141b Nr 1; BSG USK 9017 = EzS 89/68; vgl auch Peters-Lange aaO RdNr 58 f; Schlegel in Hennig ua, AFG, § 141b RdNr 67 ff). So liegt der Fall hier.

Aus den Feststellungen des LSG, wonach die Sonderleistung nach den tariflichen Regeln ohne Rücksicht auf Tarifgebundenheit an alle Arbeitnehmer gezahlt wurde, folgt, daß sich der arbeitsrechtliche Anspruch des Klägers – soweit er nicht tarifgebunden gewesen sein sollte – bei der ersten Zahlung im Dezember 1978 zunächst auf eine von der Arbeitgeberin gesetzte vertragliche Einheitsregelung oder eine Gesamtzusage gründete (vgl dazu BAGE 53, 42, 64 = AP Nr 17 zu § 77 BetrVG; Preis in Erfurter Kommentar, aaO RdNr 271 ff). Die Verpflichtung des Arbeitgebers und der ihr entsprechende Anspruch des einzelnen Arbeitnehmers wurden jeweils Bestandteil des einzelnen Arbeitsvertrages (vgl Preis aaO RdNr 274). Daraus, daß die Sondervergütungen über Jahre hinweg vorbehaltlos weitergezahlt wurden, ergibt sich darüber hinaus ein Vertrauenstatbestand im Sinne einer betrieblichen Übung, die ebenfalls unter Gestaltung der vertraglichen Rechte der Arbeitnehmer jeweils einen vertraglichen Anspruch auf Beibehaltung der Sonderzahlung in der bisherigen Weise begründete. Ein solcher Anspruch kraft betrieblicher Übung entsteht regelmäßig bereits nach dreimaliger Zahlung, falls nicht besondere Umstände entgegenstehen bzw der Arbeitgeber einen Bindungswillen für die Zukunft ausgeschlossen hat (ua BAG AP Nr 7 zu § 611 BGB Gratifikation; BAGE 39, 271, 276 = AP Nr 12 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 9. Aufl, § 78 RdNr 24). Der so entstandene Anspruch des Klägers war durch die Verweisung auf die zugrundeliegenden tariflichen Bestimmungen konkretisiert (zur Einbeziehung des Tarifrechts in den Arbeitsvertrag durch Inbezugnahme vgl Schaub aaO § 208 RdNr 8 ff; Preis aaO RdNr 286).

Die zeitliche Zuordnung der Sonderleistung bestimmt sich somit nach den Regelungen des Tarifvertrages vom 13. Juni 1977 in der ab 1. Januar 1978 gültigen Fassung. Diese Regelungen, deren Text sich in der Kaug-Akte der Beklagten befinden, auf deren Inhalt das LSG im Urteil Bezug genommen hat, kann der Senat im Revisionsverfahren unabhängig davon, ob es sich hier um revisibles Recht handelt oder nicht, selbst auslegen, denn das LSG hat sie bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen (vgl BSGE 61, 267, 269 = SozR 5050 § 15 Nr 33; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 162 SGG RdNr 45 mwN). Sie ergeben, daß sich die Jahressonderzahlung nicht anteilig den einzelnen Monaten des Jahres zuordnen läßt. Den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern stand der Anspruch bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 2 Ziffer 1 des Tarifvertrages (ungekündigtes Arbeitsverhältnis und ununterbrochene sechsmonatige Betriebszugehörigkeit am Auszahlungstag) uneingeschränkt zu. Die tarifliche Regelung sah grundsätzlich keine Staffelung der Sonderzahlung für den Fall vor, daß ein Arbeitnehmer während des Kalenderjahres aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden war. Auch Arbeitnehmer, die zB wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit vor dem Auszahlungstag ausschieden, hatten grundsätzlich Anspruch auf die volle Sonderzahlung (§ 2 Ziffer 6 letzter Absatz). Als Ausnahmeregelungen sind demgegenüber die Bestimmungen des Tarifvertrages zu verstehen, wonach Arbeitnehmer in den Fällen des Ruhens des Arbeitsverhältnisses für begrenzte Zeit bzw des unentschuldigten Fehlens eine anteilige Sonderzahlung erhalten sollten, wie auch die Regelung, die Arbeitnehmern bei Ausscheiden aus bestimmten Gründen bis 30. Juni des Auszahlungsjahres die halbe Sonderzahlung zubilligte; alle diese Bestimmungen ändern nichts am Grundgedanken, im Regelfall einen Anspruch auf Zahlung der Sonderleistung ohne Aufteilung nach der Dauer der Arbeitsleistung im Kalenderjahr zu begründen.

Die Jahressonderzahlung, die sich hiernach nicht anteilig den einzelnen Monaten des Jahres 1995 zuordnen läßt, ist in ihrer Gesamtheit auch nicht dem frühestmöglichen Kaug-Zeitraum (1. Januar bis 31. März 1996) zuzuordnen. Der Kläger hatte vielmehr im Kalenderjahr 1995 einen kraft betrieblicher Übung unter Beachtung der Bestimmungen des Tarifvertrages begründeten Anspruch auf Auszahlung der Sonderzahlung zum 1. Dezember 1995. Dieser Tag war Auszahlungs- und Fälligkeitstag iS der §§ 2 und 3 des Tarifvertrages; der Kläger erfüllte an diesem Tag die Voraussetzungen des § 2 Ziffer 1 (insbesondere ungekündigtes Arbeitsverhältnis). Er liegt außerhalb des frühestmöglichen Kaug-Zeitraumes.

Entgegen der Auffassung des LSG ist durch die Betriebsvereinbarung 1 der Auszahlungstag nicht vom 1. Dezember 1995 zum 31. Januar 1996 und damit die Zuordnung der Sonderzahlung von 1995 in das Jahr 1996 verändert worden.

Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit überhaupt der Zeitpunkt der Auszahlung noch gemäß § 3 Ziffer 1 des Tarifvertrages durch Betriebsvereinbarung geregelt werden durfte, nachdem über Jahre gemäß § 3 Ziffer 2 des Tarifvertrages verfahren worden ist. Jedenfalls verbieten Sinn und Zweck der tariflichen Regelung, den Auszahlungstag auf einen Tag außerhalb des Kalenderjahres, für den die Sonderzahlung gedacht ist, zu legen. Die tarifliche Regelung begründet einen Anspruch auf Sonderzahlung „je Kalenderjahr” für alle Arbeitnehmer, „die am Auszahlungstag in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stehen und zu diesem Zeitpunkt dem Betrieb ununterbrochen sechs Monate angehören” (§ 2 Ziffer 1). Mit dieser ausdrücklich auf das Kalenderjahr bezogenen Stichtagsregelung, die – auch – die vergangene und künftige Betriebstreue belohnen soll (vgl Preis aaO RdNr 793), ist eine Verschiebung des Auszahlungstages in das nachfolgende Kalenderjahr nicht vereinbar. Deshalb wird auch in vergleichbaren Zusagen der Stichtag üblicherweise auf den 30. November des maßgeblichen Jahres gelegt (Preis aaO). § 3 des hier einschlägigen Tarifvertrages, der den Zeitpunkt der Auszahlung der Regelung durch Betriebsvereinbarung überläßt und für den Fall des Fehlens einer Betriebsvereinbarung den 1. Dezember als Auszahlungstag vorschreibt, ermöglicht daher allenfalls, den Auszahlungstag (gleich Stichtag) spätestens auf den 31. Dezember des Kalenderjahres zu legen, nicht aber einen Tag des folgenden Kalenderjahres zu vereinbaren. Eine Bestimmung des 31. Januar 1996 als Auszahlungstag, wie vom LSG angenommen, würde gegen Sinn und Zweck der tariflichen Regelung verstoßen und könnte nicht wirksam die Verschiebung des Anspruchs des Klägers in den Kaug-Zeitraum bewirken.

Im übrigen ist der Senat auch nicht gehalten, die Auslegung der Betriebsvereinbarung 1 durch das LSG der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen. Das LSG hat zwar zum Ausdruck gebracht, Geschäftsführung und Betriebsrat hätten den Auszahlungstermin „neu regeln” wollen. Seine Auslegung hat das LSG auch näher erläutert, ua mit dem Hinweis, dem verwendeten Wort „nachzahlen” sei keine besondere Bedeutung beigemessen worden. Obwohl das Revisionsgericht die Würdigung eines Vertrages durch das Tatsachengericht nur bezüglich der Rechtsanwendung überprüfen darf, ist der Senat an das vom LSG gefundene Ergebnis nicht gebunden; denn wenn das Tatsachengericht die von ihm selbst festgestellten tatsächlichen Umstände nicht vollständig verwertet, darf das Revisionsgericht diese in die Rechtsanwendung einbeziehen (BSGE 75, 92, 96 = SozR 3–4100 § 141b Nr 10). Dies ist hier der Fall. Das LSG hat sich zu weiteren Gesichtspunkten, die für die Auslegung der Betriebsvereinbarung erheblich sind, nicht geäußert, nämlich zur Bedeutung des Auszahlungstages für die Anspruchsberechtigung und Höhe, daneben aber auch zum Wortlaut der Ziffer 3 der Betriebsvereinbarung 1 insofern, als die Sonderzahlungen bis „spätestens” 31. Januar 1996 nachgezahlt werden sollten. Insbesondere hat das LSG offensichtlich den Zusammenhang zwischen § 2 Ziffer 1 und § 3 Ziffer 2 des Tarifvertrages übersehen. Eine Verschiebung des Auszahlungstages in das Jahr 1996 hätte nämlich nicht nur die spätere Zahlungspflicht der Arbeitgeberin, sondern auch eine Veränderung der Anspruchsberechtigung als Konsequenz gehabt, dh einzelne Arbeitnehmer, die am 1. Dezember 1995 noch die Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, hätten diese am 31. Januar 1996 nicht mehr erfüllt und umgekehrt. Mit einer „Neuregelung” des Auszahlungstages in Form der Verschiebung in das Kalenderjahr 1996 wären außerdem Schwierigkeiten bzw Ungereimtheiten bei der Ermittlung der jeweiligen Bemessungsgrundlage (vgl etwa § 2 Ziff 4a) oder bei der Handhabung der von § 2 Ziffer 6 des Tarifvertrages erfaßten Fälle, in denen jeweils an das Kalenderjahr angeknüpft wird, verbunden gewesen. Dafür, daß die Parteien der Betriebsvereinbarung eine derart gravierende Änderung beabsichtigt hätten, gibt es keinen Anhaltspunkt. Auch die Formulierung „spätestens” deutet darauf hin, daß es grundsätzlich beim bisherigen Auszahlungstag bleiben sollte. Die vollständige Verwertung aller festgestellten Tatsachen ergibt hiernach, daß die Betriebsvereinbarung 1 den Auszahlungstag 1. Dezember unverändert gelassen hat und der Arbeitgeberin lediglich eine Stundung gewährt worden ist.

Eine Stundung iS des Herausschiebens der Fälligkeit (BGH NJW 1998, 2060, 2061; Palandt, BGB, 59. Aufl, § 271 RdNr 12) bei unverändertem Rechtsgrund des Anspruchs rechtfertigt aber unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Kaug-Vorschriften keine Einbeziehung des Anspruchs in den Kaug-Zeitraum. Nach der tariflichen Regelung soll die Sonderleistung neben der Belohnung der Betriebstreue auch die Gegenleistung für die im jeweiligen Kalenderjahr geleistete Arbeit sein. Hätte eine Vereinbarung, die Fälligkeit der für ein bestimmtes Kalenderjahr zu gewährenden Sonderleistung in das nächste Kalenderjahr zu legen, Auswirkung auf die Zuordnung zum Kaug-Zeitraum, würde dies dem Grundsatz widersprechen, daß das Arbeitsentgelt regelmäßig dem Zeitraum zuzuordnen ist, in dem es „erarbeitet” worden ist (vgl BSGE 43, 49, 50 = SozR 4100 § 141b Nr 2; SozR 4100 § 141b Nr 9; BSGE 69, 228, 232 = SozR 3–4100 § 141b Nr 2). Deshalb können sich weder die Betriebsvereinbarung 1 noch die Betriebsvereinbarungen 2 und 3 – mit denen auch nach Auffassung des LSG lediglich ein Zahlungsaufschub verbunden sein sollte – auf die Zuordnung zum Kaug-Zeitraum auswirken.

Wäre der Auszahlungstag in das Jahr 1996 verlegt worden, hätte die Betriebsvereinbarung 1 schließlich gegen das „Günstigkeitsprinzip” verstoßen, das für Betriebsvereinbarungen, die in vertraglich begründete Ansprüche von Arbeitnehmern eingreifen, gilt. Vertragliche Ansprüche sog „Sozialleistungen” (wie Gratifikationen) können danach durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung nur beschränkt werden, wenn der Arbeitgeber wegen eines vorbehaltenen Widerrufs oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage die Kürzung oder Streichung der Leistung verlangen kann oder wenn die Neuregelung insgesamt bei kollektiver Betrachtung nicht ungünstiger ist (BAGE 53, 42, 55 ff = AP Nr 17 zu § 77 BetrVG; Schaub aaO § 231 RdNr 36; Hanau/Kania in Erfurter Kommentar, aaO RdNr 77 ff). Nach diesen Grundsätzen wären Betriebsvereinbarungen, die eine Verschiebung des Auszahlungszeitpunktes um einen Monat oder mehr vorgeschrieben hätten, unwirksam gewesen, denn derartige Vereinbarungen müßten auch bei kollektiver Betrachtungsweise als für die Arbeitnehmer ungünstig angesehen werden (zum Günstigkeitsvergleich vgl BAGE 53, 42, 65 f = AP Nr 17 zu § 77 BetrVG; Schaub aaO § 204 RdNr 38 ff). Im übrigen lassen sich Anhaltspunkte für einen Wegfall der Geschäftsgrundlage (vgl etwa BAGE 86, 312, 318 = AP Nr 26 zu § 1 BetrAVG Ablösung; Preis aaO RdNr 527) den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Die Arbeitgeberin des Klägers hat sich auch nicht etwa den Widerruf der Sonderleistungszusage vorbehalten (vgl Ziffer 2 der Betriebsvereinbarung 1).

Auf die Revision der Beklagten ist deshalb unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 558103

EWiR 2001, 637

NZI 2002, 55

SozR 3-4100 § 141b, Nr. 21

info-also 2001, 100

info-also 2002, 42

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