Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundurteil. Bindungswirkung eines Urteils. Rentenanspruch während einer Rehabilitationsmaßnahme. Übergangsgeld. klarstellende Gesetzesänderung

 

Orientierungssatz

1. Die Bindungswirkung eines gerichtlichen Urteils reicht soweit wie der in der Entscheidungsformel enthaltene Gedanke. Sie erfaßt den gesamten Subsumtionsschluß, der die Grundlage für den Ausspruch des Gerichts bildet (vgl BSG 27.1.1977 7 RAr 121/75 = SozR 1500 § 77 Nr 20).

2. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sind Inhalt und Wirkung sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Recht zu beurteilen, welches zZt des anspruchsbegründenden Ereignisses oder Umstandes gegolten hat, sofern nicht später in Kraft gesetztes neues Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt (vgl BSG 27.4.1982 1 RA 71/80 = SozR 2200 § 1241 Nr 21).

3. Obwohl § 1241d Abs 2 S 1 RVO erst in der am 1.1.1981 in Kraft getretenen Fassung bestimmt, daß die eigentlich angefallene Berufsunfähigkeitsrente oder Erwerbsunfähigkeitsrente während einer Rehabilitationsmaßnahme nur im Falle einer Übergangsgeldzahlung nicht gewährt werden soll, hat die gleiche Regelung schon vor diesem Zeitpunkt gegolten. Der Gesetzgeber hat mit der Änderung des § 1241d Abs 2 S 1 RVO durch das SGB 10 lediglich eine Klarstellung vorgenommen. Das bedeutet, daß die Vorschrift auch für die Vergangenheit in der geänderten Fassung anzuwenden ist (vgl BSG 30.5.1984 5a RKn 3/84).

 

Normenkette

SGG § 130 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1241d Abs 2 S 1 Fassung: 1980-08-18; RVO § 1241d Abs 2 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 22.08.1983; Aktenzeichen L 2 J 66/83)

SG Speyer (Entscheidung vom 04.02.1983; Aktenzeichen S 7 J 675/82)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Erwerbsunfähigkeitsrente auch für die Zeit vom 29. März bis 26. April 1979.

Die Klägerin beantragte im Juni 1978 bei der Beklagten die Gewährung einer Versichertenrente. Die Beklagte bewilligte ihr darauf ein Heilverfahren für die Zeit vom 29. März bis 26. April 1979. Übergangsgeld wurde der Klägerin nicht gewährt. Den Rentenantrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 30. Oktober 1979). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 20. Mai 1980). Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte die Beklagte, der Klägerin ab 1. Juli 1978 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 8. Februar 1982).

Die Beklagte gewährte daraufhin der Klägerin Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. Juli 1978, nicht aber für die Zeit des Heilverfahrens vom 29. März bis 26. April 1979. Sie wandte die vor dem 1. Januar 1981 geltende Fassung des § 1241d Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) an (Bescheid vom 10. Mai 1982; Widerspruchsbescheid vom 22. November 1982).

Das SG hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 4. Februar 1983). Das LSG hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 22. August 1983 zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Bis zum 31. Dezember 1980 habe hinsichtlich der Gewährung von Rente während der Durchführung einer Reha-Maßnahme § 1241d RVO aF gegolten. Danach sei für die Zeit einer Reha-Maßnahme keine Versichertenrente zu zahlen. Eine Ausnahme sei nur zu machen, wenn die Rente bereits vorher bewilligt gewesen sei. Nur ein Bescheid oder ein Urteil stellten jedoch eine Bewilligung dar. Das der Klägerin günstige Urteil und der darauf folgende Bescheid zugunsten der Klägerin lägen aber zeitlich nach der Reha-Maßnahme.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1241d RVO. Sie ist der Auffassung, daß § 1241d RVO in der neuen Fassung anzuwenden sei. Im übrigen sei die Änderung des § 1241d RVO nur eine Klarstellung gewesen. Der Wille des Gesetzgebers sei schon immer darauf gegangen, nur dem Versicherten die Rente während der Heilmaßnahme vorzuenthalten, der zum Ausgleich einen Anspruch auf Übergangsgeld habe. Bei einem anderen Verständnis des § 1241d RVO wäre diese Bestimmung auch verfassungswidrig.

Die Klägerin beantragt sinngemäß die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Mai 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 1982 zu verurteilen, der Klägerin Erwerbsunfähigkeitsrente auch für die Zeit vom 29. März 1979 bis 26. April 1979 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Klägerin steht, anders als das angefochtene Urteil ausführt, auch für die Zeit vom 29. März 1979 bis 26. April 1979 Erwerbsunfähigkeitsrente zu.

Durch Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 8. Februar 1982 (L 2 J 175/80) ist die Beklagte verurteilt worden, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 1978 zu gewähren. Zwischen den Beteiligten, die dieses Urteil nicht in Frage stellen, ist seitdem nicht mehr im Streit, daß die Klägerin seit dem 1. Juli 1978 erwerbsunfähig ist und daß die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbsunfähigkeitsrente bei ihr vorliegen. Streitig ist nur, ob aufgrund des § 1241d RVO in der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung der eigentlich entstandene materielle Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 29. März 1979 bis 26. April 1979 entfiel. Das ist jedoch zu verneinen.

Diesem Wegfall des Anspruchs der Klägerin für die genannte Zeit steht bereits die materielle Rechtskraft des Urteils vom 8. Februar 1982 entgegen. Dieses Urteil des LSG hat ausgesprochen, daß die Beklagte der Klägerin "ab 1. Juli 1978 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit" zu gewähren habe. Zwar handelt es sich dabei um ein Grundurteil (§ 130 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), das lediglich dem bisherigen Streit darüber ein Ende machte, ob der Klägerin überhaupt seit dem 1. Juli 1978 ein Rentenanspruch zustand. Wie hoch die zu erbringende Leistung war, sollte der Entscheidung der Verwaltung vorbehalten bleiben. § 130 SGG stellt insoweit den Fall einer zulässigen Rückverweisung der Sache an die Verwaltung dar (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 2. Aufl, § 130 Anm 1). Nicht ungeklärt blieb indessen nach dem Ausspruch des Urteils des LSG Rheinland-Pfalz vom 8. Februar 1982, ob der Klägerin für die streitige Zeit überhaupt eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zustand. Die Bindungswirkung eines gerichtlichen Urteils reicht soweit wie der in der Entscheidungsformel enthaltene Gedanke. Sie erfaßt den gesamten Subsumtionsschluß, der die Grundlage für den Ausspruch des Gerichtes bildet (BSG SozR 1500 § 77 Nr 20). Durch ein zusprechendes Grundurteil wird der Anspruch bejaht; das Gericht wird lediglich von notwendigen Feststellungen über die Höhe des Anspruches entlastet, die der Versicherungsträger einfacher treffen kann (Meyer-Ladewig aaO, § 130 Anm 1). Indem das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 8. Februar 1982 die Beklagte zur Zahlung der Erwerbsunfähigkeitsrente vom 1. Juli 1978 an verpflichtete, ohne für die Folgezeit Vorbehalte zu machen, konnte der Anspruch nicht mehr mit Gründen verneint werden, die bereits der Prüfung durch das LSG zugänglich gewesen waren. Wenn die Beklagte dies nicht hinnehmen wollte, mußte sie sich gegen das Urteil des LSG vom 8. Februar 1982 wenden. Dieses Urteil ist aber unanfechtbar geworden.

§ 1241d RVO stände aber auch - anders als die Beklagte und die Vorinstanzen meinen - der Gewährung von Rente im streitigen Zeitraum nicht entgegen. Richtig ist, daß insoweit die Vorschrift in der Fassung anzuwenden ist, wie sie in der damaligen Zeit (29. März 1979 bis 26. April 1979) galt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind Inhalt und Wirkung sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Recht zu beurteilen, welches zur Zeit des anspruchsbegründenden Ereignisses oder Umstandes gegolten hat, sofern nicht später in Kraft gesetztes neues Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt (BSG SozR 2200 § 1241 Nr 21 S 72f RVO mwN).

§ 1241d Abs 2 RVO hatte seit Inkrafttreten des Rehabilitationsangleichungsgesetzes (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) am 1. Oktober 1974 folgende Fassung: "Während der Durchführung einer Maßnahme zur Rehabilitation besteht kein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit oder auf erhöhte Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit nach § 1268 Abs 2 Nr 2, es sei denn, daß die Rente oder die Rentenerhöhung bereits vor Beginn der Maßnahme bewilligt war. Das gleiche gilt für einen sonstigen Zeitraum, für den Übergangsgeld zu zahlen ist". Durch Artikel II § 4 Nr 25 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) -SGB 10- wurde § 1241d RVO geändert. In Absatz 2 Satz 1 wurden nach dem Wort "besteht" die Worte "neben einem Anspruch auf Übergangsgeld" eingefügt, so daß die Bestimmung seit dem 1. Januar 1981 lautete: "Während der Durchführung einer Maßnahme zur Rehabilitation besteht neben einem Anspruch auf Übergangsgeld kein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit oder .....". Artikel 4 § 1 Nr 24 des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes (AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I S 1497), das am 1. Januar 1982 in Kraft getreten ist, hat in § 1241d Abs 2 in den Sätzen 1 und 2 nach dem Wort "Übergangsgeld" die Worte "Verletztengeld oder Versorgungskrankengeld" eingefügt. Seitdem hat § 1241d Abs 2 RVO seine heutige Fassung.

Obwohl somit § 1241d Abs 2 Satz 1 RVO erst in der am 1. Januar 1981 in Kraft getretenen Fassung bestimmt, daß die eigentlich angefallene Berufsunfähigkeitsrente oder Erwerbsunfähigkeitsrente während einer Reha-Maßnahme nur im Falle einer Übergangsgeldzahlung nicht gewährt werden soll, hat die gleiche Regelung schon vor diesem Zeitpunkt gegolten. Der Gesetzgeber hat nämlich mit der Änderung des § 1241d Abs 2 Satz 1 RVO durch das SGB 10 lediglich eine Klarstellung vorgenommen. Das bedeutet, daß die Vorschrift auch für die Vergangenheit in der geänderten Fassung anzuwenden ist (vgl als weitere vom BSG entschiedene Fälle einer klarstellenden Interpretation: SozR 1200 § 51 Nrn 9, 10; BSG-Urteil vom 30. Mai 1984 - 5a RKn 3/84). In der Literatur ist schon zutreffend darauf hingewiesen worden, daß es sich bei der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung des § 1241d Abs 2 RVO wohl um einen Irrtum des Gesetzgebers handelte (vgl Verbandskommentar zur RVO, 20. Ergänzungslieferung, § 1241d Anm 6). Die Einfügung in § 1241d Abs 2 Satz 1 RVO "neben einem Anspruch auf Übergangsgeld" durch das SGB 10 geht zurück auf einen Beschluß des Elften Ausschusses (Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung). Er begründete seinen Änderungswunsch damit, die Neufassung "stelle klar", daß für die Zeit, in der eine Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt werde, ein Rentenanspruch nur dann verdrängt werde, wenn zugleich ein Anspruch auf Übergangsgeld bestehe (BT-Drucks 8/4022 S 56, 93). In § 1241d Abs 2 Satz 2 RVO hat es im übrigen seit Geltung dieser Vorschrift immer geheißen, daß das gleiche "für einen sonstigen Zeitraum, für den Übergangsgeld .... zu zahlen ist", gelte. Auch daraus ist erkennbar, daß der wesentliche Gesichtspunkt für den Wegfall der Rente schon immer die Zahlung von Übergangsgeld war und es sich demnach bei der Ergänzung in § 1241d Abs 2 Satz 1 RVO durch das SGB 10 lediglich um eine redaktionelle Änderung iS einer Klarstellung des bereits bisher geltenden Rechts handelt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661681

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