Leitsatz (amtlich)

Bei der Beurteilung einer medizinischen Frage darf das Gericht von der Anhörung eines Sachverständigen nur absehen, wenn es die erforderliche Sachkunde selbst besitzt und darlegt, worauf diese beruht.

 

Normenkette

SGG § 128 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1955 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Wegen der Folgen eines Unfalls vom 21. oder 26. Juni 1951 gewährte die Beklagte dem Kläger nach einem Vergleich vor dem Oberversicherungsamt M... eine vorläufige Rente für die Zeit vom 29. Dezember 1951 bis zum 31. Dezember 1952. Den Antrag des Klägers vom 7. Januar 1953, ihm die Rente weiterzugewähren, weil eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes eingetreten sei, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 5. Februar 1953 mit der Begründung ab, es sei zwar ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Tragen schwerer Lasten und dem Bandscheibenvorfall im Sinne einer wesentlichen Verschlimmerung des bestehenden Leidens anzuerkennen gewesen, inzwischen sei aber die Verschlimmerung abgeklungen; das Leiden sei nur noch in dem Umfang vorhanden, in dem es auch ohne den Unfall infolge seines gewöhnlichen Verlaufs bestehen würde.

Das Sozialgericht München, auf das die gegen den Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 1953 gerichtete Berufung als Klage übergegangen ist, hat die Klage durch Urteil vom 24. Februar 1954 abgewiesen.

Mit der Berufung gegen dieses Urteil hat der Kläger Weitergewährung der Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 35 v.H. beantragt. Er hat eine persönliche Untersuchung verlangt durch einen ärztlichen Sachverständigen, weil Professor Dr. L..., dessen auf Grund der Akten abgegebenen gutachtlichen Äußerungen Grundlage der Bescheide und des Urteils waren, von der unzutreffenden Voraussetzung ausgegangen sei, daß er bereits früher eine Ischiaserkrankung durchgemacht habe, die als Anzeichen für eine Bandscheibenerkrankung zu werten sei. Er hat bestritten, daß seine Gesundheitsstörungen anlagebedingt seien.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) hat die Berufung durch Urteil vom 26. Oktober 1955 zurückgewiesen. Zum Unfallhergang enthält das Urteil folgende Ausführungen: Der Kläger habe angegeben, er sei beim Tragen eines 80 bis 100 Pfund schweren Steines auf abschüssigem Boden mit dem linken Bein nach hinten seitwärts abgerutscht, jedoch nicht gestürzt; hierbei habe er einen heftigen Stich im Kreuz verspürt; er habe danach keine Steine mehr getragen, sondern nur noch bis zum Arbeitsschluß gepflastert; am folgenden Tage habe er überhaupt nicht mehr arbeiten können und sich deshalb in ärztliche Behandlung begeben; der Unfallzeuge F. habe die Darstellung des Klägers und dessen Schmerzäußerung bestätigt.

Zur Begründung der Entscheidung hat das LSG. ausgeführt: Für die Zeit nach dem 31. Dezember 1952 stehe dem Kläger keine Unfallrente mehr zu, da seine Erwerbsfähigkeit durch die unfallbedingte Verschlimmerung des Bandscheibenvorfalls nicht mehr um mindestens 20 v.H. gemindert werde. Auf Grund des Gutachtens von Professor Dr. L... sei eine Verursachung des Bandscheibenvorfalls durch die betriebliche Tätigkeit im Sinne der Verschlimmerung anerkannt worden. Auf diese ursächliche Einwirkung sei ein wertmäßig abgrenzbarer Faktor der MdE. zurückzuführen. Über den 31. Dezember 1952 hinaus sei eine Entschädigung nicht gerechtfertigt, weil nach einer weiteren Stellungnahme von Professor Dr. L... die Umstände des Falles und die Art des Befundes die Annahme einer weitergehenden Verschlimmerung nicht veranlaßten. Als Dauer der Verschlimmerung habe er die Zeitspanne von ein bis zwei Jahren angegeben. Diese Auffassung, auf die sich der ablehnende Bescheid und das angefochtene Urteil stützten, entspreche der allgemeinen medizinischen Erfahrung, daß die Gewalteinwirkungen im allgemeinen nur einen akuten Einfluß auf das Krankheitsgeschehen hätten, der je nach Lage des Falles nach einer gewissen Zeit abklinge; dann werde der Zustand wieder erreicht, in dem der Bandscheibenvorfall nach seiner eigenen inneren Gesetzmäßigkeit sich weiter entwickele. Daß es sich bei dem Kläger um eine fortschreitende Aufbrauchserscheinung an der Wirbelsäule handele, ergebe sich auch aus den Röntgenuntersuchungen der Orthopädischen Universitäts-Poliklinik M.... Denn durch diese Untersuchung, die am 23. Juni 1952 durchgeführt worden sei, nachdem der Kläger bei der Landesversicherungsanstalt Oberbayern einen Invalidenrentenantrag gestellt habe, sei festgestellt worden, daß an der Wirbelsäule des Klägers eine vermehrte Lordose bestehe, die sich auf alle Abschnitte derselben erstrecke und umfangreiche Bewegungseinschränkungen verursache.

Gegen das Urteil des LSG. hat der Kläger in der gesetzlichen Form und Frist Revision eingelegt und sie in der gesetzlichen Frist begründet. Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. Januar 1953 an eine Rente nach einer MdE. von 40 v.H. zu leisten,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Bayerische LSG. zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); sie ist aber statthaft und zulässig, weil das angefochtene Urteil an wesentlichen Verfahrensmängeln leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Wie die Revision mit Recht rügt, hat das LSG. gegen §§ 103, 128 SGG dadurch verstoßen, daß es den Unfallhergang nicht ausreichend aufgeklärt hat. Es ist aus dem Urteil nicht klar ersichtlich, was das LSG. in dieser Hinsicht als festgestellt erachtet. Zur Aufklärung des Unfallhergangs hat das LSG. selbst keine Beweisaufnahme durchgeführt. Es hat im Tatbestand lediglich Behauptungen des Klägers wiedergegeben. Der Kläger soll angegeben haben, daß er nicht gestürzt sei und bis zum Arbeitsschluß zwar nicht mehr Steine getragen, aber Pflasterarbeiten verrichtet habe. Falls das LSG. diese Darstellung, die vom Zeugen F... bestätigt worden sein soll, zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht haben sollte, wäre schon darin ein Verstoß gegen § 128 SGG zu erblicken. Denn weder aus den vom LSG. wiedergegebenen Angaben des Klägers bei der Unfalluntersuchung am 15. November 1951 noch aus den Bekundungen des in diesem Zusammenhang vom LSG. erwähnten Zeugen F... läßt sich eine derartige Darstellung entnehmen. Der Kläger hat damals vielmehr u.a. erklärt, er sei beim Tragen eines Steines ausgerutscht; dabei habe es ihm einen Stich gegeben, worauf er zusammengesunken sei; am nächsten Tag habe er das Arbeiten nochmals, allerdings erfolglos, versucht. Diese Schilderung hat der Zeuge F... im wesentlichen bestätigt. Da auch das LSG. die Erklärungen des Klägers und des Zeugen F. als übereinstimmend ansieht, durfte es nicht von einem Unfallhergang ausgehen, der diesen übereinstimmenden Darstellungen des Klägers und des Zeugen F... nicht entspricht. Unabhängig davon aber, ob das LSG. die im Tatbestand gegebene Unfallschilderung als tatsächliche Feststellung zur Grundlage der Entscheidung gemacht hat, fällt dem LSG. ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) deswegen zur Last, weil es die noch im Berufungsschriftsatz vom Kläger aufgestellte Behauptung, er sei bei dem Unfall auf der Stelle zusammengebrochen, übergangen und unberücksichtigt gelassen hat. Da das LSG. den ursprünglichen Erklärungen des Klägers entgegen ihrem Wortlaut einen anderen Inhalt entnommen hat, hätte das ausdrückliche Vorbringen des Klägers im Berufungsschriftsatz dem LSG. Veranlassung geben müssen, den Sachverhalt durch weitere Ermittlungen in dieser Richtung aufzuklären.

Die wegen Verletzung des § 103 SGG nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 statthafte Revision ist auch begründet, da das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruht. Es ist nicht auszuschließen, daß sich der Unfallhergang und seine unmittelbaren Auswirkungen bei der gebotenen weiteren Sachaufklärung anders dargestellt hätten und dies von Einfluß auf die Entscheidung gewesen wäre. Nach genaueren Feststellungen des Unfallhergangs hätte sich dem LSG. möglicherweise die Notwendigkeit aufgedrängt, Professor Dr. L... oder einen anderen Sachverständigen darüber zu hören, ob die Annahme aufrechterhalten werden könne, daß die Auswirkungen des Unfallereignisses vom 1. Januar 1953 an nicht mehr eine MdE. von wenigstens 20 v.H. zur Folge haben.

Weiterhin rügt die Revision mit Recht, daß das LSG. unter Verstoß gegen § 128 SGG zur Unterstützung seiner Auffassung aus einem Röntgenbefund Schlüsse gezogen und damit sich zu einer medizinischen Frage eine eigene Meinung gebildet hat, ohne im Urteil anzugeben, woher es die hierzu erforderliche Fachkunde besitzt.

Nach den tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil hat die Röntgenuntersuchung des Klägers am 23. Juni 1952 ergeben, daß an seiner Wirbelsäule eine vermehrte Lordose besteht, die sich auf alle Abschnitte derselben erstreckt. Hieraus zieht das LSG. aus eigener Sachkunde den Schluß, der Kläger leide unter fortschreitenden Aufbrauchserscheinungen an der Wirbelsäule. Es kommt nicht darauf an, ob diese Schlußfolgerung zutreffend oder auch lediglich vertretbar ist. Da dem Richter in aller Regel die eigene Sachkunde für die Beurteilung rein medizinischer Fragen fehlt, muß er, wenn er ohne Hinzuziehung eines Gutachters eine rein medizinische Frage selbst entscheiden will, in den Urteilsgründen seine Sachkunde in einer Weise dartun, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt, ob er sich die erforderliche Sachkunde etwa zu Unrecht zugetraut hat (vgl. BGH. in VersR. 1958 S. 545; BGH. in MDR 1958 S. 938; BSG. in KOV. 1958, Rechtspr. Nr. 912). Zwar sind die Anforderungen, die an den Ausweis der eigenen Sachkunde im Urteil zu stellen sind, je nach dem Schwierigkeitsgrad der zu entscheidenden Frage unterschiedlich; ein Verfahrensmangel ist jedoch selbst bei Beurteilung einer einfacheren rein medizinischen Frage jedenfalls dann anzunehmen, wenn - wie im angefochtenen Urteil - keinerlei dahingehende Ausführungen gemacht werden. Denn in einem solchen Fall ist dem Revisionsgericht eine Prüfung nicht möglich. Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten handelt es sich bei der in Frage stehenden medizinischen Schlußfolgerung nicht lediglich um eine Hilfserwägung, die auf die Entscheidung keinen Einfluß gehabt hätte. Das LSG. hat sich hierdurch vielmehr in seiner Meinung bestärkt gesehen, daß die Beschwerden des Klägers nicht auf den Unfall, sondern auf altersbedingte Veränderungen oder auf vorher bestehende Leiden zurückzuführen seien. Das angefochtene Urteil beruht demnach auch auf diesem Verfahrensmangel.

Dagegen ist die Rüge des Klägers nicht berechtigt, das LSG. hätte seinem, insbesondere in der Berufungsschrift gestellten Antrag, persönlich von Professor Dr. Lange untersucht zu werden, entsprechen müssen. Dem LSG. ist weder eine Verletzung des § 109 SGG noch ein Verstoß gegen die in § 106 niedergelegte Pflicht zur Klarstellung der Anträge zur Last zu legen. Es konnte in Anbetracht der dem Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht zuteil gewordenen Belehrung über die Vorschrift des § 109 SGG davon ausgehen, daß der im Berufungsschriftsatz gestellte Antrag der den Anforderungen des § 109 SGG eindeutig nicht entspricht, lediglich als Anregung zu weiterer Amtsermittlung gedacht war.

Da der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden konnte, mußte das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden.

Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG. zu beachten haben, daß die von den verschiedenen Gutachtern - auch von Professor Dr. L... - erkennbar als erheblich angesehene Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Maße der Kläger vor dem Unfall an einer Ischiaserkrankung gelitten hat, bisher nicht geklärt ist; der Kläger hat, wie das LSG. im Tatbestand ausführt, u.a. mit der Berufung geltend gemacht, Professor Dr. L... sei von der unzutreffenden Voraussetzung ausgegangen, daß eine frühere Ischiaserkrankung ein Anzeichen dafür sei, daß damals bereits eine Bandscheibenerkrankung bestanden habe.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1772247

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