Leitsatz (amtlich)

1. Der Weg eines Versicherten von seiner Wohnung zum Lohnbüro zwecks Geltendmachung eines Fehlers bei der Lohnberechnung steht unter Versicherungsschutz.

2. Voraussetzung für den Erlaß eines Grundurteils ist, daß der Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist. Es genügt allerdings, daß das Gericht, welches die Voraussetzungen des Anspruchs dem Grunde nach im übrigen für gegeben hält, es als wahrscheinlich ansieht, daß der Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist.

 

Normenkette

RVO § 543 Fassung: 1942-03-09; SGG § 130 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. September 1959 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der Kläger war auf der Schachtanlage J P der B Bergbau AG. als Hauer beschäftigt. Nach Beendigung seines ihm für das Jahr 1955 zustehenden Tarifurlaubs fuhr er erst einen Tag zu spät wieder an. Dieser Tag wurde von der Zechenverwaltung als willkürliche Feierschicht gewertet, ohne daß noch festzustellen ist, ob dies dem Kläger seinerzeit bekanntgegeben wurde. Ende Mai 1955 wurde der Kläger auf die Schachtanlage P R derselben Bergwerksgesellschaft verlegt. Die Verwaltung dieser Schachtanlage berücksichtigte die damalige Fehlschicht in der Weise, daß sie im Jahre 1956 den Tarifurlaub des Klägers um einen Tag kürzte, allerdings ohne ihm dies bekanntzugeben. Anstatt am 4. fuhr der Kläger daher erst am 5. Juli 1956 wieder an. Aus diesem Grunde wurde ihm für den 4. Juli 1956 kein Lohn ausgezahlt, ohne daß ihm die näheren Gründe für diesen Abzug bekanntgegeben wurden. Die Lohnabrechnung für Juli 1956 erfolgte am 22. oder 23. August 1956 und die Auszahlung des dem Kläger danach noch zustehenden Lohnguthabens am 24. August 1956. Am 25. August 1956 begab sich der Kläger, der seit sieben Wochen Nachtschicht verfahren hatte, gegen Mittag auf den Weg zum Lohnbüro, um geltend zu machen, daß der 4. Juli 1956 entgegen der Auffassung der Zechenverwaltung doch als Urlaubstag zu gelten habe und somit noch zu vergüten sei. Er brachte diese Reklamation erst am 25. August 1956 an, weil sich im Lohnbüro ein Anschlag befand, nach welchem Reklamationen erst nach dem 25. eines jeden Monats erfolgen durften, wobei aber allgemein Klarheit darüber bestand, daß diese dann auch schon früher zulässig war, wenn die Lohnzahlung an die Belegschaft bereits vorher beendet war, dieser Vorgang also durch derartige Rücksprachen nicht mehr gestört werden konnte. Auf diesem Weg erlitt der Kläger einen Verkehrsunfall.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 17. Dezember 1956 die Gewährung einer Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß dieses Unfalls ab, weil der Kläger aus eigenwirtschaftlichen Gründen zum Lohnbüro gegangen sei. Hiergegen erhob der Kläger Klage mit dem Antrag, den Unfall als Wegeunfall anzuerkennen und ihm eine Unfallrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Das Sozialgericht hob den angefochtenen Bescheid auf und stellte fest, daß der Unfall des Klägers vom 25. August 1956 ein Wegeunfall im Sinne des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei, und gab der Beklagten auf, "Feststellungen darüber zu treffen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe dem Kläger aus Anlaß dieses Unfalls eine Rente zu gewähren ist."

Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht durch Urteil vom 17. September 1959 zurück. Der Unfall des Klägers sei als Wegeunfall anzusehen. Für Lohnreklamationen müsse ebenso wie für die Lohnempfangnahme, falls zur Zeit der Reklamation noch ein Arbeitsverhältnis zwischen Versichertem und Unternehmer bestanden habe, der rechtlich wesentliche Zusammenhang mit dem Betrieb jedenfalls dann anerkannt werden, wenn nach betrieblicher Anordnung Reklamationen nicht gleichzeitig mit der Empfangnahme des Lohnes angebracht werden durften und wenn der Versicherte die Reklamation bei der hierfür vorgesehenen Stelle vorbringe, sobald dies zulässig sei. Hierbei komme es nicht darauf an, ob die Reklamation berechtigt sei oder nicht; es bleibe lediglich dahingestellt, ob völlig grundlose Beanstandungen eine andere Beurteilung rechtfertigten. Hier liege ein Fall dieser letzteren Art jedenfalls nicht vor, weil es dem Kläger nicht zum Vorwurf gemacht werden könne, daß er sich nach einem Jahr nicht mehr an die mit dieser Fehlschicht zusammenhängenden Umstände erinnert habe.

Gegen dieses ihr am 28. November 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte durch ihren Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt Dr. M, F, durch Telegramm vom 22. Dezember 1959, eingegangen an demselben Tage, Revision eingelegt und diese durch Schriftsätze vom 22. Dezember 1959, eingegangen am 24. Dezember 1959, und vom 15. Januar 1960, eingegangen am 22. Januar 1960, begründet.

Das Landessozialgericht habe den Begriff des Wegeunfalls verkannt; insbesondere habe es eine Beziehung zwischen dem Weg des Klägers zum Lohnbüro und der betrieblichen Tätigkeit des Klägers bejaht, obwohl ein betriebliches Interesse an dieser Reklamation nicht gegeben gewesen sei. Dadurch sei es zu einer nicht gerechtfertigten Ausweitung des § 543 RVO gekommen.

Sie hat beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils der Berufung der Beklagten gegen das gleichfalls aufzuhebende Urteil des Sozialgerichts in Dortmund vom 29. November 1957 stattzugeben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil nebst den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger hat beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er habe nicht wissen können, daß es sich um die Anrechnung der willkürlichen Feierschicht aus dem Jahre 1955 gehandelt habe, da ihm keine Erklärung für diesen Abzug gegeben worden sei. Seine Reklamation sei, hiervon abgesehen, auch zu Recht erfolgt, weil die Zeche die willkürliche Feierschicht vom 18. April 1955 nach § 33 Abs. 3 des Manteltarifvertrages für Arbeiter des Rheinisch-Westfälischen Steinkohlengebietes vom 1. Mai 1953 nur innerhalb einer Ausschlußfrist von sechs Monaten hätte anrechnen dürfen, diese Frist aber bereits abgelaufen gewesen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, daß es sich bei dem Unfall des Klägers um einen Wegeunfall im Sinne des § 543 RVO handelt. Der Unfall hat sich auf dem Weg des Klägers von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstätte ereignet. Das Lohnbüro gehört, jedenfalls soweit es sich auf der Schachtanlage befindet, zur Arbeitsstätte im Sinne des § 543 RVO. Unter Arbeitsstätte ist nämlich die gesamte Schachtanlage zu verstehen. Der Weg des Klägers stand auch mit "seiner Tätigkeit in dem Unternehmen" im Sinne des § 543 Abs. 1 RVO im Zusammenhang. Wie schon das Reichsversicherungsamt in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, steht die Lohnzahlung grundsätzlich in einem wesentlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit und damit auch der Weg von der Wohnung zum Lohnbüro zwecks Empfangnahme des Lohnes (vgl. dazu EuM. Bd. 20 S. 31; Bd. 26 S. 165; Bd. 33 S. 270). Ist dies aber richtig, und der erkennende Senat hatte keine Bedenken, sich dieser Auffassung anzuschließen, so muß auch der Weg eines Versicherten von seiner Wohnung zum Lohnbüro zwecks Geltendmachung eines Fehlers bei der Lohnberechnung gleich beurteilt werden; denn dieser Fehler ist seinerseits ebenso wie der Weg des Versicherten zur Geltendmachung eines solchen Fehlers durch die Lohnberechnung bedingt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann der Versicherungsschutz weder davon abhängig sein, ob dem Arbeitgeber tatsächlich ein Fehler bei der Lohnberechnung unterlaufen ist, noch davon, ob der Versicherte dies annehmen durfte, ob er eine Reklamation zur rechten Zeit vorgebracht hat, oder ob in diesem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis noch bestand, sondern ausschließlich davon, ob der Versicherte zwecks Vorbringens einer solchen Reklamation zum Lohnbüro gegangen ist. Wenn allerdings festgestellt wird, daß in Wirklichkeit kein Fehler bei der Lohnberechnung unterlaufen ist und der Kläger dies auch hätte erkennen müssen, so kann dieser Umstand als Indiz dafür verwertet werden, daß der Kläger entgegen seiner Behauptung in Wirklichkeit nicht an das Vorliegen eines solchen Fehlers geglaubt hat und er sich daher in Wirklichkeit überhaupt nicht auf dem Wege zur Arbeitsstätte zwecks Vorbringens einer solchen Reklamation befunden hat. Läßt sich im Einzelfall trotz Ausschöpfung aller geeigneten greifbaren Beweise weder feststellen, daß sich der Versicherte zwecks Geltendmachung einer Lohnreklamation auf dem Weg zum Lohnbüro befunden hat, noch daß dies nicht der Fall war, so geht dies nach dem auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz von der Verteilung der Beweislast zu Lasten des Versicherten, da er seinen Anspruch auf diesen Sachverhalt stützt. Da das Berufungsgericht im vorliegenden Falle jedoch bindend festgestellt hat, daß sich der Kläger zwecks Geltendmachung eines solchen Fehlers auf dem Wege zum Lohnbüro der Zeche befunden hat, mußte dieser Unfall als Wegeunfall anerkannt werden.

Obwohl somit dem angefochtenen Urteil im Grundsatz zuzustimmen war, war es dennoch aufzuheben, weil die getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um eine Verurteilung der Beklagten zu rechtfertigen. Das Berufungsgericht hat dadurch, daß es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen hat, das Urteil des Sozialgerichts bestätigt. Dieses letztere Urteil ist im Grundsatz zwar zutreffend, in seinem Urteilsausspruch im einzelnen aber fehlerhaft. Abgesehen davon, daß das Sozialgericht auf das als zusammengefaßte Aufhebungs- und Leistungsklage anzusehende Klagebegehren des Klägers nur durch zusammengefaßtes Aufhebungs- und Leistungsurteil hätte entscheiden dürfen, ist der Feststellungsausspruch des Sozialgerichts auch deshalb unzulässig, weil nicht das Bestehen eines Rechtsverhältnisses, sondern lediglich das Bestehen eines Elements eines Rechtsanspruchs festgestellt worden ist (vgl. dazu Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. S. 86 II 1 a). Die darüber hinaus der Beklagten gegebene Auflage, weitere Feststellungen zu treffen, ist ihrer Art nach gesetzlich überhaupt nicht vorgesehen und daher ebenfalls unzulässig. In Frage stand hier allenfalls der Erlaß eines Grundurteils. Allerdings konnte das Sozialgericht ein solches nur erlassen, wenn es überzeugt war, daß der Leistungsanspruch dem Grunde nach bestand. Dazu gehört an sich auch die Überzeugung, daß der Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe besteht, da andernfalls das Bestehen eines Anspruchs überhaupt nicht bejaht werden kann. Allerdings genügt es, wenn das Gericht, das die Voraussetzungen des Anspruchs dem Grunde nach im übrigen für gegeben hält, es nach den getroffenen Feststellungen als wahrscheinlich ansieht, daß der Anspruch in einer Mindesthöhe gegeben ist, da sonst der Zweck eines Grundurteils, die Ermittlungen über die Höhe des Anspruchs einem späteren Verfahren vorzubehalten, vereitelt werden würde (vgl. dazu Rosenberg a. a. O. § 55 III cd). Im vorliegenden Fall liegen über die Folgen dieses Unfalls aber überhaupt keine Feststellungen vor, so daß selbst unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ein Grundurteil nicht ergehen konnte. Das Berufungsgericht wird nunmehr diese Ermittlungen noch anzustellen haben und, falls es zu dem Ergebnis kommt, daß wahrscheinlich Unfallfolgen in einem Umfang vorliegen, auf Grund deren wenigstens ein Anspruch auf eine gesetzliche Mindestunfallrente gegeben sein würde, die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen haben. Bedenken gegen ein solches Verfahren bestehen nicht, da in dem Verfahren über die Höhe des Anspruchs immer noch die Möglichkeit offenbleibt, trotz des Grundurteils den Anspruch deshalb abzulehnen, weil sich ergibt, daß eine Erwerbsbeschränkung in gesetzlicher Mindestdauer und -höhe entgegen der vorläufigen Annahme nicht vorliegt.

 

Fundstellen

BSGE, 178

MDR 1961, 357

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