Entscheidungsstichwort (Thema)

Bezeichnung des Verfahrensmangels der fehlerhaften Besetzung der Richterbank infolge Einnickens eines Richters

 

Orientierungssatz

1. Kurzfristiges "Einnicken" eines beisitzenden Richters am LSG während einer länger dauernden Verhandlung ist im allgemeinen unschädlich und stellt keinen Revisionsgrund dar.

2. Die Zeitspanne der Abwesenheit eines Richters ist nur dann erheblich, wenn während ihrer Dauer solche Gesichtspunkte erörtert werden, welche bisher keine oder doch nur eine nebensächliche Bedeutung hatten. In diesem Fall muß im einzelnen dargelegt werden, daß der genannte Berufsrichter gerade während der Erörterung abwesend war welche einerseits bisher nicht - ausreichend - erörtert waren und die - bei ihrer Berücksichtigung - möglicherweise zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis geführt haben können (vgl BVerwG vom 14.11.1983 6 C 116/82).

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.11.1984; Aktenzeichen L Ua 962/83)

 

Gründe

Der Kläger ist - nur insoweit interessieren hier noch seine anfangs geltend gemachten Ansprüche - im erstinstanzlichen Verfahren teilweise insoweit erfolgreich gewesen, als das Sozialgericht (SG) die Beklagte durch Urteil vom 27. April 1983 zur Zahlung einer höheren Rente (Minderung der Erwerbsfähigkeit -MdE- in Höhe von 90 vH anstelle einer MdE in Höhe von 60 vH) verurteilt hat. Soweit die Beklagte sich in dem angefochtenen Bescheid vom 27. Juni 1979 (in der Form des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 1979) auf die Verjährung von Ansprüchen auf Rentenzahlungen gemäß § 45 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) berufen hatte, hat das SG in Anwendung der Grundsätze des Urteils des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. Dezember 1982 (BSGE 54, 223) entschieden, daß insoweit die Vorschrift des § 44 Abs 4 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) anzuwenden sei, wonach Sozialleistungen für die frühere Zeit nicht zu erbringen seien. Das SG hat den Kläger darüber belehrt, daß die Berufung gemäß § 145 Ziffer 2 bzw 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nur statthaft sei, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und dieser auch tatsächlich vorliegt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil sie bezüglich der "Gradstreitigkeit" (- der Kläger hatte begehrt, ihm die Vollrente zuzusprechen -) nach § 145 Ziffer 4 SGG nicht gegeben und bezüglich der Ansprüche für die Zeit vor dem 1. Januar 1974 gemäß § 145 Ziffer 2 SGG unzulässig sei. Ein Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens liegt nach der Überzeugung des LSG nicht vor.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet der Kläger sich mit der vorliegenden Beschwerde, zu deren Begründung er geltend macht, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), und das Verfahren des LSG sei fehlerhaft gewesen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

Die Beschwerde konnte keinen Erfolg haben, weil die vom Kläger vorgebrachten Gründe für die Zulassung der Revision nicht gegeben sind.

Die Auffassung des Klägers, "die Frage, inwieweit sich die Beklagte für die Zeit vor 1974 auf Verjährung berufen kann" (S 4 der Beschwerdebegründung), stehe im Mittelpunkt des vorliegenden Rechtsstreits und sei von grundsätzlicher Bedeutung, trifft nicht zu.

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn zu erwarten ist, daß die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird (Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, S 36 mwN). Es muß eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen sein, welche bisher revisionsgerichtlich noch nicht - ausreichend - geklärt ist (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; Beschluß des Senats vom 18. Februar 1981 - 2 BU 61/81 - und vom 31. März 1981 - 2 BU 159/80 - jeweils mwN). Demgemäß muß der Beschwerdeführer, welcher die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG darzulegen hat, aufzeigen, ob und inwieweit zu der aufgeworfenen Frage bereits Rechtsgrundsätze herausgearbeitet worden sind und in welchem Rahmen noch eine weitere Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung derselben durch das Revisionsgericht erforderlich erscheint und in dem angestrebten Revisionsverfahren erfolgen wird. Hieran fehlt es beim Beschwerdevorbringen des Klägers; denn er hat nicht einmal dargelegt, welche Rechtsgrundsätze bezüglich des Rechtsinstituts der Verjährung im Sozialrecht bisher revisionsgerichtlich erarbeitet und nicht umstritten sind (s hierzu die Übersicht bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 446g ff). Darüber hinaus trifft nicht zu, daß die aufgeworfene Frage überhaupt im Revisionsverfahren geklärt würde. Hierzu ist auf folgendes hinzuweisen.

Das LSG hat sich in seiner Entscheidung zwar nicht mit der vom SG ausführlich dargestellten und entschiedenen Frage befaßt, ob die Ansprüche des Klägers für die Zeit vor dem 1. Januar 1974 wegen Verjährung (§ 45 Abs 1 SGB I) oder nach § 44 Abs 4 SGB X nicht gegeben sind und ist ohne Begründung vor der Anwendbarkeit des § 45 Abs 1 SGB I ausgegangen. Da das LSG in diesem Zusammenhang jedoch lediglich geprüft hat, ob die Berufung zulässig war, ist dies im Ergebnis gleichgültig. Unabhängig davon, ob die Rentenansprüche des Klägers bis Ende 1973 nach § 44 Abs 4 SGB X ausgeschlossen waren, oder ob die Verjährungseinrede der Beklagten - wovon das LSG ausgeht - durchschlug, war die Berufung des Klägers nicht zulässig:

Das SG hatte - abgesehen von dem "Gradstreit" - über den Anspruch auf Rentenzahlungen bis zum 31. Dezember 1973 zu entscheiden. Demgemäß ging es sowohl im Zeitpunkt der Urteilsfindung (27. April 1983) als auch zur Zeit der Berufungseinlegung (9. Juni 1983) nur noch um Rentenzahlungen für einen bereits abgelaufenen Zeitraum, so daß die Berufung nach § 145 Ziffer 2 2. Alternative ausgeschlossen war (BSGE 14, 213, 216; 16, 134, 135; s ferner SozR 1500 § 146 Nrn 6, 7, 12, 13, 14). Demgemäß brauchte die Frage, ob die Regeln über die Verjährung oder über den sonstigen Ausschluß von Ansprüchen (§ 44 Abs 4 SGB X) anzuwenden waren, nicht entschieden zu werden. Diese Frage würde folglich auch im Revisionsverfahren ohne Belang sein und nicht zur Entscheidung kommen.

Auch die behaupteten Verfahrensmängel sind nicht gegeben.

Soweit die Beschwerde geltend macht, das LSG hätte die Berufung sachlich entscheiden müssen und nicht durch Prozeßurteil verwerfen dürfen, kann zunächst auf die obigen Darlegungen Bezug genommen werden. Soweit darüber hinaus die Zulässigkeit der Berufung mit der Behauptung des Klägers begründet wird, das SG hätte einen Antrag nach § 109 SGG übergangen, und das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, der Verfahrensablauf vor dem SG zeige, daß ein diesbezüglicher Antrag im Zeitpunkt der Urteilsfindung nicht mehr aufrechterhalten bzw gestellt war, entspricht die Auffassung des LSG der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, auf die hier verwiesen wird (s zuletzt Beschluß vom 15. Juli 1983 - 2 BU 54/83 -).

Die Beschwerde nimmt an, das "überdurchschnittliche wirtschaftliche Gewicht" der Sache hätte zur Zulässigkeit der Berufung führen müssen. Diese Annahme ist durch nichts begründet; sie widerspricht § 150 Nr 1 SGG, welcher bezüglich der Zulassung des Rechtsmittels wegen grundsätzlicher Bedeutung einer Rechtssache der Vorschrift des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG entspricht, so daß auf die obigen Darlegungen verwiesen werden kann.

Es kann hier offenbleiben, ob ein Verfahrensmangel darin erblickt werden kann, daß das LSG sich nicht mit der Entscheidung des BSG (BSGE 54, 223) auseinandergesetzt hat. Insofern ist oben dargelegt, daß die darin beantwortete Frage, ob von einem bestimmten Zeitpunkt an die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X anzuwenden ist, für die Entscheidung des LSG ohne Belang war.

Schließlich rügt der Kläger als Verfahrensmangel, das LSG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil der Richter am LSG Dr Schopp während der mündlichen Verhandlung über die vorliegende Streitsache in der Zeit von ca 15.50 Uhr bis 16.12 Uhr "mehrere Male für etwa 1/2 Minute eingenickt" sei. In diesem Punkt ist die Beschwerde nicht zulässig, weil ein Verfahrensmangel nicht ausreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) ist.

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG führt nur ein solcher Verfahrensmangel zur Zulassung der Revision, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Diesen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Verfahrensmangel und dem auf die Verhandlung folgenden Urteil hätte der Kläger folglich darlegen ("bezeichnen") müssen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist diese Voraussetzung allgemein anerkannt. Das BSG hat von Anfang an entschieden und im einzelnen dargelegt, daß vorübergehende Abwesenheit von der mündlichen Verhandlung infolge Einnickens während einer länger andauernden Verhandlung - welche in der vorliegenden Sache ausweislich des Protokolls bis 18.25 Uhr dauerte - nur von Belang ist, wenn der Schlag eine "nicht unerhebliche Zeitspanne" gedauert hat (KOV 1965, 219; BVBl 1966, 139). Eine Zeitspanne ist nur dann erheblich, wenn während ihrer Dauer solche Gesichtspunkte erörtert werden, welche bisher keine oder doch nur eine nebensächliche Bedeutung hatten; denn von den Berufsrichtern eines Kollegialgerichts ist zweifellos anzunehmen, daß sie mit dem vorher unterbreiteten Prozeßstoff vertraut sind. Der Kläger hätte folglich im einzelnen darlegen müssen, daß der genannte Berufsrichter gerade während der Erörterung solcher Fragen abwesend war, welche einerseits bisher nicht - ausreichend - erörtert waren und die - bei ihrer Berücksichtigung - möglicherweise zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis geführt haben können (s hierzu ferner BVerwG, Buchholz, 310 § 138 Ziffer 1 VwGO Nrn 11, 15, 17 und 19 sowie die Entscheidung vom 14. November 1983 - 6 C 116/82 -; BGHSt 2, 14 mwN; LSG Rheinland-Pfalz, ZfSH 1982, 24). An diesen für die Zulässigkeit der Beschwerde notwendigen Darlegungen fehlt es hier.

Die Beschwerde war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656632

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