Entscheidungsstichwort (Thema)

Frist für die Begründung der Revision oder der Nichtzulassungsbeschwerde bei schuldlos versäumter Frist zur Einlegung des Rechtsmittels

 

Leitsatz (amtlich)

1. Hat ein Rechtsmittelführer die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Revision schuldlos versäumt, so ist ihm unter den weiteren Voraussetzungen von SGG § 67 Wiedereinsetzung auch dann zu bewilligen, wenn er das Rechtsmittel innerhalb von 2 Monaten nach Zustellung des angefochtenen Urteils (Zulassungsbeschlusses) nicht begründet hat.

2. In diesem Fall steht ihm zur Begründung des Rechtsmittels eine weitere Frist von einem Monat zur Verfügung, die mit Zustellung des die Wiedereinsetzung bewilligenden Beschlusses des BSG beginnt (Weiterführung von BSG 1958-10-29 11/8 RV 1301/56 = BSGE 8, 207; für SGG § 160a Abs 2 S 1, § 164 Abs 2 S 1 Fassung: 1974-07-30).

 

Normenkette

SGG § 164 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 160a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1974-07-30, § 164 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1974-07-30, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 21.01.1977; Aktenzeichen L 1 An 109/76)

SG Hildesheim (Entscheidung vom 22.04.1976; Aktenzeichen S 16 An 187/75)

 

Tenor

Dem Kläger wird bezüglich der versäumten Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. Januar 1977 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt.

 

Gründe

Der Kläger beantragt, ihm wegen der Versäumung der Frist für die Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) zu bewilligen. Dieser Antrag bietet indessen Anlaß, vorweg zu prüfen, ob die Nichtzulassungsbeschwerde nicht schon aus einem Grund, der nichts mit der Versäumung der Einlegungsfrist zu tun hat, unzulässig ist. In diesem Falle käme die vom Kläger beantragte Wiedereinsetzung nicht in Betracht; es wäre sinnlos, innerhalb eines Rechtsmittelverfahrens bezüglich einer bestimmten Verfahrensfrist die Wiedereinsetzung zu bewilligen, anschließend aber das Rechtsmittel aus einem anderen Grunde als unzulässig zu verwerfen. Ein solcher anderer, zur Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde zwingender Grund könnte im konkreten Fall die Tatsache sein, daß der Kläger die Beschwerde bislang nicht, also entgegen § 160 a Abs 2 Satz 1 SGG nicht bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Zustellung des angefochtenen Urteils begründet hat.

Eine Verwerfung der Beschwerde wegen nicht fristgerechter Begründung scheidet vorliegend nicht schon deswegen aus, weil etwa die schuldlose Versäumung der Einlegungsfrist zugleich immer auch die schuldlose Versäumung der Frist zur Begründung der Beschwerde nach sich zöge mit der Folge, daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auch auf die Begründungsfrist zu bewilligen wäre. Die Gründe, aus denen der Kläger nach seiner Ansicht schuldlos verhindert war, die Frist zur Einlegung der Beschwerde einzuhalten, können ihn nicht gehindert haben, die Beschwerde zu begründen: Daß die in der Kanzlei seines bevollmächtigten Rechtsanwalts beschäftigte Auszubildende den die Beschwerdeschrift enthaltenden Brief weisungswidrig nicht am 11. März 1977, sondern erst am 13. März 1977 zur Post gegeben hat, kann den Bevollmächtigten nicht davon abgehalten haben, die Beschwerde zu begründen; hierfür standen ihm vielmehr, ganz unbehindert von diesem Umstand, ab Zustellung des angefochtenen Urteils zwei Monate ungeschmälert zur Verfügung.

Eine Verwerfung der Beschwerde als unzulässig käme aber trotz ungenutzten Ablaufs der Zweimonatsfrist dann nicht in Betracht, wenn die vom Gesetz ausschließlich zur Begründung eines Rechtsmittels zur Verfügung gestellte Frist etwa gar nicht zu laufen begänne, wenn - wie hier - das Rechtsmittel selbst nicht fristgerecht eingelegt worden ist. Tatsächlich hat bereits das Reichsgericht (RG) in Warneyer 1920, 78 in Übereinstimmung mit einem großen Teil des Schrifttums diese Auffassung vertreten. Ihr hat sich auch der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) in dem zu § 139 Abs 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ergangenen Beschluß vom 30. November 1970 (BVerwGE 36, 340) voll angeschlossen. Aber auch das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Auffassung im wesentlichen übernommen. In der Entscheidung vom 29. Oktober 1958 (BSGE 8, 207, 208) zu § 164 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung hat das BSG - im wesentlichen übereinstimmend mit RG und BVerwG - ausgeführt, im Falle der Wiedereinsetzung bezüglich der versäumten Revisionsfrist müsse der Kläger verfahrensrechtlich so behandelt werden, als ob er die Revision noch am letzten Tage der normalen Revisionsfrist eingelegt hätte mit der Folge, daß ihm "für die Revisionsbegründung noch ein Monat zur Verfügung stehen muß", zumal die Revision aus zwei Teilen, der Revisionseinlegung und der Revisionsbegründung bestehe, für welche gesonderte Fristen liefen. Die Frage, wie das BSG berechtigt sein konnte, hieran anschließend gleichwohl von der "Versäumung der Frist für die Begründung der Revision" zu sprechen - und in Bezug hierauf die Wiedereinsetzung für zulässig zu erachten -, bedarf an dieser Stelle keiner Erörterung. Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß RG, BVerwG und BSG in Fällen der vorliegenden Art übereinstimmend dem Rechtsmittelführer nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der versäumten Einlegungsfrist einen weiteren Monat für die Begründung des Rechtsmittels zur Verfügung stellen. Der Senat hat keine durchgreifenden Bedenken, dieser Rechtssprechung beizutreten.

Hieran sieht sich der Senat insbesondere nicht dadurch gehindert, daß nach den vom BVerwG und vom BSG aaO angewendeten Vorschriften die Revisionsbegründungsfrist eine Einmonatsfrist ist, die sich an die einmonatige Revisionseinlegungsfrist anschließt (vgl hierzu auch die weitere Entscheidung des BSG in BSGE 34, 111). Insoweit hat sich die Rechtslage seither geändert: Nach § 164 Abs 2 Satz 1 SGG in der ab 1. Januar 1975 geltenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) - gleichlautend mit dem für die Nichtzulassungsbeschwerde neu eingefügten, vorliegend anzuwendenden § 160 a Abs 2 Satz 1 SGG - ist das Rechtsmittel nunmehr "innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des (angefochtenen) Urteils" zu begründen; dagegen war die Revision nach § 164 Abs 1 Satz 1 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden alten Fassung binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen "und binnen eines weiteren Monats zu begründen" - ein Wortlaut, der mit § 139 Abs 1 Satz 1 VwGO, den der Große Senat des BVerwG aaO anzuwenden hatte, im wesentlichen übereinstimmt. Indessen läßt sich nicht verkennen, daß sich die mit §§ 160 a Abs 2 Satz 1, 164 Abs 2 Satz 1 SGG nF getroffene Regelung - vom Revisionsantrag einmal abgesehen - vom alten Recht inhaltlich zum einen nur in der Klarstellung unterscheiden, daß die Begründungsfrist nicht - wie im Zivilprozeß (§ 554 Abs 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) - mit der Einlegung des Rechtsmittels, sondern unabhängig davon mit der Zustellung der angefochtenen Entscheidung beginnt (vgl Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, Bd III/80 - 109, § 164 SGG Anm 2); zum anderen dient die neue Regelung, indem sie an die Stelle von zwei aneinandergereihten Einmonatsfristen eine Zweimonatsfrist setzt, der Klarheit und Vereinfachung der Fristberechnung (Meyer-Ladewig, SGG, 164 Anm 7). Im übrigen aber unterscheiden sich die genannten Vorschriften inhaltlich nicht von § 164 Abs 1 Satz 1 SGG aF. Unverändert bleiben mithin auch Funktion und Wirkungsweise der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels einerseits und zu seiner Begründung andererseits. Insbesondere gilt nach wie vor, daß eine besondere Begründungsfrist, die sich nicht mit der Einlegungsfrist deckt, sondern bei gleichem Beginn doppelt so lang ist, auch in den neu gefaßten Vorschriften nur den Sinn haben kann, dem Rechtsmittelführer nach Einlegung des Rechtsmittels eine weitere Frist von einem Monat ausschließlich zum Zwecke der Begründung zuzugestehen. Der Umstand, daß nach §§ 160 a Abs 2 Satz 1, 164 Abs 2 Satz 1 SGG nF Einlegungs- und Begründungsfrist - aus den dargelegten, rein rechtstechnischen Gründen - gemeinsam zu laufen beginnen, kann also nicht den Blick dafür verstellen, daß der Rechtsmittelführer nach den Vorstellungen des Gesetzes wie bisher eine Frist von einem Monat zunächst nur für die Einlegung der Beschwerde ausnützen darf und sich hieran eine weitere Frist von einem Monat anschließt, die ausschließlich zur Begründung des Rechtsmittels dient. Bei diesem sachlich unveränderten Gehalt auch des neuen Rechtsmittelrechts bleibt daher auch die Argumentation gültig, aus der der Große Senat des BVerwG es abgelehnt hat, die nach dem Plan des Gesetzgebers allein der Begründung dienende Frist bei schuldlos versäumter Einlegung des Rechtsmittels vor der in Bezug hierauf erteilten Wiedereinsetzung beginnen zu lassen: Anderenfalls wäre der Rechtsmittelführer genötigt, das Rechtsmittel zu begründen, bevor er weiß, ob ihm wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird; es wäre wenig sinnvoll und wohl auch kaum zumutbar, von dem Rechtsmittelführer eine unter Umständen schwierige und umfangreiche Prozeßhandlung zu verlangen, die sich möglicherweise später - bei Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einlegungsfrist - als überflüssig erweisen würde. Geltung beanspruchen darf nach allem auch die Überlegung des BSG, daß der Rechtsmittelführer bei schuldlos versäumter Rechtsmittelfrist nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand billigerweise "nicht schlechter gestellt sein (darf), als der ..., der nicht verhindert gewesen ist".

Mithin ist trotz von § 139 Abs 1 Satz 1 VwGO und von § 164 Abs 1 Satz 1 SGG aF abweichender Fassung der §§ 160 a Abs 2 Satz 1, 164 Abs 2 Satz 1 SGG nF in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung von BVerwG und BSG dem Rechtsmittelführer nach Wiedereinsetzung in bezug auf das versäumte Rechtsmittel eine weitere Frist von einem Monat zum Zwecke der Begründung des Rechtsmittels zur Verfügung zu stellen. Nicht statthaft ist es, diese Frist etwa deswegen auf zwei Monate auszudehnen, weil - wie dargestellt - die Begründungsfrist nach neuem Recht eine Zweimonatsfrist ist. Aus den bereits oben gemachten Ausführungen folgt, daß nach Wiedereinsetzung nur eine Frist zur Verfügung gestellt werden kann, die allein dem Zweck der Begründung des Rechtsmittels dient. Den ersten Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils darf der Rechtsmittelführer nach neuem Recht allein zur Einlegung des Rechtsmittels ausnützen; da mit der Rechtsmittelfrist auch die zweimonatige Begründungsfrist begonnen hat, steht dem Rechtsmittelführer auch nach neuem Recht nur ein Monat allein zum Zwecke der Begründung zur Verfügung. Es ist daher weder berechtigt noch erforderlich, in einem Fall der vorliegenden Art nach Wiedereinsetzung bezüglich des versäumten Rechtsmittels zum Zwecke der Begründung mehr als einen Monat zur Verfügung zu stellen.

Aus alledem folgt, daß der Senat trotz des Umstandes, daß der Beschwerdeführer seine Beschwerde bislang nicht begründet hat, keine Unzulässigkeit des Rechtsmittels schlechthin anzunehmen braucht und daher über den Antrag auf Wiedereinsetzung bezüglich der versäumten Einlegung sachlich entscheiden kann.

In der Sache aber war dem Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben, weil der Kläger binnen eines Monats nach Wegfall des behaupteten Hinderungsgrundes ausreichend glaubhaft gemacht hat, daß er ohne sein Verschulden an der Einhaltung der Beschwerdefrist gehindert war; er hat auch die Beschwerdeeinlegung fristgerecht nachgeholt (§ 67 Abs 1 und 2 SGG).

Der Kläger wird nach Zustellung dieses die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses die Beschwerde nunmehr fristgerecht zu begründen haben. Es können aber Zweifel daran bestehen, wann die zum Zwecke der Begründung zur Verfügung gestellte weitere Monatsfrist beginnt. Bei der Beantwortung dieser Frage geht der erkennende Senat mit dem BSG (aaO) davon aus, daß der Rechtsmittelführer nach bewilligter Wiedereinsetzung so zu behandeln ist, als hätte er das - nachgeholte (vgl § 67 Abs 2 Satz 2 SGG) - Rechtsmittel am letzten Tage der Einmonatsfrist eingelegt. Von daher erscheint es folgerichtig, die weitere Monatsfrist zum Zwecke der Begründung mit der Zustellung des die Wiedereinsetzung bewilligenden Beschlusses beginnen zu lassen (so auch RG und BVerwG aaO). Soweit hierin eine Abweichung von der genannten Entscheidung des BSG liegt - der entnommen werden könnte, daß die Monatsfrist von der Einlegung des nachgeholten Rechtsmittels an zu laufen beginnt - braucht der Senat den Großen Senat des BSG nicht nach § 42 SGG anzurufen. Gerade bezüglich des Beginns und der Berechnung der Rechtsmittelbegründungsfristen bringen die §§ 160 a Abs 2 Satz 1, 164 Abs 2 Satz 1 SGG nF - wie dargelegt - eine Neuregelung, die von § 164 Abs 1 Satz 1 SGG aF deutlich abweicht.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652660

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