Leitsatz (amtlich)

1. Der Versicherte hat die Beweisführungslast für die in ARVNG Art 2 § 55 angeführten besonderen Voraussetzungen. Tritt er für die einzelnen Voraussetzungen keine Beweise an, so ist seine Klage abzuweisen.

Hat der Versicherte für die einzelnen Voraussetzungen Beweise angetreten, so hat das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung auch die etwa von Amts wegen erhobenen Beweise, zu deren Erhebung es zwar nicht verpflichtet aber doch berechtigt ist, zu verwenden.

Kann das Gericht sich unter Verwendung der auf Antrag und von Amts wegen erhobenen Beweise weder davon überzeugen, daß die besonderen Voraussetzungen des ArVNG Art 2 § 55 vorliegen, noch daß sie nicht vorliegen, so hat es seine Entscheidung unter Anwendung des auch im sozialgerichtlichen Verfahren allgemein geltenden Grundsatzes von der Verteilung der Beweislast zu treffen.

2. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in geeigneten Fällen den Sachvortrag der Beteiligten bei ihrer Überzeugungsbildung zu verwenden, wenn ihnen dieser glaubhaft erscheint.

 

Normenkette

SGG § 128 Fassung: 1953-09-03; ArVNG Art. 2 § 55 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. September 1959 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt die Erhöhung der ihr seit dem 1. Januar 1943 gewährten und mit Wirkung vom 1. Januar 1957 nach Art. 2 § 32 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) umgestellten Invalidenrente nach Art. 2 § 55 ArVNG vom 1. Januar 1957 an, weil sie während mindestens zehn Jahren in der Hauswirtschaft pflichtversichert beschäftigt gewesen sei und während dieser Zeit neben Barbezügen Kost und Wohnung als Entgelt erhalten habe. Die Beklagte hat den Antrag abgelehnt, weil die Klägerin nicht den Nachweis erbracht habe, daß sie neben Barbezügen auch Kost und Wohnung als Entgelt erhalten habe. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht zurückgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und der Klage stattgegeben. Es hat die Revision nicht zugelassen.

Die sich gegen dieses Urteil richtende Revision der Beklagten ist zwar form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist jedoch nach § 160 in Verbindung mit § 162 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft. Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG schon der Sache nach nicht in Betracht kommen kann, könnte sie nur statthaft sein, wenn ein als wesentlich anzusehender Verfahrensmangel schlüssig gerügt worden wäre (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Dies ist jedoch schon deshalb nicht der Fall, weil das Berufungsgericht, den von der Beklagten geschilderten Prozeßverlauf zugrunde gelegt, keine Verfahrensvorschrift verletzt hat.

Der Beklagten ist zwar darin zuzustimmen, daß das sozialgerichtliche Verfahren nicht das Rechtsinstitut der Parteivernehmung kennt, wie der Senat bereits entschieden hat (SozR. § 445 der Zivilprozeßordnung - ZPO - Da 1 Nr. 1). Entgegen der Annahme der Beklagten hat, das Berufungsgericht aber die Klägerin nicht vernommen, sondern hat lediglich die mündliche Ergänzung ihres Sachvortrags veranlaßt. Wenn auch die Verhandlungsniederschrift vom 3. September 1959 insoweit gewisse Zweifel aufkommen lassen könnte, so ist doch aus dem Umstand, daß die Klägerin nicht zur Person vernommen worden ist, zu schließen, daß das Berufungsgericht keine Parteivernehmung durchgeführt hat.

Auch die Rüge der Verletzung des Art. 2 § 55 ArVNG ist nicht schlüssig. Nach Art. 2 § 55 ArVNG muß die Klägerin nachweisen, daß sie während mindestens zehn Jahren in der Hauswirtschaft versicherungspflichtig beschäftigt war und während dieser Zeit neben Barbezügen Kost und Wohnung als Entgelt erhalten hat. Entgegen dem sonst im Sozialversicherungsrecht und im Verfahrensrecht der Sozialgerichtsbarkeit herrschenden Amtsermittlungsgrundsatz hat hier der Versicherte diesen Nachweis zu erbringen. Dies bedeutet, daß er insoweit die Beweisführungslast trägt. Er hat also die Last, zur Vermeidung der Abweisung seiner Klage durch eigene Tätigkeit den Beweis zu führen, daß insoweit die Voraussetzungen seines Anspruchs vorliegen. Das Gericht hatte hier also ausnahmsweise nicht die Verpflichtung, von Amts wegen den Sachverhalt aufzuklären. Sind aber dennoch Beweise von Amts wegen erhoben worden, so müssen diese bei der Beweiswürdigung auch berücksichtigt werden. Nur wenn der Versicherte - gegebenenfalls trotz Anregung des Versicherungsträgers oder des Gerichts - überhaupt keinen Beweis für das Vorliegen der einzelnen Voraussetzungen antritt, ist die Klage abzuweisen, ohne daß die von Amts wegen erhobenen Beweise Berücksichtigung finden könnten. Da in dem vorliegenden Fall die Klägerin aber entsprechende Beweise angetreten hat, durfte und mußte das Berufungsgericht die von Amts wegen angestellten Ermittlungen bei der Beweiswürdigung verwenden.

Der Grundsatz der Beweislast gilt, anders als der der Beweisführungslast, im Sozialversicherungsrecht und im Verfahrensrecht der Sozialgerichtsbarkeit ohnehin ganz allgemein, also nicht nur dann, wenn der Antragsteller die Beweisführungslast trägt. Wenn das Gericht sich weder davon überzeugen kann, daß Tatsachen, auf welche sich ein geltend gemachtes Recht gründet, vorliegen, noch daß sie nicht vorliegen, so muß es zu Ungunsten derjenigen Partei entscheiden, deren geltend gemachtes Recht sich auf diese Tatsachen gründet. Die Klage hätte nach den Grundsätzen der Beweislast im vorliegenden Fall daher abgewiesen werden müssen, wenn das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der von der Klägerin angetretenen und der von Amts wegen erhobenen Beweise nicht die volle Überzeugung erlangt hätte, daß sie während mindestens zehn Jahren in der Hauswirtschaft pflichtversichert tätig gewesen ist und für diese Tätigkeit neben Barbezügen auch Kost und Wohnung als Entgelt erhalten hat, selbst wenn es auch von dem Gegenteil nicht überzeugt gewesen wäre. Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht entgegen der Annahme der Beklagten jedoch nicht verkannt; denn es hat, wie sich aus den Urteilsgründen klar ergibt, die volle Überzeugung erlangt - und hat dies nicht etwa nur als glaubhaft angesehen -, daß die Klägerin während zehn Jahren in der Hauswirtschaft pflichtversichert tätig gewesen ist und bei ihren einzelnen Arbeitgebern neben Barbezügen auch Kost und Wohnung als Entgelt erhalten hat. Zwar ist die in den Entscheidungsgründen vertretene Ansicht, das Fehlen von Zeugen könne nicht zu Lasten der Klägerin gehen, rechtsirrig. Da das Berufungsgericht jedoch schon auf Grund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu der vollen Überzeugung von dem Vorliegen dieser Tatsachen gekommen ist und kommen durfte, ist dieser Rechtsirrtum nicht als wesentlich anzusehen.

Die Beklagte irrt im übrigen, wenn sie meint, der nach Art. 2 § 55 ArVNG zu führende Nachweis könne nur durch Urkunden erbracht werden. Da Art. 2 § 55 a.a.O. hinsichtlich der verwendbaren Beweismittel keine Einschränkung enthält, können alle im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbaren Beweismittel auch hier verwendet werden.

Auch die gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts erhobene Rüge der Beklagten ist nicht schlüssig. Die Beweiswürdigung steht grundsätzlich im freien Ermessen des Tatsachengerichts (§ 128 SGG). Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat. Es ergibt sich jedoch kein Anhalt, daß das Berufungsgericht gegen diese Grundsätze verstoßen hat. Es durfte auf Grund der Vermerke auf den Aufrechnungsbescheinigungen, der vorgelegten Zeugnisse und des Sachvortrags der Klägerin nicht nur zu dem Ergebnis kommen, daß sie während mindestens zehn Jahren in der Hauswirtschaft beschäftigt war, sondern auch, daß ihr während dieser Zeit von ihren verschiedenen Arbeitgebern neben Barbezügen auch Kost und Wohnung als Entgelt gewährt worden sind. Insbesondere verstößt es weder gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze, wenn das Berufungsgericht aus dem Sachvortrag der Klägerin, nach welchem sich ihre Arbeitsstätten stets außerhalb ihrer Heimat und des Wohnorts ihrer Eltern befunden haben, zu der Überzeugung gelangt ist, daß ihr von diesen Arbeitgebern neben Barbezügen auch Kost und Wohnung als Entgelt gewährt worden ist, da in derart gelagerten Fällen zumindest nicht ein allgemeiner Erfahrungssatz besteht, daß eine Hausangestellte nicht bei ihrem Arbeitgeber wohnt. Auch das Gesamtergebnis des Verfahrens ist nicht unberücksichtigt geblieben. Richtig ist, daß die Klägerin zeitweise einen für Hausangestellte verhältnismäßig hohen Lohn erhalten hat, wie sich aus der Höhe der Beiträge ergibt. Daraus aber kann nicht zwingend geschlossen werden, wie die Beklagte meint, daß die Klägerin während dieser Zeit keine Kost und Wohnung als Entgelt erhalten habe. Die Höhe des Lohns kann auch auf anderen Gründen beruhen. Ob eine andere Schlußfolgerung nähergelegen hätte, ist ohne Bedeutung; denn das Revisionsgericht hat nicht selbst die Beweiswürdigung vorzunehmen, sondern hat lediglich die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts auf Ermessensfehler zu überprüfen.

Wenn das Berufungsgericht einerseits den zeitweise hohen Lohn der Klägerin hervorhebt, andererseits aber von dem niedrigen Lohn von Hausangestellten spricht, so liegt darin entgegen der Annahme der Beklagten kein Widerspruch; denn das Berufungsgericht meint bei der ersteren Bemerkung offensichtlich nur, daß der Lohn der Klägerin relativ zu den sonst üblichen Löhnen für Hausangestellte hoch gewesen sei.

Es bestehen auch keine Bedenken dagegen, daß das Berufungsgericht den Sachvortrag der Klägerin bei seiner Überzeugungsbildung verwendet hat. Wenn auch das sozialgerichtliche Verfahren keine Parteivernehmung kennt, so ist doch nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, daß das Gericht den Sachvortrag der Beteiligten - gegebenenfalls auf Befragen des Vorsitzenden ergänzt - bei seiner Überzeugungsbildung verwendet. Nach § 128 SGG haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei ihrer Entscheidung das Gesamtergebnis des Verfahrens zu berücksichtigen. Sie sind also nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, in geeigneten Fällen auch den Sachvortrag der Beteiligten, wenn er nach Auffassung des Tatsachengerichts glaubhaft erscheint, mit der nach Lage der Sache erforderlichen Vorsicht bei ihrer Überzeugungsbildung mitzuverwenden. Der im sozialgerichtlichen Verfahren herrschende Amtsermittlungsgrundsatz, nach welchem die Gerichte verpflichtet sind, die absolute Wahrheit soweit wie möglich zu erforschen, verlangt, daß die Gerichte in geeigneten Fällen auch den Sachvortrag der Beteiligten bei ihrer Überzeugungsbildung verwenden, wenn sie ihn als glaubhaft ansehen.

Die Beklagte meint weiter, das Berufungsgericht habe seine Amtsermittlungspflicht verletzt, weil es unterlassen habe, noch Auskünfte bei den zuständigen Meldebehörden darüber einzuholen, ob die Klägerin bei den einzelnen Arbeitgebern polizeilich gemeldet gewesen sei. Das Berufungsgericht hatte die Einholung dieser Auskünfte unterlassen, weil wegen der inzwischen verstrichenen langen Zeit nicht mehr mit einem Erfolg dieser Ermittlungen gerechnet werden könne. Diese Rüge der Beklagten entspricht nicht der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG, weil sie nicht behauptet, daß diese Ermittlungen zu einer Auskunftserteilung durch die Meldebehörden geführt hätten, sondern selbst den Erfolg dieser Ermittlungen als zweifelhaft ansieht. Damit fehlt es an der bestimmten Angabe, zu welchem Ergebnis die Ermittlungen nach ihrer Ansicht geführt haben würden. Wie der Senat bereits anderweitig entschieden hat, kann eine Verfahrensrüge aber nur dann als formgerecht im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG angesehen werden, wenn diese Angabe erfolgt ist (vgl. dazu SozR. § 164 SGG Da 10 Nr. 28). Entspricht aber eine Verfahrensrüge nicht der Formvorschrift des § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG, so kann sie auch nicht zur Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG führen, wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. dazu SozR. § 162 SGG Da 21 Nr. 84).

Da die Revision somit unstatthaft ist, mußte sie nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 926549

NJW 1960, 2071

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