Leitsatz (amtlich)

Die Feststellung des Todeszeitpunkts nach RVO § 1260 S 1 aF ist nicht dafür maßgebend, ob die den Anspruch erhebende Waise ein "eheliches Kind" des verschollenen Versicherten im Sinne des RVO § 1258 Abs 2 Nr 1 aF ist.

 

Normenkette

RVO § 1258 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1955-12-23, § 1260 S. 1 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Die Feststellung des Todeszeitpunkts nach § 1260 Satz 1 RVO a. F. ist nicht dafür maßgebend, ob die den Anspruch erhebende Waise ein "eheliches Kind" des verschollenen Versicherten im Sinne des § 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO a. F. ist.

 

Gründe

Der 3. Senat hat dem Großen Senat folgende Frage zur Entscheidung nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgelegt: "Ist die Feststellung des Todeszeitpunkts nach § 1260 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. auch dafür maßgebend, ob die den Anspruch erhebende Waise ein "eheliches Kind" des verschollenen Versicherten im Sinne des § 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO a. F. ist?"

Der 4. Senat hat diese Frage bejaht (vgl. BSG. 5 S. 249, Leitsätze 3 und 4).

Der Große Senat ist zur Verneinung der Frage aus folgenden Gründen gekommen:

1. Der Versicherungsträger kann seiner Verpflichtung, die Hinterbliebenenrenten auch dann zu gewähren, wenn der Versicherte verschollen ist (§ 1259 Abs. 1 RVO a. F.), nur dann nachkommen, wenn er von einem bestimmten Tag als dem Todestag ausgehen kann. Soweit dieser Tag nicht schon im Gesetz festgelegt ist (§ 1260 Sätze 2 und 3 RVO a. F.), ist dem Versicherungsträger darum die Ermächtigung erteilt worden, diesen Tag nach billigem Ermessen festzustellen (§ 1260 Satz 1 RVO a. F.). Diese Voraussetzungen für den Leistungsanspruch - Verschollenheit und fingierter oder "festgestellter" Todestag - sind die einzigen, in denen sich die Renten nach §§ 1259, 1260 RVO a. F. von den allgemein für Hinterbliebenenrenten geltenden Vorschriften unterscheiden. Im übrigen gelten alle die Voraussetzungen für Hinterbliebenenrenten regelnden Vorschriften auch für sie, darunter auch die Vorschriften über den berechtigten Personenkreis.

Waisenrente um die es sich bei der dem Großen Senat vorgelegten Frage handelt, erhalten daher bei Verschollenheit des Versicherten seine Kinder" (§ 1258 Abs. 1 RVO a. F.). Wer zu diesen Kindern gehört, bestimmt § 1258 Abs. 2 RVO a. F. Diese Vorschrift enthält keine eigene Begriffsbestimmung, sondern verwendet Rechtsbegriffe, die aus anderen Bereichen stammen. Wahrend § 1258 Abs. 2 Nr. 7 RVO a. F. ausdrücklich den Rechtsbereich angibt, dem der Rechtsbegriff "Pflegekind" entlehnt ist, fehlt eine solche Verweisung bei der im § 1258 Abs. 2 unter Nr. 1 aufgeführten Fallgruppe: "die ehelichen Kinder", auf die sich die vorgelegte Frage bezieht.

Dieser Rechtsbereich kann nach dem Sachzusammenhang nur das bürgerliche Familienrecht sein. Hier ist dieser Rechtsbegriff durch ein ausgewogenes System materieller Rechtssätze geprägt, während das Sozialversicherungsrecht kaum Ansatzpunkte für eine eigenständige Ausgestaltung der auf die Familie bezogenen rechtlichen Grundbegriffe bietet. So ist denn auch die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts - RVA. - (EuM. Bd. 7 S. 187 (188), Bd. 8 S. 260 (261), Bd. 22 S. 423 (424), AN. 1936 S. 36 und 1944 S. 270) und des Reichsversorgungsgerichts (RVG. Bd. 13 S. 234 (235 ff.)) immer davon ausgegangen, daß die auf familienhafte Beziehungen verweisenden Begriffe des Sozialversicherungsrechts inhaltlich durch das bürgerliche Familienrecht bestimmt werden. Mit Recht hat dabei das RVA. zur Auslegung der Anspruchsvoraussetzung "eheliches Kind" (§ 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO a. F.) darauf hingewiesen, daß sich die Unterscheidung zwischen ehelichen und unehelichen Kindern im Sinne dieser Vorschrift nur dann durchführen läßt, "wenn man die im öffentlichen wie bürgerlichen Recht allein maßgebenden Begriffe des Bürgerlichen Gesetzbuches zugrunde legt" (EuM. Bd. 8 S. 261, Bd. 22 S. 424).

Daß aber das Sozialversicherungsrecht nicht nur aus rechtstechnischen Erwägungen - etwa zur Vereinfachung der Gesetzessprache -, sondern aus zwingenden inneren Gründen zur Inhaltsbestimmung des Begriffs des ehelichen Kindes auf das bürgerliche Familienrecht verweist, ergibt sich aus der institutionellen Zweckbestimmung der Waisenrente. Ihre Unterhaltsersatzfunktion erfordert, daß die Gewährung der Waisenrente grundsätzlich von der Frage der Unterhaltsberechtigung des Kindes gegenüber dem Versicherten abhängig gemacht wird. Im Prinzip tritt die Waisenrente nach dem Tode des Versicherten an die Stelle des Unterhalts, den der lebende Versicherte gewährt hatte oder zu gewähren verpflichtet war. Deshalb hat das Sozialversicherungsrecht an die Kriterien angeknüpft, die den Unterhaltsanspruch von Familienangehörigen gegenüber dem Versicherten bestimmen. Nach dem hierfür maßgeblichen Familienrecht ist es das Band der bürgerlich-rechtlichen, auf Ehelichkeit gegründeten Verwandtschaft, das den Unterhaltsanspruch des ehelichen Kindes gegenüber seinem Vater (§§ 1601 ff. BGB) auslöst. Zwar wird diesem Rechtsverhältnis regelmäßig "natürliche Verwandtschaft" (BGHZ. 5 S. 389) zugrunde liegen. Entscheidend ist aber für den Unterhaltsanspruch das bürgerlich-rechtliche Verwandtschaftsverhältnis, das innerhalb bestimmter, insbesondere durch § 1593 BGB gezogener Grenzen dem Rechtsschein gegenüber der auf dem Blutsband beruhenden "natürlichen Verwandtschaft" den Vorrang einräumt. Soll die Waisenrente den durch den Tod des Versicherten untergegangenen Unterhaltsanspruch ersetzen, so kann als Tatbestandsmerkmal des Waisenrentenanspruchs nur das gleiche bürgerlich-rechtliche Verwandtschaftsverhältnis benutzt werden, das zu Lebzeiten des Versicherten den Unterhaltsanspruch seines ehelichen Kindes begründet.

Gilt somit ein Kind nach den jeweiligen Vorschriften des Familienrechts als ehelich, so ist es auch ein "eheliches Kind" im Sinne des § 1258 Abs. 2 Satz 1 RVO a. F.

2. Nach bürgerlichem Recht gilt das Kind einer Frau, die mit einem nicht für tot erklärten Verschollenen verheiratet ist, als eheliches Kind dieses Verschollenen. Zwar kann ein Kind, das später als 302 Tage nach dem Beginn der Verschollenheit geboren ist, nicht von dem Verschollenen abstammen, weil er seiner Ehefrau innerhalb der Empfängniszeit nicht beigewohnt hat (§ 1591 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 1592 Abs. 1 BGB); die gegenteilige Vermutung des § 1591 Abs. 2 Satz 1 BGB ist durch die Verschollenheit widerlegt. Das Kind ist "an sich" unehelich (vgl. § 1591 BGB). Jedoch kann die Unehelichkeit eines Kindes, das während der Ehe oder innerhalb von 302 Tagen nach Auflösung der Ehe geboren ist, nur geltend gemacht werden, wenn die Unehelichkeit auf die Anfechtungsklage des Schein-Vaters (§ 1594 BGB) oder des Staatsanwalts (§ 1595 a BGB) hin rechtskräftig festgestellt ist (§ 1593 BGB). Nun ist zwar möglich, daß der Verschollene in Wahrheit verstorben und die Ehe demgemäß aufgelöst ist. Die Ungewißheit hierüber kann aber nicht dazu führen, daß der Rechtsstand des Kindes - ob ehelich oder nicht - offen bleibt. Deshalb ist nach § 1593 BGB für die Frage, ob die Unehelichkeit eines Kindes, dessen Ehelichkeit nicht angefochten ist, geltend gemacht werden kann, die Auflösung der Ehe entscheidend. Wie die Ehefrau eines Verschollenen von dem ihrer Wiederverheiratung entgegenstehenden Ehehindernis der bereits bestehenden Ehe (§ 20 Ehegesetz - EheG -) nur befreit ist, wenn sie - abgesehen von der hier nicht in Betracht kommenden Nichtigerklärung - die Auflösung der Ehe, d. h. in diesem Falle den Tod ihres Ehemannes, nachweist (§ 5 EheG), so können Dritte die Unehelichkeit des Kindes des Verschollenen nur geltend machen, wenn die Auflösung der Ehe durch Tod des Ehemannes feststeht oder doch vermutet wird; nur wenn die Geburt des Kindes mehr als 302 Tage nach diesem Zeitpunkt liegt, kann seine Unehelichkeit geltend gemacht werden.

Eine solche - sich auch auf den Rechtsstand von Kindern dieser Ehe auswirkende - Wirkung hat nur die gerichtliche Todeserklärung; denn sie begründet nach § 9 Abs. 1 Satz 1 des Verschollenheitsgesetzes (VerschG) die Vermutung, daß der Verschollene in dem in der gerichtlichen Todeserklärung festgestellten Zeitpunkt gestorben ist (vgl. den Beschluß des Großen Senats vom gleichen Tage - GS 3/59 -). Kraft der Rechtswirkung, die diese Vorschrift der gerichtlichen Entscheidung beilegt, durch die der Verschollene "für tot erklärt wird" (§ 23 VerschG), ist in allen Rechtsverhältnissen, bei denen es auf den Tod des Verschollenen ankommt, bis zum Beweise des Gegenteils davon auszugehen, daß der Verschollene zu dem in der gerichtlichen Todeserklärung festgestellten Zeitpunkt gestorben ist. Diese Bedeutung kommt aber der Feststellung des Versicherungsträgers nach § 1260 Satz 1 RVO a. F. ebensowenig zu wie den Vorschriften des § 1260 Sätze 2 und 3 RVO a. F., daß bestimmte Tage als Todestag gelten. Die Vorschriften des § 1260 RVO a. F. waren notwendig, weil die Renten, die bei Verschollenheit eines Versicherten gewährt werden, Hinterbliebenenrenten sind; diese setzen aber ein zeitlich genau bestimmbares Ereignis, den Tod, voraus. Dieser Zeitpunkt wird für die bei Verschollenheit zu gewährenden Hinterbliebenenrenten durch die nach § 1260 RVO a. F. zu bestimmenden Tage ersetzt.

Der Große Senat ist der Auffassung, daß sich die Bedeutung dieser Vorschrift darin auch erschöpft. Daß die nach § 1260 RVO a. F. bestimmten Todestage über die Rentenversicherung hinaus keine Bedeutung haben, ist unbestritten (s. a. 4. Senat in BSG. Bd. 5 S. 255, Abs. 2). Die Ermächtigung des § 1260 Satz 1 RVO a. F. stellt in der Sache nichts anderes dar als entsprechende Ermächtigungen, die aus den gleichen Gründen und mit der gleichen Zielsetzung anderen Leistungsverwaltungen erteilt sind. So kann die oberste Dienstbehörde zur Regelung der Hinterbliebenenbezüge eines verschollenen Beamten nach § 133 Abs. 1 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) "feststellen, daß sein Ableben mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist". So sind ferner nach § 52 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) Renten "schon vor der Todeserklärung" zu gewähren, "wenn das Ableben des Verschollenen" - zu dem von der Verwaltungsbehörde zu bestimmenden mutmaßlichen Todestag (Verwaltungsvorschriften Nr. 1) - "mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist".

Es fragt sich aber, ob die Feststellung des Versicherungsträgers nach § 1260 RVO a. F. auch maßgebend für die familienrechtlichen Vorfragen ist, sofern sich nach ihnen der Kreis der Berechtigten richtet (so 4. Senat a. a. O.). Der Große Senat verkennt nicht, daß es mißlich ist, wenn für die Festsetzung der Rente nach einem verschollenen Versicherten von dem nach § 1260 RVO a. F. bestimmten Todestag zwar für alle anderen Leistungsvoraussetzungen ausgegangen wird, nicht aber für die Abgrenzung des Kreises der Berechtigten, nämlich für die Frage, von wann an für den konkreten Rentenanspruch die Ehe des Verschollenen als aufgelöst anzusehen ist, so daß die Unehelichkeit der mehr als 302 Tage danach geborenen Kinder vom Versicherungsträger geltend gemacht werden kann. Es muß aber vor allem sichergestellt werden, daß das für die Anspruchsvoraussetzung "eheliches Kind" maßgebende Familienrecht gewahrt wird und ein Kind, das in allen anderen Rechtsbereichen als ehelich zu behandeln ist, auch für die Rentenversicherung als ehelich behandelt wird. Nur wenn das Kind, das nach bürgerlichem Recht als ehelich anzusehen und deshalb gegen seinen versicherten Vater unterhaltsberechtigt ist, auch im Sozialversicherungsrecht als "eheliches Kind" dieses Versicherten anspruchsberechtigt ist, wird die Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente gewahrt. Die Durchbrechung des Familienrechts wäre deshalb eine größere Störung der Rechtsordnung als die Beschränkung der Wirkung der Todeszeitpunktfeststellung auf die versicherungsrechtlichen Fragen, die zur Folge hat, daß Waisenrente unter Umständen gezahlt wird, obwohl der nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften als Vater anzusehende Versicherte bei Zugrundelegung des nach § 1260 Satz 1 RVO a. F. festgestellten Todeszeitpunkts als bereits vor Beginn der Empfängniszeit gestorben anzusehen wäre. Die Vorschriften des § 1260 RVO a. F. geben dem Versicherungsträger keine Möglichkeit, die Vorschriften des § 1593 BGB ff. für seinen Bereich außer Betracht zu lassen und so die Rechte wieder für sich in Anspruch zu nehmen, die ihm das Familienrechtsänderungsgesetz - FamRÄndG - vom 12. April 1938 (RGBl. I S. 380) durch die Neufassung der §§ 1593, 1594 und die Einfügung des § 1595 a BGB genommen hat.

Demnach ist die Feststellung des Versicherungsträgers nach § 1260 Satz 1 RVO a. F. ohne Auswirkung für den Bestand der Ehe des verschollenen Versicherten. Somit wird auch der Familienrechtsstand eines dieser Ehe entsprungenen Kindes von der Feststellung des Versicherungsträgers nicht berührt. Gilt dieses Kind nach bürgerlichem Recht als ehelich, so bleibt es das auch für das Sozialversicherungsrecht, wie immer die Feststellung des Versicherungsträgers über den mutmaßlichen Todeszeitpunkt des Versicherten auch lauten mag.

3. Der Große Senat hat noch erwogen, ob der Grundsatz, daß der in § 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO a. F. verwendete Begriff des "ehelichen Kindes" inhaltlich vom bürgerlichen Recht bestimmt ist, infolge der Entwicklung der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse nicht zu unbilligen oder gar untragbaren Belastungen der Versichertengemeinschaft führt und deshalb einer Einschränkung bedarf. So ist einerseits festzustellen, daß sich die Rechtsstellung des Versicherungsträgers gegenüber dem scheinehelichen Kind seit der Neufassung des § 1593 BGB durch das FamRÄndG vom 12. April 1938 (RGBl. I S. 380) entscheidend verändert hat. Konnte der Versicherungsträger wie jeder Dritte bis dahin die Unehelichkeit eines Kindes - auch einredeweise - geltend machen, wenn der Ehemann der Mutter das Anfechtungsrecht noch nicht verloren hatte (vgl. RVA. in Deutsche Invalidenversicherung 1937 S. 185), so steht ihm dieses Recht nach der Neufassung des § 1593 BGB und der Einführung des § 1595 a BGB nicht mehr zu, wenn nicht die Anfechtungsberechtigten die Ehelichkeit des Kindes angefochten haben. Zum anderen ist nicht zu verkennen, daß die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse zu einer Häufung von Rentenansprüchen scheinehelicher Kinder in einem bisher nicht gekannten Ausmaß geführt haben. Hinzu kommt, daß die Staatsanwälte von der ihnen erteilten Befugnis, die Ehelichkeit eines Kindes anzufechten, erfahrungsgemäß nur selten Gebrauch machen. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß das Sozialversicherungsrecht eine dem § 52 Abs. 2 BVG vergleichbare Regelung - wonach ein Kind keinen Anspruch auf Rente hat, wenn der Ehemann der Mutter während der Dauer der Empfängniszeit verschollen war - nicht kennt. Aus allen diesen Gründen steht der Versicherungsträger nicht selten vor der Situation, daß er von Waisen in Anspruch genommen wird, die bei verständiger Würdigung der Umstände des Falles nicht als eheliche Kinder des verschollenen Versicherten gelten sollten und denen daher Hinterbliebenenansprüche aus der Versicherung ihres Schein-Vaters versagt werden sollten.

Unter diesem Gesichtspunkt darf aber nicht nur darauf abgestellt werden, ob der Versicherungsträger aus eigenem Recht den Widerspruch zwischen wirklichem Sachverhalt und rechtlichem Schein beseitigen kann. Vielmehr ist zu fragen, ob die Rechtsordnung überhaupt solche Möglichkeiten bietet. Der sachgemäße Weg zur Beseitigung der Anspruchsgrundlage in Fällen der vorliegenden Art - nämlich des Ehelichkeitsstatus scheinehelicher Kinder - ist bereits im Gesetz vorgezeichnet. Dem Staatsanwalt sind als Hüter des öffentlichen Interesses zwei Möglichkeiten an die Hand gegeben. Er kann das Todeserklärungsverfahren in Gang setzen (§ 16 Abs. 2 Buchst. a VerschG). Diese Möglichkeit liegt umso näher, wenn die Hinterbliebenen selbst aus dem Tode des Versicherten Rechte herleiten wollen. Gleichgültig, ob die Todeszeitpunktfeststellung der gerichtlichen Todeserklärung schematisch - etwa mit Zeitpunkt: 31.12.1945 (Art. 2 § 2 Abs. 3 Satz 1 VerschÄndG) - erfolgt oder ob ein Zeitpunkt festgestellt wird, der der wahrscheinlichste ist, genügt die Todeserklärung regelmäßig in den besonders bedenklichen Fällen - das scheineheliche Kind des kriegsverschollenen Versicherten ist Ende 1946 oder später geboren -, um den Rechtsschein der Ehelichkeit bei den Kindern, die später als 302 Tage nach dem in der Todeserklärung festgestellten Todeszeitpunkt geboren sind, auszuräumen. Ohne daß es einer Anfechtung bedarf, kann die Unehelichkeit dieser Kinder nunmehr von jedermann geltend gemacht werden (§ 1593 BGB).

Der Staatsanwalt kann aber auch die Ehelichkeit scheinehelicher Kinder anfechten, "wenn er dies im öffentlichen Interesse oder im Interesse des Kindes oder seiner Nachkommenschaft für geboten erachtet" (§ 1595 a BGB). Diese Vorschrift ist durch das FamRÄndG eingeführt worden. Die Rechtsänderung sollte "dem Gedanken der Wahrhaftigkeit in Familienstandsfragen zum Durchbruch verhelfen" (OGHBrZ. in NJW 1950 S. 382). Dieser Grundsatz ist unabhängig von nationalsozialistischen Lehren und Zielen, wie der OGHBrZ. (a. a. O. und OGHZ. 2 S. 35 (36 ff.)) überzeugend mit überwiegender Billigung des Schrifttums (Nachweise in den zitierten Entscheidungen) zur Begründung seiner Auffassung, daß § 1595 a BGB das nationalsozialistische Regime überlebt habe, festgestellt hat. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es nicht unbedenklich, daß die Staatsanwälte offenkundige Verstöße gegen das Wahrhaftigkeitsprinzip nicht aufgreifen, wenn mit der Aufrechterhaltung des Rechtsscheins der Ehelichkeit erkennbar Mißbrauch getrieben wird. Auch müßte berücksichtigt werden, daß die Begründung der Anfechtungskompetenz der Staatsanwälte nach § 1595 a BGB mit dem Verlust entsprechender Einredemöglichkeiten der Dritten gekoppelt ist, die nach früherem Recht sich auf die Unehelichkeit eines Kindes berufen konnten, wenn der Ehemann der Mutter das Anfechtungsrecht noch nicht verloren hatte. Soweit öffentliche Interessen - und es bedarf wohl keiner näheren Darlegung, daß die zweckgerechte Verwendung der Mittel der Versichertengemeinschaft im öffentlichen Interesse liegt - früher soweit von den Versicherungsträgern wahrgenommen werden konnten, sind sie seit dem FamRÄndG dem Staatsanwalt mitanvertraut worden.

Hat der Staatsanwalt aber als Hüter des öffentlichen Interesses entschieden, daß von keiner dieser Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden soll, so ist es auch dem Versicherungsträger verwehrt, seine Auffassung über die Notwendigkeit, im öffentlichen Interesse den Ehelichkeitsstatus des scheinehelichen Kindes zu beseitigen, durchzusetzen. Er muß hinnehmen, daß das scheineheliche Kind wie für die gesamte Rechtsordnung auch für das Sozialversicherungsrecht als ehelich anzusehen ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 707847

BSGE, 147

NJW 1960, 2214

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